OGH 10ObS201/01h

OGH10ObS201/01h30.7.2001

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Steinbauer und Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Fritz Miklau (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Heinz Abel (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Ljiljana N*****, vertreten durch Dr. Edeltraud Fichtenbauer, Rechtsanwältin in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, Roßauer Lände 3, 1092 Wien, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 26. Februar 2001, GZ 8 Rs 59/01g-15, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts Korneuburg als Arbeits- und Sozialgericht vom 15. November 2000, GZ 7 Cgs 62/00x-11, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Die Klägerin ist am 13. 4. 1952 geboren und war als Bedienerin beschäftigt. Sie ist in der Lage, körperlich leichte und mittelschwere Arbeiten sowie geistige Leistungen von einfach-mittelschwerem Schwierigkeitsgrad zu erbringen, wobei jedoch die Umstellung auf eine neue Situation in der Anfangsphase ein Entgegenkommen des Dienstgebers erfordert. Es ist nur durchschnittlicher Zeitdruck möglich, sodass Akkord- und Fließbandtätigkeiten ausscheiden. Auch Arbeiten im Produktionsbereich einer Fabrik und Arbeiten an exponierten Stellen sind nicht möglich. Sie kann auch nicht fortlaufend mittelschwer mit den Händen arbeiten. Die üblichen Arbeitspausen sind ausreichend, allerdings hat die Klägerin Zeiten einer Exacerbation der psychischen Symptomatik, was dann zusätzliche Pausen erfordert.

Das grundsätzliche Beschwerdebild hat bei der Klägerin bereits im Jahre 1980 bei Eintritt in ihr Erwerbsleben bestanden. Für die Symptomatik ist jedoch typisch, dass sie sich im Laufe der Zeit verschlechtert. Noch nicht objektiv dokumentiert, aber naheliegend ist, dass es durch eine Schilddrüsenproblematik, die zu einer Schilddrüsenunterfunktion führt, seit dem Jahre 1991 zu einer neurologisch-psychiatrischen Beeinflussung im Sinne einer Verschlechterung gekommen ist.

Es kann nicht verlässlich beurteilt werden, wie lange die Klägerin braucht, um auf einem Arbeitsplatz gemäß ihrem Kalkül eingesetzt werden zu können. Es kommt hiebei im Wesentlichen auf die Arbeitsumwelt an und wie sehr man ihr entgegenkommt. In ungewohnter Umgebung entfaltet die Klägerin eine inadäquate Reaktion, vorwiegend ein Zurückziehen.

"Mit diesen Einschränkungen ist die Klägerin nur mit entsprechendem besonderen Entgegenkommen ihres Dienstgebers zu verweisen."

Mit Bescheid vom 21. Jänner 2000 hat die beklagte Partei den am 28. Mai 1999 gestellten Antrag der Klägerin auf Gewährung der Invaliditätspension abgelehnt.

Das Erstgericht gab der dagegen erhobenen Klage statt und sprach der Klägerin die Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab dem Stichtag 1. Juni 1999 zu. Der beklagten Partei wurde eine vorläufige Zahlung von S 6.000,-- monatlich auferlegt. Den von ihm festgestellten und eingangs dargestellten Sachverhalt beurteilte das Erstgericht rechtlich dahin, dass sich ein Versicherter nicht auf ein besonderes Entgegenkommen des Dienstgebers verweisen lassen müsse. Da die Klägerin den Zustand nicht in das Erwerbsleben eingebracht habe, sei sie als invalid iSd § 255 Abs 3 ASVG anzusehen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei Folge und änderte das Ersturteil im klagsabweisenden Sinn ab. Unter Bedachtnahme darauf, dass zwar nicht verlässlich beurteilt werden könne, wie lange die Eingewöhnungsphase bei der Klägerin dauere, weil es dabei im Wesentlichen auf die Arbeitsumwelt ankomme und auf das der Klägerin entgegengebrachte Entgegenkommen, erscheine der der Klägerin obliegende Beweis eines besonderen Entgegenkommens des Dienstgebers als nicht erbracht. Vielmehr sei von einem gewissen Entgegenkommen des Dienstgebers auszugehen, wie es in vielen Arbeitsverhältnissen am Beginn der Tätigkeit notwendig sei, welches aber keinen Ausschluss vom allgemeinen Arbeitsmarkt bewirke.

Gegen dieses Urteil erhebt die Klägerin Revision aus den Revisionsgründen der unrichtigen rechtlichen Beurteilung und der Mangelhaftigkeit des Verfahrens mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, dass das Ersturteil wieder hergestellt wird. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Sinne des Eventualantrags berechtigt.

Die Klägerin rügt in erster Linie, dass sich das Berufungsgericht von den unbekämpften Feststellungen des Erstgerichts entfernt habe. Insbesondere sei keine vorübergehende Beeinträchtigung festgestellt, die (nur) über einen absehbaren Zeitraum ein besonderes Entgegenkommen des Arbeitgebers erfordere. Sei aber nicht absehbar, ob die Klägerin in einem neuen Arbeitsverhältnis im Zusammenhang mit der ungewohnten Umgebung je adäquate Leistungen erbringen werde, finde sich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt kein Arbeitgeber, der die Klägerin einstelle. Dabei falle besonders ins Gewicht, dass die Reaktion der Klägerin in ungewohnter Umgebung vorwiegend im Zurückziehen liege, sodass ein Arbeitgeber damit rechnen müsse, dass die Klägerin überhaupt keine Arbeitsleistung erbringe, weil sie sich gerade "zurückziehe". Außerdem habe das Erstgericht nicht berücksichtigt, dass die Klägerin in Zeiten einer Exacerbation der psychischen Symptomatik zusätzliche Pausen benötige, was von einem Arbeitgeber auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht toleriert werde. Ein tolerables Ausmaß eines "besonderen Entgegenkommens" liege nur dann vor, wenn dies nicht zu einem wirtschaftlichen Nachteil des Arbeitgebers führe; das Eintreten wirtschaftlicher Schäden eines die Klägerin einstellenden Arbeitgebers sei aber im vorliegenden Fall offensichtlich. Gegebenenfalls hätte ein berufskundliches Gutachten zur Klärung eingeholt werden müssen, ob es auf dem Arbeitsmarkt in Österreich Arbeitsplätze gebe, die mit dem eingeschränkten Leistungskalkül der Klägerin vereinbare Anforderungen stellten.

Diesen Ausführungen ist im Ergebnis zuzustimmen.

Ein Versicherter darf weder auf eine Berufstätigkeit verwiesen werden, die er nur unter der Voraussetzung eines besonderen Entgegenkommens seines Arbeitgebers verrichten kann (vgl SSV-NF 2/97, 3/107, 4/10 ua), noch auf eine Berufstätigkeit, deren Ausübung ein unübliches Entgegenkommen von Arbeitskollegen erfordern würde (SSV-NF 5/40). Da (ungeachtet des Fehlens einer subjektiven Beweispflicht) die objektive Beweislast dafür, dass die Voraussetzungen für den Anspruch auf eine Versicherungsleistung vorliegen, den Versicherten trifft, müsste sich nach Aufnahme sämtlicher notwendig erscheinender Beweise herausstellen, dass die Klägerin in einem Verweisungsberuf auf ein solches besonderes Entgegenkommen des Dienstgebers angewiesen wäre. Diese Frage bezieht sich auf die Ebene der rechtlichen Beurteilung und nicht die der Tatsachenfeststellungen.

In Bezug auf die Eingewöhnungsphase konnte auf der Grundlage der eingeholten Gutachten nicht verlässlich beurteilt werden, wie lange mit hoher Wahrscheinlichkeit die Phase dauert, in der die Klägerin in neuer (ungewohnter) Umgebung eine inadäquate Reaktion, vorwiegend ein Zurückziehen, entfaltet. Insoweit wäre die Rechtsansicht des Berufungsgerichts zu bestätigen, dass das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen für das Erfordernis eines besonderen Entgegenkommens des Dienstgebers offen geblieben ist. Nicht angestellt wurde allerdings ein Vergleich mit der Eingewöhnungsphase, die ein nicht behinderter Arbeitnehmer benötigt, um abzuklären, ob die Eingewöhnungsphase bei der Klägerin wesentlich länger dauert als bei diesem. Wäre dies der Fall, würde dies das Erfordernis eines besonderen Entgegenkommens des Arbeitgebers indizieren.

Nicht berücksichtigt wurden von den Vorinstanzen auch folgende weitere Umstände:

Nach den Feststellungen sind bei der Klägerin die üblichen Arbeitspausen ausreichend; allerdings hat sie Zeiten einer Exacerbation der psychischen Symptomatik, was dann zusätzliche Pausen erfordert. In welcher Häufigkeit solche Exacerbationen der psychischen Symptomatik auftreten und in welchem Ausmaß dann zusätzliche Pausen erforderlich sind steht jedoch nicht fest, sodass derzeit nicht beurteilt werden kann, ob im Zusammenhang mit der Einhaltung zusätzlicher Arbeitspausen ein besonderes Entgegenkommen des Dienstgebers erforderlich ist. Für die Annahme eines "besonderen Entgegenkommens" ist nicht maßgeblich, ob der Dienstgeber einen wirtschaftlichen Nachteil dadurch erleidet, dass ein Dienstnehmer nicht nur die gesetzlichen Mindestpausen benötigt; entscheidend ist vielmehr, ob und inwieweit ein bestimmtes Ausmaß von (zusätzlichen) Pausen im Allgemeinen in der Wirtschaft toleriert wird (vgl etwa SSV-NF 6/66).

Weiters ist den Feststellungen des Erstgerichts zu entnehmen, dass das grundsätzliche Beschwerdebild bereits im Jahre 1980 bei Eintritt in das Erwerbsleben bestanden hat und dass sich die Symptomatik typischerweise im Laufe der Zeit verschlechtert hat. Der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit hat zur Voraussetzung, dass eine zuvor bestandene Arbeitsfähigkeit durch nachfolgende Entwicklungen beeinträchtigt wurde (SZ 61/187 = SSV-NF 2/87). Ein bereits vor Beginn der Erwerbstätigkeit eingetretener und damit in das Versicherungsverhältnis mitgebrachter, im wesentlichen unveränderter körperlicher oder geistiger Zustand kann daher bei Leistungen aus den Versicherungsfällen geminderter Arbeitsfähigkeit nicht zum Eintritt des Versicherungsfalles führen (SSV-NF 1/67; SZ 63/61 = SSV-NF 4/60; SZ 64/12 = SSV-NF 5/14 uva). Zur Prüfung der Frage, ob eine zuvor bestandene Arbeitsfähigkeit durch nachfolgende Entwicklungen beeinträchtigt wurde, ist es erforderlich, die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit des Versicherten bei Aufnahme der Berufstätigkeit und Eintritt in das Versicherungsverhältnis jenem bei Antragstellung gegenüber zu stellen (zuletzt 10 ObS 25/01a). In Bezug auf die Klägerin ist aber eine Gegenüberstellung der Leistungskalküls bei Eintritt in das Versicherungsverhältnis einerseits und zum Zeitpunkt der Antragstellung andererseits unterblieben, sodass nicht beurteilt werden kann, ob eine bei Eintritt in das Erwerbsleben bestandene Arbeitsfähigkeit durch nachfolgende Entwicklungen wesentlich beeinträchtigt wurde.

Schließlich ist im Hinblick auf die doch massiven Einschränkungen des Leistungskalküls der Klägerin auch nicht klar, welche Verweisungsberufe für sie in Betracht kommen, weil es an Feststellungen fehlt, welche Anforderungen in Betracht kommende Verweisungsberufe stellen und ob diese Anforderungen mit dem der Klägerin verbliebenen Leistungskalkül vereinbar sind.

Zur Abklärung der Fragen,

a) ob die Eingewöhnungsphase bei der Klägerin wesentlich länger dauert als bei einem nicht behinderten Arbeitnehmer, bzw, wie lange diese dauert,

b) in welcher Häufigkeit die Exacerbationen der psychischen Symptomatik auftreten und in welchem Ausmaß dann zusätzliche Pausen erforderlich sind,

c) ob sich aus der Gegenüberstellung der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit der Klägerin bei Aufnahme der Berufstätigkeit mit jener bei Antragstellung ergibt, dass eine bei Eintritt in das Erwerbsleben bestandene Arbeitsfähigkeit durch nachfolgende Entwicklungen wesentlich beeinträchtigt wurde, und

d) welche Anforderungen in Betracht kommende Verweisungsberufe stellen und ob diese Anforderungen mit dem der Klägerin verbliebenen Leistungskalkül vereinbar sind,

erweist sich das Verfahren als ergänzungsbedürftig.

Da es offenbar einer Verhandlung in erster Instanz bedarf, um die Sache spruchreif zu machen, sind die Urteile der Vorinstanzen zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung aufzuheben.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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