OGH 10ObS67/22h

OGH10ObS67/22h21.6.2022

Der Oberste Gerichtshof hat in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Hofrat Mag. Ziegelbauer als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Faber und den Hofrat Dr. Annerl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Gerald Fuchs (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Birgit Riegler (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A*, vertreten durch die gerichtliche Erwachsenenvertreterin Dr. Rose‑Marie Rath, Rechtsanwältin in Wien, gegen die beklagte Partei Österreichische Gesundheitskasse, 1030 Wien, Haidingergasse 1, vertreten durch Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Auszahlung von Rehabilitationsgeld, über den Rekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 13. April 2022, GZ 10 Rs 130/21 t‑27, mit dem aus Anlass der Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 4. August 2021, GZ 1 Cgs 14/21m‑20, einschließlich des vorangegangenen Verfahrens als nichtig aufgehoben und die Klage zurückgewiesen wurden, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:010OBS00067.22H.0621.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten des Rekurses selbst zu tragen.

 

Begründung:

[1] Gegenstand des Verfahrens ist die Frage, ob es sich bei dem gegenständlichen Begehren auf (neuerliche) Auszahlung des dem Grunde und der Höhe nach unstrittigen Anspruchs (statt an die geschäftsunfähige Klägerin an deren Vertreterin) um eine Sozialrechtssache handelt.

[2] Bei der Klägerin ist aufgrund ihrer psychischen Erkrankung kein Überblick über die finanzielle Situation gegeben und sie war zumindest seit 24. Juli 2019 nicht in der Lage, ihre Interessen ohne Nachteil für sich selbst zu besorgen.

[3] Mit vor dem Arbeits- und Sozialgericht Wien am 9. Oktober 2019 im Verfahren zu 36 Cgs 160/18k abgeschlossenen Vergleich stellten die von der Erwachsenenvertreterin vertretene Klägerin und die dort beklagte Pensionsversicherungsanstalt fest, dass hinsichtlich der Klägerin keine dauernde, aber eine vorübergehende Berufsunfähigkeit im Ausmaß von mindestens sechs Monaten über den 30. September 2018 hinaus weiterhin vorliegt und über den 30. September 2018 hinaus für die weitere Dauer der vorübergehenden Berufsunfähigkeit Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung besteht.

[4] Mit Schreiben vom 9. Juli 2020 teilte die Beklagte der Klägerin persönlich mit, dass sie ihr Rehabilitationsgeld erhalten würde, wobei die Anweisung des Betrages von 14.608,60 EUR bereits am 12. Mai 2020 an die Klägerin direkt erfolgt war. Die Klägerin hat den Klagsbetrag zwar erhalten, jedoch ihn nicht dazu verwendet, um Besorgungen des täglichen Lebens zu machen oder Verbindlichkeiten abzudecken und er befindet sich nicht mehr in ihrer Verfügungsmöglichkeit.

[5] Mit Bescheid vom 8. Februar 2021 wies die Beklagte den Antrag der Klägerin auf nochmalige Auszahlung von Rehabilitationsgeld für den Zeitraum von 1. Oktober 2018 bis 31. Oktober 2019 ab, weil sie ihr dieses ohnedies überwiesen habe.

[6] Dagegen richtet sich die vorliegende Klage mit dem zuletzt gestellten Begehren, die Beklagte zur (neuerlichen) Zahlung von 14.608,60 EUR sA zu verpflichten.

[7] Die Beklagte bestritt unter Berufung auf die Auszahlung an die Klägerin. Eine Meldung über die Bestellung der Erwachsenenvertreterin sei bei der Beklagten erst nach der Auszahlung eingelangt. Die Auszahlung sei daher weder fehlerhaft noch gesetzwidrig an eine unberechtigte Person erfolgt.

[8] Das Erstgericht gab der Klage statt. Die Klägerin sei zum Zeitpunkt der Auszahlung nicht geschäftsfähig gewesen. Die Klägerin habe nachweisen können, dass sich der Klagsbetrag nicht mehr in ihren Händen befinde und auch nicht zu ihrem Vorteil verwendet worden sei. Der Anspruch bestehe unabhängig davon, ob der Beklagten die Geschäftsunfähigkeit bekannt gewesen sei, weil der Schutz der Geschäftsunfähigen vorgehe.

[9] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten Folge, hob das Urteil des Erstgerichts sowie das vorangegangene Verfahren als nichtig auf und wies die Klage wegen Unzulässigkeit des Rechtswegs zurück. Die Klägerin begehre im Ergebnis lediglich die Überprüfung der Auszahlung des dem Grunde und der Höhe nach unstrittigen Rehabilitationsgeldes, was nach ständiger Rechtsprechung nicht als Leistungssache iSd § 354 ASVG bzw als Sozialrechtssache iSd § 65 ASGG angesehen werde. Diese Auszahlungsstreitigkeit sei daher wegen Unzulässigkeit des Rechtswegs den ordentlichen Gerichten entzogen.

[10] Der – von der Beklagten beantwortete – (richtig:) Rekurs der Klägerin ist zufolge § 519 Abs 1 Z 1 ZPO jedenfalls zulässig (RIS‑Justiz RS0043882 [T11]). Er ist aber nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

[11] 1.1. Eine die Zulässigkeit des Rechtswegs eröffnende Sozialrechtssache nach § 65 Abs 1 Z 1 ASGG (der ua auf die in § 354 Z 1 ASVG taxativ aufgezählten Leistungssachen verweist) setzt voraus, dass zwischen dem Versicherten und dem Sozialversicherungsträger entweder der Grund oder die Höhe (der Umfang) des Anspruchs auf Versicherungsleistungen oder das Ruhen eines solchen Anspruchs streitig ist (10 ObS 44/20y SSV‑NF 34/17 RS0085473). Kern ist die Frage der Gewährung oder Nichtgewährung von Versicherungsleistungen (RS0085473 [T1]). Die Überprüfung der Auszahlung ist nach ständiger Rechtsprechung keine Sozialrechtssache (RS0085474; RS0115580).

[12] 1.2.Von der Rechtsprechung wurde das Vorliegen einer Leistungsstreitigkeit iSd § 65 Abs 1 Z 1 ASGG verneint und eine der gerichtlichen Zuständigkeit entzogene Verwaltungssache angenommen, wenn eine mit Bescheid des Sozialversicherungsträgers dem Umfang und der Höhe nach unbestritten zuerkannte Leistung infolge einer Legalzession nicht zur Gänze an die versicherte Person ausgezahlt wurde (RS0115580; RS0085474 [T2, T4]). Eine Leistungsstreitigkeit wurde etwa auch dann verneint, wenn infolge einer Gehaltsexekution ein Teil der Leistung einbehalten wurde (RS0085474 [T3]) oder – anstelle der als Regelfall vorgenommenen bargeldlosen Überweisung (vgl § 104 Abs 6 ASVG) – eine Zahlung mittels eines ins EU-Ausland zu übersendenden Schecks begehrt wurde (10 ObS 44/20y SSV‑NF 34/17). Soweit ein Pensionsbezieher der Meinung ist, ihm sei ein rechtskräftig zuerkannter Pensionsanspruch nicht ordnungsgemäß ausgezahlt worden, ist daher weder ein Bescheid des Sozialversicherungsträgers zu erlassen noch das Arbeits- und Sozialgericht anrufbar. Es steht aber der Weg der Exekutionsführung offen, weil Bescheide der Sozialversicherung Exekutionstitel nach § 1 Z 11 EO sind (RS0085474 [T5]).

[13] 1.3. Wie bereits das Berufungsgericht festgehalten hat, wendet sich die Klägerin nur gegen die schuldbefreiende Wirkung der erfolgten Auszahlung an sie persönlich und begehrt die Auszahlung an die Erwachsenenvertreterin. Da sich die vorliegende Klage somit auf die Überprüfung der Auszahlung des dem Grund und der Höhe nach unbestrittenen Rehabilitationsgeldanspruchs richtet, geht es nicht um die Gewährung oder Nichtgewährung der Versicherungsleistung, sodass kein den Rechtsweg eröffnender Leistungsstreit vorliegt.

[14] 2.1. Die Klägerin macht im Rekurs geltend, dass § 65 Abs 1 Z 2 ASGG und § 354 Abs 2 ASVG analog auf die gegenständliche Rechtssache anzuwenden seien. Wenn der Rückersatz einer zu Unrecht empfangenen Versicherungsleistung an den Versicherer in die sukzessive Zuständigkeit der Gerichte falle, müsse dies gleichermaßen für die Forderung der nicht schuldbefreiend und daher zu Unrecht ausbezahlten Leistung an den Versicherten gelten.

[15] 2.2. Die Voraussetzungen für die von der Klägerin gewünschte Analogie liegen nicht vor. Eine Analogie setzt eine Gesetzeslücke im Sinn einer planwidrigen Unvollständigkeit voraus (RS0098756 [T1]). Eine solche Lücke ist dort anzunehmen, wo das Gesetz gemessen an seiner eigenen Ansicht und immanenten Teleologie unvollständig und ergänzungsbedürftig ist, ohne dass eine Ergänzung einer vom Gesetz gewollten Beschränkung widerspricht (RS0098756 [T14]).

[16] 2.3. Der von der Klägerin vertretenen Analogie steht schon entgegen, dass ein Begehren auf (neuerliche) Auszahlung einer dem Grunde und der Höhe nach unstrittigen Leistung mit der von § 65 Abs 1 Z 2 ASGG erfassten Pflicht zum Rückersatz einer zu Unrecht empfangenen Leistung nicht vergleichbar ist. Dem Rekurs lässt sich nicht entnehmen, aus welchen konkreten Gründen das Gesetz insofern ergänzungsbedürftig wäre. Die bloße Meinung des Rechtsanwenders, eine Regelung sei wünschenswert, rechtfertigt die Annahme einer Gesetzeslücke jedenfalls noch nicht (RS0098756 [T3]).

[17] 3. Es liegt daher keine Sozialrechtssache iSd § 65 Abs 1 Z 1 ASGG vor, ebenso wenig ein Streit über die Pflicht zum Rückersatz einer zu Unrecht empfangenen Versicherungsleistung nach § 65 Abs 1 Z 2 ASGG, weshalb das Berufungsgericht die Zulässigkeit des Rechtswegs zutreffend verneint hat. Daran vermag auch die unrichtige Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Bescheids nichts zu ändern, weil dadurch die Zulässigkeit des Rechtswegs nicht begründet werden kann.

[18] 4. Dem Rekurs des Klägers ist somit ein Erfolg zu versagen.

[19] 5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

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