OGH 10ObS295/97y

OGH10ObS295/97y4.11.1997

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Bauer und Dr.Ehmayr als weitere Richter sowie durch die fachkundigen Laienrichter SR Dr.Kurt Scherzer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Wilhelm Hackl (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Christine W*****, Reinigungskraft, ***** vertreten durch Dr.Gerhard Hiebler, Rechtsanwalt in Leoben, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, vertreten durch Dr.Andreas Grundei, Rechtsanwalt in Wien, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 4.Juni 1997, GZ 7 Rs 75/97x-25, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Leoben als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 15. November 1996, GZ 21 Cgs 254/95s-20, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben. Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, daß das - das Klagebegehren abweisende - Urteil des Gerichtes erster Instanz wiederhergestellt wird.

Die klagende Partei hat die Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die am 21.7.1945 geborene, daher am Stichtag 1.5.1995 49 Jahre alte Klägerin war von 1959 bis 1961 als landwirtschaftlicher Lehrling, von 1961 bis 1964 als kaufmännischer Lehrling und anschließend bis 1965 als kaufmännische Angestellte tätig. Von 1970 bis 1977 arbeitete sie als Aushilfskraft tageweise in einer Molkerei. Bis 1980 war sie als Forstarbeiterin, dann bis 1989 und im Jahr 1991 als Aushilfsbriefträgerin tätig. Seit 1992 ist sie als Reinigungskraft (Putzfrau) im Landeskrankenhaus Bad Aussee beschäftigt; das Dienstverhältnis ist nach wie vor aufrecht.

Die Klägerin kann aufgrund ihres körperlichen Zustandes, vor allem Cervikalsyndrom und Wirbelgleiten, noch leichte und mittelschwere Tätigkeiten im Sitzen, Gehen und Stehen verrichten. Ein Haltungswechsel sollte eingeräumt werden. Tätigkeiten im Gehen ist der Vorzug zu geben, doch keineswegs zwingend. Sie kann auch Tätigkeiten vorwiegend im Stehen oder Sitzen verrichten, doch ist dabei erforderlich, zumindest zwei Minuten pro Stunde Ausgleichsbewegungen zu machen. Als solche kommen ein Wippen oder Kreisen der Sprunggelenke in Betracht. Ihr sind nur Tätigkeiten möglich, bei denen einäugiges Sehen ausreicht. Arbeiten auf Stiegen, Treppen, Leitern und Gerüsten sowie grundsätzlich an exponierten Lagen scheiden aus. Eine Steighilfe kann jedoch verwendet werden. Tätigkeiten, die die feinmotorische Geschicklichkeit der Hände und Arme voraussetzen, sind ihr ebenso zumutbar wie der Über-Kopf-Griff. Bück- und Hebearbeiten sind auf die Hälfte eines Arbeitstages zu verkürzen und auf diesen gleichmäßig zu verteilen. Arbeiten in kniender oder hockender Stellung, Akkord- und Fließbandarbeiten scheiden aus. Ein forciertes Arbeitstempo ist ihr ganztägig möglich; Schichtdienst inklusive Nachtdienst ist ihr "zumutbar". Die Klägerin ist verweisbar, jedoch nicht mehr in der Lage, sich neue Kenntnisse zu Schulungszwecken anzueignen; es besteht aber noch Anlernbarkeit. Das Benützen eines Verkehrsmittels zum Erreichen der Arbeitsstätte ist ihr "zumutbar", nicht jedoch Wochenpendeln oder Übersiedeln. Tagespendeln ist ihr nur dann "zumutbar", wenn sie regelmäßig nicht mehr als 12 Stunden außer Haus verbringt.

Reinigungskräfte (Putzfrauen) sind in der Regel ungelernte Arbeitskräfte, die kurzfristig im Betrieb eingewiesen werden; eine spezielle Ausbildung besteht nicht. Solche Arbeitnehmerinnen werden im allgemeinen in Betrieben aller Wirtschaftszweige, Krankenhäusern und Privathaushalten zur Reinigung für Büro-, Geschäfts-, Ordinations- und Warteräumen beschäftigt. Die Tätigkeiten werden in geschlossenen Räumen, wechselweise im Gehen und Stehen verrichtet, wobei je nach Art und Größe der Räumlichkeiten und Verwendungsmöglichkeiten von arbeits-, zeit- bzw kräftesparenden Geräten eine leichte und maximal bis zur halben Tagesarbeitszeit mittelschwere körperliche Belastung gegeben ist. Arbeiten in gebückter Körperhaltung sind zu bewältigen, sie überschreiten jedoch beim Einsatz entsprechender Geräte ein Drittel der Tagesarbeitszeit nicht. Zum Teil kommen auch Tätigkeiten an exponierten Stellen wie auf Leitern vor. Es existieren jedoch weitaus mehr als 100 Arbeitsplätze, wo lediglich eine Steighilfe verbunden mit Über-Kopf-Arbeiten erforderlich ist. Auch der Kontakt mit Nässe ist gegeben. Eine überdurchschnittliche Fingerfertigkeit ist nicht erforderlich. Tätigkeiten unter besonderem Zeitdruck vergleichbar der Intensität von Akkord- oder Fließbandarbeiten sind nicht zu verrichten. Die Klägerin ist aufgrund ihres Gesundheitszustandes nicht mehr in der Lage, den Anforderungen an eine Putzfrau, die auch an exponierten Stellen tätig sein muß, gerecht zu werden. Sie kann jedoch weiterhin auf Arbeitsplätzen arbeiten, auf denen Tätigkeiten an exponierten Stellen nicht vorkommen, wie zB in Amtsgebäuden oder in modernen Büros. Daneben kommen für sie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch Tätigkeiten einer Aufseherin, Botengängerin, Geschirrabräumerin, Abwäscherin, Küchenhilfe, Portierin, Angestellten im Postein- und -ausgang, Ladnerin oder Zeitungsausträgerin in Betracht. Die Klägerin hat einen Führerschein der Klasse B und besitzt einen eigenen Personenkraftwagen. Wenn sie zum Erreichen der Arbeitsstätte diesen PKW benützt, kommen alle genannten Verweisungstätigkeiten in Betracht; für diese stehen im Tagespendelbereich jedenfalls 100 Arbeitsplätze zur Verfügung. Wenn die Klägerin auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen ist, kommen für sie nur die Tätigkeiten einer Botengängerin, Angestellten im Postein- und -ausgang oder einer Zeitungsausträgerin in Betracht. Für diese Berufe sind im Tagespendelbereich nur 5 bis 10 Arbeitsplätze vorhanden.

Mit Bescheid vom 11.8.1995 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter den Antrag der Klägerin auf Zuerkennung der Invaldititätspension ab, weil sie nach dem Ergebnis der ärztlichen Begutachtung noch imstande sei, eine auf dem Arbeitsmarkt bewertete Tätigkeit im Sinn des § 255 Abs 3 ASVG auszuüben.

Das Erstgericht wies das dagegen erhobene Klagebegehren auf Gewährung der Invaliditätspension in gesetzlicher Höhe ab 1.5.1995 ab. Es beurteilte den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt dahin, daß das Leistungskalkül der Klägerin ausreiche, um sie auf eine Vielzahl von Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verweisen, selbst wenn sie nicht mehr in der Lage wäre, die von ihr in den letzten 15 Jahren überwiegend ausgeübte Tätigkeit weiterhin zu verrichten. Die Klägerin könne zwar nur auf Arbeitsstellen im Tagespendelbereich verwiesen werden, doch sei ihr das Erreichen des Arbeitsplatzes mit einem Privatfahrzeug zumutbar. Dadurch könne die Klägerin jedenfalls 100 Arbeitsplätze erreichen. Ob sie in den Verweisungsberufen auch tatsächlich einen Dienstposten erlangen werde, sei für die Beurteilung der Invalidität nicht von Bedeutung.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin Folge und änderte das Urteil dahin ab, daß es den Anspruch der Klägerin auf Leistung der Invaliditätspension ab 1.5.1995 dem Grunde nach zu Recht erkannte und der Beklagten auftrug, der Klägerin eine vorläufige Zahlung von monatlich 2.500 S zu leisten. Der Klägerin stehe innerhalb ihres Pendelbereiches von 12 Stunden kein adäquater Arbeitsmarkt zur Verfügung, den sie mit Massenverkehrsmitteln erreichen könne. Entscheidend sei, ob ihr zur Erweiterung des Umkreises und zur Erreichung einer entsprechenden Zahl von adäquaten Arbeitsplätzen die Verwendung ihres privaten Fahrzeuges zumutbar sei. Ein Blick auf eine Straßenkarte ergebe, daß eine entsprechende Zahl von adäquaten Arbeitsplätzen aller Voraussicht nach erreichbar wäre, wenn die Klägerin mit ihrem PKW in den Raum Liezen oder Bad Ischl fahren würde. Nach Liezen müßte sie rund 36 km und nach Bad Ischl rund 34 km zurücklegen. Ausgehend von einem Kilometergeld von S 4,60 und 26 Arbeitstagen im Monat würde sich ein Fahrtkostenaufwand von rund 8.000 S ergeben, wodurch der Großteil des erzielbaren Monatseinkommens aufgezehrt würde. Eine derartige Belastung würde auch von der Mehrheit der Versicherten, die ein Massenverkehrsmittel benützen können, nicht abverlangt werden. Aus diesen Gründen könne der Klägerin die Verwendung ihres privaten Fahrzeuges zur Erschließung einer entsprechenden Zahl von adäquaten Arbeitsplätzen nicht zugemutet werden.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne einer Abweisung des Klagebegehrens. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Klägerin beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Die Revision ist berechtigt.

Die beklagte Partei weist darauf hin, daß die Klägerin seit 1992 als Reinigungskraft (Putzfrau) im Landeskrankenhaus Bad Aussee beschäftigt sei, in einem aufrechten Dienstverhältnis stehe und daher einen konkreten Arbeitsplatz innehabe. Sie habe in ihrem Berufsleben seit jeher auspendeln müssen, insoweit sei fraglich, ob ihre Leistungsfähigkeit hinsichtlich des Tagespendelns überhaupt herabgesunken sei. Ihr Wohnort liege überdies direkt an der Bahnlinie Attnang/Puchheim-Steinach/Irdning, auf der stündlich Züge verkehrten. Letztlich sei ihr auch die Verwendung des privaten Personenkraftwagens zumutbar, berücksichtige man das große Pendlerpauschale oder landesgesetzliche Pendlerbeihilfen. Zuletzt sei die Verweisbarkeit der Klägerin auf Teilzeitbeschäftigungen nicht geprüft worden. Insgesamt liege Invalidität nach § 255 Abs 3 ASVG nicht vor.

Rechtliche Beurteilung

Diesen Ausführungen kommt nur im Ergebnis Berechtigung zu. War ein Versicherter nicht überwiegend in erlernten oder angelernten Berufen tätig, gilt er nach § 255 Abs 3 ASVG als invalid, wenn er infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes nicht mehr imstande ist, durch eine Tätigkeit, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet wird und die ihm unter billiger Berücksichtigung der von ihm ausgeübten Tätigkeiten zugemutet werden kann, wenigstens die Hälfte des Entgeltes zu erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt. Ergibt sich jedoch aufgrund des Leistungskalküls eines Versicherten, daß er noch imstande ist, die von ihm zuletzt ausgeübte Berufstätigkeit weiterhin auszuüben, ohne daß damit eine ins Gewicht fallende Gefahr der Beeinträchtigung seines Gesundheitszustandes verbunden ist, dann liegt Invalidität im Sinne des § 255 ASVG nicht vor und die Verweisbarkeit des Versicherten ist nicht weiter zu prüfen (vgl SZ 62/3 = SSV-NF 3/2 = JBl 1989, 462 ua).

Nach den Feststellungen ist die Klägerin aufgrund ihres Gesundheitszustandes, der ein Arbeiten an exponierten Stellen ausschließt, nicht mehr in der Lage, den Anforderungen an eine Reinigungskraft (Putzfrau) gerecht zu werden, die auch an exponierten Stellen tätig sein muß. Hingegen ist sie weiterhin in der Lage, auf Arbeitsplätzen zu arbeiten, an denen Tätigkeiten an exponierten Stellen nicht vorkommen, wie zB in Amtsgebäuden oder in modernen Büros. Das Erfordernis des Arbeitens an exponierten Stellen ist keineswegs berufstypisch mit der Tätigkeit einer Reinigungskraft (Putzfrau) verbunden, sondern besteht nur auf einem Teil der Arbeitsplätze. In diesem Sinne ist die weitere erstgerichtliche Feststellung zu verstehen, daß weit mehr als 100 Arbeitsplätze für Reinigungskräfte (Putzfrauen) existieren, an denen lediglich eine Steighilfe verbunden mit Über-Kopf-Arbeiten erforderlich ist. Daß die Klägerin auf ihrem konkreten Arbeitsplatz, den sie auch bei Schluß der Verhandlung erster Instanz noch inne hatte, an exponierten Stellen wie etwa auf Leitern arbeiten mußte, wurde weder behauptet noch festgestellt. Die Klägerin genießt keinen Berufsschutz nach § 255 Abs 1 und 2 ASVG, umso weniger einen "Tätigkeitsschutz" im Sinne des § 253 d Abs 1 ASVG. Nach dieser Gesetzesstelle hat Anspruch auf vorzeitige Alterspension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit der oder die Versicherte unter anderem dann, wenn er (sie) in mindestens der Hälfte der Beitragsmonate während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag eine gleiche oder gleichartige Tätigkeit ausgeübt hat und infolge seines (ihres) körperlichen oder geistigen Zustandes nicht mehr imstande ist, durch diese Tätigkeit wenigstens die Hälfte des Entgeltes zu erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt. Im Fall der Entscheidung 10 ObS 289/97s ging es um eine bereits 55 Jahre alte Raumpflegerin, auf deren konkreten Arbeitsplatz das Fensterputzen und das Reinigen der Decken und der Leuchten erfordert waren. Da für diese Klägerin nach ihrem medizinischen Leistungskalkül Arbeiten in exponierten Lagen ausschieden, war sie infolge ihres körperlichen Zustands nicht mehr imstande, durch "diese" Tätigkeit wenigstens die Lohnhälfte zu erzielen. Eine Verweisung auf Arbeitsplätze, auf denen Fensterputzen nicht gefordert wird, kam daher in diesem Fall nicht in Betracht, weil der Tätigkeitsschutz des § 253 d Abs 1 Z 4 ASVG ausschlaggebend war. Einen solchen Tätigkeitsschutz kann aber die noch nicht 55 Jahre alte Klägerin, wie oben dargestellt, nicht beanspruchen. Sie ist nach ihrem medizinischen Leistungskalkül weiterhin in der Lage ist, als Reinigungskraft (Putzfrau) auf solchen Arbeitsplätzen zu arbeiten, an denen Tätigkeiten in exponierten Lagen nicht vorkommen, daher scheidet für sie der Beruf der Reinigungskraft (Putzfrau) aufgrund ihres Leistungskalküls nicht aus, sie kann daher ihren zuletzt und überwiegend ausgeübten Beruf weiterhin ausüben, eben lediglich mit der Einschränkung, daß das Arbeiten in exponierten Lagen vermieden werden muß. Schon aus diesem Grund liegt ein Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit insbesondere nach § 255 Abs 3 ASVG nicht vor, weshalb sich weitere Erörterungen zur Frage des Tagespendelns oder aus welchen Gründen der Klägerin Wochenpendeln oder Übersiedeln nicht "zumutbar" sein sollen, erübrigen. Abschließend sei angemerkt, daß § 86 Abs 3 Z 2 dritter Satz ASVG idF des Strukturanpassungsgesetzes 1996, wonach für den Anfall einer Invaliditätspension die Aufgabe der Tätigkeit, auf Grund welcher der (die) Versicherte als invalid gilt, erforderlich ist, auf den vorliegenden Fall noch nicht anwendbar ist.

In Stattgebung der von der beklagten Partei erhobenen Revision war daher das Urteil erster Instanz wieder herzustellen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

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