OGH 10ObS7/03g

OGH10ObS7/03g29.4.2003

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Johannes Pflug (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Herbert Stegmüller (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Ljiljana N*****, vertreten durch Dr. Edeltraud Fichtenbauer, Rechtsanwältin in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 10. Oktober 2002, GZ 8 Rs 179/02f-31, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts Korneuburg als Arbeits- und Sozialgericht vom 22. Jänner 2002, GZ 7 Cgs 62/00x-26, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die am 13. 4. 1952 geborene Klägerin hat keinen Beruf erlernt. Sie hat insgesamt 223 Leistungsmonate erworben. Innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag (1. 6. 1999) liegen 96 Beitragsmonate, in denen die Klägerin als Bedienerin gearbeitet hat. Eine solche Tätigkeit ist der Klägerin nicht mehr möglich, weil dabei fortlaufend zumindest mittelschwere Hebe- und Trageleistungen mit den Händen vorkommen. Weiters sind bei der Klägerin Arbeiten wie Fensterputzen und Abstauben von Möbeln an exponierten und absturzgefährdeten Stellen ausgeschlossen; solche Tätigkeiten gehören aber zum Kernbereich der Tätigkeit einer Bedienerin.

Mit ihrem Leistungskalkül könnte die Klägerin in qualifizierten Berufen wie beispielsweise Parkraumüberwacherin, Wächterin, Verpackerin oder Kassierin in einer Selbstbedienungstankstelle arbeiten, müsste aber darauf angelernt werden. Dabei würde sie zwei- bis dreimal so lange brauchen wie ein vergleichsweise Gesunder. Aufgrund der verlängerten Anlernzeiten kann die Klägerin bei den derzeitigen Gegebenheiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und den zahlreich vorhandenen arbeitssuchenden Personen nur mit besonderem Entgegenkommen ihres Dienstgebers einen Arbeitsplatz finden. Außerdem hätte die Klägerin zwei bis drei Wochen im Jahr psychotische Exazerbationen und wäre in dieser Zeit nicht arbeitsfähig.

Mit Bescheid vom 21. 1. 2000 hat die Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter den Antrag der Klägerin vom 28. 5. 1999 auf Gewährung der Invaliditätspension abgelehnt.

Das Erstgericht gab der dagegen erhobene Klage auch im zweiten Rechtsgang statt und sprach der Klägerin ab dem 1. 6. 1999 eine Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß zu; weiters trug es der beklagten Partei die Erbringung einer vorläufigen Zahlung von 6.000 S (= 436,04 EUR) monatlich auf. Die Voraussetzungen für die Gewährung der Invaliditätspension nach § 255 Abs 3 ASVG lägen vor, da sich ein Versicherten nicht auf besonderes Entgegenkommen seines Dienstgebers verweisen lassen müsse.

Das Berufungsgericht gab der allein aus dem Berufungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung erhobenen Berufung der beklagten Partei in nichtöffentlicher Sitzung Folge und änderte das Ersturteil im Sinne einer Klagsabweisung ab. Wohl benötige die Klägerin am Beginn des Dienstverhältnisses eine längere Eingewöhnungszeit als ein gesunder Dienstnehmer. Aufgrund der Einmaligkeit der Einschulungsphase und aufgrund des Umstandes, dass es sich hier um eine zeitlich überschaubare Phase, nämlich das Zwei- bis Dreifache der Eingewöhnungszeit eines gesunden Dienstnehmers handle, werde dies vom Arbeitgeber mit Sicherheit toleriert. Es gebe zahlreiche kalkülsentsprechende Hilfstätigkeiten, die nach einer kurzen oder lediglich arbeitsplatzbezogenen Einschulungszeit von wenigen Stunden oder Tagen ausgeübt werden könnte. Dabei falle die Notwendigkeit einer verlängerten Einschulung oder Gewöhnung an den Arbeitsplatz nicht ins Gewicht, da jeder Dienstgeberin der ersten Beschäftigungszeit eines neu aufgenommenen Dienstnehmers mit Minderleistungen rechne.

Auch könne die Klägerin entgegen der Ansicht des Erstgerichts ohne physische Kalkülsüberschreitung in dem von ihr bisher ausgeübten Beruf als Bedienerin oder Raumpflegerin beschäftigt werden. Es sei notorisch, dass hierbei nicht "fortlaufend", sondern höchstens fallweise mittelschwere Hebe- und Trageleistungen anfielen, die bei der Klägerin nach dem ärztlichen Sachverständigengutachten nicht ausgeschlossen seien. Ebenso gebe es ausreichend Arbeitsplätze für Raumpflegerinnen, bei denen exponierte Stellen nicht anzunehmen seien, da die Grundreinigung und die Säuberung von Fenstern von Reinigungsdiensten übernommen würden (vgl etwa 10 ObS 295/97y). Werde die Klägerin aber als Raumpflegerin verwendet, müsse sie nicht einmal eine Einschulung absolvieren, sondern sich nur auf den neuen Arbeitsplatz einstellen und mit ihm vertraut machen.

Dagegen richtet sich die Revision der klagenden Partei aus den Revisionsgründen der unrichtigen rechtlichen Beurteilung und der Mangelhaftigkeit des Verfahrens mit dem Antrag auf Abänderung im klagsstattgebenden Sinn. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Vorweg ist festzuhalten, dass die Bezeichnung der beklagten Partei von Amts wegen von "Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter" auf "Pensionsversicherungsanstalt" zu berichtigen war, weil mit 1. 1. 2003 alle Rechte und Verbindlichkeiten der Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter auf die neu errichtete Pensionsversicherungsanstalt als Gesamtrechtsnachfolger übergingen (§ 538a ASVG idF 59. ASVG-Nov BGBl I 2002/1).

Der Oberste Gerichtshof hat in seinem Aufhebungsbeschluss im ersten Rechtsgang (10 ObS 201/01h) ausgeführt, dass ein Versicherter weder auf eine Berufstätigkeit verwiesen werden kann, die er nur unter der Voraussetzung eines besonderen Entgegenkommens seines Arbeitgebers verrichten kann, noch auf eine Berufstätigkeit, deren Ausübung ein unübliches Entgegenkommen von Arbeitskollegen erfordern würde. Ob dies der Fall ist ist eine Frage der rechtlichen Beurteilung und nicht der Tatsachenfeststellungen. Da es aber an entsprechendem Tatsachensubstrat fehlte, um das Erfordernis eines besonderen Entgegenkommens beurteilen zu können, wurde dem Erstgericht aufgetragen, Feststellungen zu treffen, die eine Klärung der Frage ermöglichen, ob die Eingewöhnungsphase bei der Klägerin wesentlich länger dauert als bei einem nicht behinderten Arbeitnehmer und wie lange diese dauert. Wäre dies der Fall würde dies das Erfordernis eines besonderen Entgegenkommens des Arbeitgebers indizieren.

Nunmehr ist festgestellt, dass die Umstellungsphase auf eine neue Situation in der Anfangsphase im Vergleich zu einer gesunden Person eine zwei- bis dreimal so lange Eingewöhnungsphase erfordert. Zutreffend weist das Berufungsgericht aber darauf hin, dass zahlreiche kalkülsentsprechende Hilfstätigkeiten nach einer Einschulungszeit von wenigen Stunden oder Tagen ausgeübt werden können, sodass selbst eine Verlängerung auf die doppelte oder dreifache Zeit bei einem neuen Dienstgeber nicht dermaßen ins Gewicht fällt, dass ein "besonderes" Entgegenkommen des Dienstgebers erforderlich wäre. Aus der erstgerichtlichen Feststellung, dass die Klägerin "bei den derzeitigen Gegebenheiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und den zahlreich vorhandenen arbeitssuchenden Personen nur mit besonderem Entgegenkommen ihres Dienstgebers einen Arbeitsplatz finden" würde, ist in diesem Zusammenhang für die Klägerin nichts zu gewinnen, da die auf dem Arbeitsmarkt gestellten Anforderungen nicht unter dem Blickwinkel der jeweiligen konjunkturellen Situation beurteilt werden dürfen (vgl RIS-Justiz RS0084720 [T2]).

Wegen der psychotischen Exazerbationen zu erwartende Krankenstände von zwei bis drei Wochen jährlich schließen die Klägerin nicht vom allgemeinen Arbeitsmarkt aus. Bei der Frage, ob durch eine bestimmte Dauer von zu erwartenden Krankenständen ein Ausschluss vom Arbeitsmarkt anzunehmen sei, wird ausschließlich auf die leidensbedingt zu erwartenden Krankenstände abgestellt, hier also auf die durch die psychotischen Exazerbationen bedingten. Die Tatsache, dass daneben noch - wie bei jedem Arbeitnehmer - durch andere Gründe bedingte Krankenstände auftreten können und sich dadurch die krankheitsbedingte Abwesenheit vom Arbeitsplatz verlängert, ist bei diesem Ergebnis bereits berücksichtigt (10 ObS 262/99y mwN; 10 ObS 195/02b). Entscheidend sind also nur die leidensbedingten Krankenstände, nicht die durch andere Ursachen hervorgerufenen. Diese erreichen aber nicht ein Ausmaß von sieben Wochen oder darüber.

Ob die Klägerin ohne physische Kalkülsüberschreitung in dem von ihr bisher ausgeübten Beruf als Bedienerin (oder Raumpflegerin) beschäftigt werden kann, wie das Berufungsgericht meint, kann wegen des Vorhandenseins von Verweisungsberufen, die keine kalkülsüberschreitenden Anforderungen stellen und auch kein besonderes Entgegenkommen des Dienstgebers erfordern, dahingestellt bleiben.

Da in der angefochtenen Entscheidung zu Recht die Voraussetzungen für die Erlangung einer Invaliditätspension nach § 255 Abs 3 ASVG verneint wurden, ist der Revision ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte