OGH 10ObS70/16s

OGH10ObS70/16s21.2.2017

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Hofrat Dr. Schramm als Vorsitzenden, den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr und die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Werner Hallas (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Karl Schmid (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei T*****, Deutschland, vertreten durch Dr. Sebastian Mairhofer und Mag. Martha Gradl. Rechtsanwälte in Linz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, vertreten durch Dr. Josef Milchram, Dr. Anton Ehm, Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Berufsunfähigkeitspension, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 16. März 2016, GZ 12 Rs 16/16m‑18, womit das Urteil des Landesgerichts Linz als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 12. November 2015, GZ 6 Cgs 23/15y‑14, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:010OBS00070.16S.0221.000

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 418,78 EUR (darin 69,80 EUR Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Begründung

Der am 23. August 1970 geborene Kläger, ein deutscher Staatsbürger, wohnt in Deutschland, rund 50 Kilometer von der österreichischen Grenze entfernt. Er war von April 1999 bis Dezember 2010 als Ingenieur- Geschäftsführer in Deutschland tätig und von Jänner 2011 bis August 2013 als Geschäftsführer einer GmbH in Österreich. Ab 17. Juni 2013 bezog er wegen Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit Krankengeld von der Oberösterreichischen Gebietskrankenkasse und war dort aufgrund seines Dienstverhältnisses bis 26. August 2013 krankenversichert. Am 20. Mai 2014 trat er eine stationäre Rehabilitation in einer Klinik in Bayern an. Am 19. Juli 2014 endete wegen Erreichens der Höchstanspruchsdauer der Krankengeldbezug.

Von der Deutschen Rentenversicherung wurde dem Kläger ab 1. März 2014 eine bis 31. Oktober 2016 befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung gewährt.

Mit Bescheid vom 3. Dezember 2014 wies die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag des Klägers vom 25. März 2014 auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension mit der Begründung ab, dauerhafte Berufsunfähigkeit liege nicht vor. Gleichzeitig sprach die beklagte Partei aus, es liege vorübergehende Berufsunfähigkeit vor; als Maßnahme der medizinischen Rehabilitation sei der weitere Krankheitsverlauf abzuwarten; Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation seien nicht zweckmäßig. In der Begründung wies die beklagte Partei darauf hin, dass bei vorübergehender Berufsunfähigkeit grundsätzlich Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung bestehe; da der Kläger aber nicht der österreichischen Krankenversicherung unterliege, solle er sich hinsichtlich allfälliger Ansprüche an den zuständigen ausländischen Sozialversicherungsträger wenden.

Das Erstgericht sprach aus, dass der Kläger ab 1. April 2014 für die weitere Dauer seiner vorübergehenden Berufsunfähigkeit Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung im gesetzlichen Ausmaß habe, dies unter Anrechnung des bisher bezogenen Kranken- und Übergangsgeldes. Es widerspreche dem Grundsatz der Freizügigkeit, wenn ein Arbeitnehmer, der davon Gebrauch mache, Vergünstigungen der sozialen Sicherheit, insbesondere wenn er dafür Beiträge bezahlt habe, verliere. Das Rehabilitationsgeld sei eine Leistung bei Krankheit und dürfe nicht aufgrund der Tatsache gekürzt werden, dass der Berechtigte in einem anderen Mitgliedstaat als dem Sitzstaat des zur Zahlung verpflichteten Trägers wohne.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge und ließ die Revision zu.

Rechtliche Beurteilung

Die vom Kläger beantwortete Revision der beklagten Partei ist mangels einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.

1. Im Revisionsverfahren strittig ist nur noch die Frage der Exportfähigkeit des Rehabilitationsgeldes ins EU‑Ausland.

Der Oberste Gerichtshof hat zu dieser Frage in der am 20. Dezember 2016 zu AZ 10 ObS 133/15d (somit nach Einbringung der Revision) ergangenen Entscheidung ausführlich Stellung genommen.

Nach dem dieser Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt hatte die dortige Klägerin in Österreich Versicherungszeiten erworben, dann von der beklagten Partei eine befristete Invaliditätspension bezogen, an die der Rehabilitationsgeldbezug unmittelbar anschließen sollte. Der Wohnsitz der Klägerin lag – jedenfalls bei Antragstellung auf Weitergewährung – im EU‑Ausland (in der Bundesrepublik Deutschland).

Der Oberste Gerichtshof kam zusammengefasst zu folgenden Ergebnissen:

1.1. Im Kontext der Sozialrechtskoordinierung stellt das Rehabilitationsgeld eine Geldleistung bei Krankheit im Sinne des Art 3 Abs 1 lit a der VO (EG) 883/2004 dar. Diese Einordnung als Geldleistung bei Krankheit hat Auswirkungen auf die unionsrechtliche Leistungs-zuständigkeit nach der VO 883/2004 .

1.2. Grundsatz der Koordinierungsregelungen der VO 883/2004 ist nach ihrem Artikel 11 Abs 1, dass Personen, für die die Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegen.

1.2. Welche Rechtsvorschriften anwendbar sind, bestimmt sich zunächst nach den Sonderkollisionsnormen der Titel III und V der VO 883/2004 , dann nach den Bestimmungen in Art 12–16 und schließlich nach Art 11 Abs 3 der VO 883/2004 selbst.

2.1. Ist an sich der ausländische Wohnsitzmitgliedstaat für die Erbringung der Leistung bei Krankheit zuständig, ist allerdings der Sondercharakter des Rehabilitationsgeldes zu beachten, das nicht eindeutig den Leistungen bei Krankheit bzw den Leistungen bei Invalidität zugeordnet werden kann (vgl EuGH 30. 6. 2011, C‑388/09, da Silva Martins Rz 48 zum deutschen Pflegegeld). Diese Charakterisierung kann zu einer Leistungspflicht (auch Exportpflicht) des nach den Bestimmungen der VO 883/2004 nicht leistungszuständigen Mitgliedstaats führen.

2.2. Die Annahme einer alleinigen Zuständigkeit des ausländischen Wohnsitzmitgliedstaats und der damit einhergehende Leistungsverlust trotz bereits im Inland erworbener Versicherungszeiten kann nämlich in bestimmten Fällen die primärrechtlich verbürgte unionsrechtliche Freizügigkeit beschränken. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um die Inanspruchnahme der Arbeitnehmerfreizügigkeit gemäß Art 45 ff AEUV oder der allgemeinen Freizügigkeit von Unionsbürgern gemäß Art 18 ff AEUV handelt (EuGH 21. 7. 2011, C‑503/09, Stewart , Rz 77 ff).

2.3. Der EuGH stellt darauf ab, ob die Leistung mit Sondercharakter eine begünstigende Gegenleistung für die in einem bestimmten Mitgliedstaat (hier: Österreich) in ein separates Versicherungssystem eingezahlten Versicherungs-beiträge darstellt. Der Sondercharakter führt (nur) dann zur Leistungszuständigkeit dieses Mitgliedstaats, wenn die betroffene Person diese Vergünstigung deshalb verliert, weil sie von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, indem sie ihren Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt. Eine Beschränkung der Freizügigkeit wird insbesondere dann vorliegen, wenn der aktuelle Wohnsitzmitgliedstaat keine dem Rehabilitationsgeld entsprechende Leistung kennt.

3. In diesem Sinn ist im Einzelfall zu prüfen, ob ein primärrechtlich fundierter Exportanspruch gegeben ist.

3.1. Das Rehabilitationsgeld ist eine Vergünstigung, die eine Gegenleistung für die vom Versicherten in Österreich entrichteten Pensionsversicherungsbeiträge darstellt. Aufgrund des Sondercharakters des Rehabilitationsgeldes ist im Zuständigkeitswechsel und Leistungsverlust allein durch die Wohnsitzverlegung eine Beschränkung der primärrechtlichen Freizügigkeit zu sehen. Der Leistungsverlust wäre auf die Inanspruchnahme der Freizügigkeit zurückzuführen. Der Wohnsitzmitgliedstaat Deutschland kennt keine dem Rehabilitationsgeld entsprechende Geldleistung. Die Nahebeziehung zum österreichischen System der sozialen Sicherheit ist durch die erworbenen Versicherungszeiten sowie durch den Bezug einer befristeten Invaliditätspension dokumentiert.

3.2. Um die Vereinbarkeit mit dem Primärrecht herzustellen, ist der Umstand, dass der Versicherte Versicherungszeiten in Österreich erworben hat, deretwegen überhaupt erst Anspruch auf Rehabilitationsgeld besteht, in die Beurteilung der Leistungszuständigkeit einzubeziehen. Da das Rehabilitationsgeld als Leistung zwischen Krankheit und Invalidität einzuordnen ist und die Anknüpfung an erworbene Versicherungszeiten den Bestimmungen über Leistungen bei Invalidität entspricht, sind diese Bestimmungen bei der Prüfung der Zuständigkeit für die einzelnen Versicherungszeiten zu beachten.

3.3. Um den Leistungsverlust zu verhindern und die Vereinbarkeit mit dem Primärrecht herzustellen, haben dem Versicherten die Regeln der Art 45 ff iVm Art 50 ff VO 883/2004 zugute zu kommen. Erfüllt er die übrigen Anspruchsvoraussetzungen für das Rehabilitationsgeld nach nationalem Recht, ist dieses nach Art 21 Abs 1 der VO 883/2004 in die Bundesrepublik Deutschland zu exportieren.

4. Diese Aussagen treffen auch auf den vorliegenden Fall zu.

Im Vergleich zur Entscheidung 10 ObS 133/15d ist der vorliegende Fall dadurch gekennzeichnet, dass der Rehabilitationsgeldbezug unmittelbar an eine Zeit anschließen soll, in welcher der – in Österreich erwerbstätig gewesene – Versicherte in Österreich Anspruch auf Krankengeld hatte. Außerdem bezieht der Versicherte gleichzeitig eine Erwerbsunfähigkeitsrente in Deutschland.

4.1. Der Bezug von Krankengeld fällt unter die Beschäftigungsfiktion nach Art 11 Abs 2 VO 883/2004 , weshalb die aufrechte Beschäftigung weiterhin fingiert wird. Die österreichische Rechtsordnung kommt daher nach Art 11 Abs 2 iVm Art 11 Abs 3 lit a VO 883/2004 zur Anwendung. Es besteht daher Anspruch auf Rehabilitationsgeld.

4.2. Auch der gleichzeitige Bezug einer deutschen Erwerbsunfähigkeitsrente ändert nichts an der Zuständigkeit Österreichs:

Im Hinblick auf die Stellung des Klägers als Rentner ergibt sich die Zuständigkeit für Geldleistungen bei Krankheit nicht nach Art 11 der VO 883/2004 , sondern nach den Sonderkollisionsnormen des Titels III Kapitel I der VO 883/2004 . Nach Art 29 VO 883/2004 werden Geldleistungen einer Person, die eine Rente oder Renten nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten erhält, vom zuständigen Träger des Mitgliedstaats gewährt, in dem der zuständige Träger seinen Sitz hat, der die Kosten für die dem Rentner in dessen Wohnmitgliedstaat gewährten Sachleistungen zu tragen hat. Für Sachleistungen aus Krankheit und Mutter-/Vaterschaft ist gemäß Art 23 der Wohnsitzstaat für einen Rentner zuständig, der (Teil‑))Renten aus mehreren Staaten, inklusive des Wohnsitzstaats bezieht.

Demnach wäre für den Kläger die Zuständigkeit seines im EU‑Ausland gelegenen Wohnsitzstaats (der Bundesrepublik Deutschland) für Geldleistungen bei Krankheit gegeben, sodass grundsätzlich kein Anspruch auf Rehabilitationsgeld gegeben wäre. Im Hinblick auf den Sondercharakter des Rehabilitationsgeldes kann aber auf die in der Entscheidung 10 ObS 133/15d enthaltenen Aussagen verwiesen werden. Um den Leistungsverlust zu verhindern und die Vereinbarkeit mit dem Primärrecht herzustellen, ist unter Anwendung der Art 45 ff iVm Kapitel 5 der VO 883/2004 an die in Österreich erworbenen Versicherungszeiten anzuknüpfen.

Die besondere Nahebeziehung zum österreichischen Sozialsystem ergibt sich schon daraus, dass der Rehabilitationsgeldbezug unmittelbar an eine Zeit anschließen soll, in der der – in Österreich erwerbstätig gewesene – Versicherte in Österreich Anspruch auf Krankengeld hatte.

5. Da der Kläger die Anspruchsvoraussetzungen für das Rehabilitationsgeld nach nationalem Recht erfüllt, ist dieses nach Art 21 Abs 1 VO 883/2004 in die Bundesrepublik Deutschland zu exportieren.

6. Eine zur Zeit der Einbringung des Rechtsmittels tatsächlich erhebliche Rechtsfrage fällt weg, wenn sie durch eine andere Entscheidung des Obersten Gerichtshofs – hier durch die Entscheidung 10 ObS 133/15d – mittlerweile geklärt wurde (RIS‑Justiz RS0112921 [T5]).

Die Revision war daher zurückzuweisen.

7. Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG. Dass der Kläger in der Revisionsbeantwortung nicht auf die Entscheidung 10 ObS 133/15d hingewiesen hat, schadet nicht, weil diese Entscheidung erst nach Erstattung der Revisionsbeantwortung veröffentlicht wurde (RIS‑Justiz RS0123861).

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