OGH 10ObS5/07v

OGH10ObS5/07v17.4.2007

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schinko als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Schramm sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Wolfgang Höfle und Prof. Mag. Dr. Thomas Keppert (beide aus dem Kreis der Arbeitgeber) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Maria S*****, vertreten durch Dr. Georg Maxwald und Dr. Gerhard Bauer, Rechtsanwälte in Linz, gegen die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft, 1051 Wien, Wiedner Hauptstraße 84-86, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Pflegegeld, infolge außerordentlicher Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 6. Dezember 2006, GZ 12 Rs 121/06k-13, womit über Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Ried als Arbeits- und Sozialgericht vom 3. August 2006, GZ 14 Cgs 81/06f-10, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Mit Bescheid vom 28. 3. 2006 gewährte die beklagte Partei der Klägerin ab 1. 12. 2005 Pflegegeld der Stufe 6.

Die Klägerin begehrt mit ihrer gegen diesen Bescheid gerichteten Klage die Zuerkennung von Pflegegeld der Stufe 7 ab 1. 12. 2005. Sie sei 76 Jahre alt, leide an Alzheimer und sei nicht mehr in der Lage, Tätigkeiten zu verrichten. Sie sei völlig desorientiert. Zielgerichtete Bewegungen seien ihr keine mehr möglich. Sie sei praktisch bewegungsunfähig.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Der Klägerin seien noch zielgerichtete Bewegungen mit funktioneller Umsetzung möglich. Sie könne noch sicher gehen und sich auch selbständig umdrehen.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Es traf folgende wesentliche Feststellungen:

Bei der Klägerin liegt eine schwere Demenz mit vollständigem Selbstständigkeitsverlust vor. Ihr Zustand hat sich seit Jänner 2004 deutlich verschlechtert. Sie ist völlig desorientiert und erkennt ihre Angehörigen nicht mehr. Sie kommt Aufforderungen nicht nach und ist zu eigenständigen vernünftigen Handlungen nicht mehr fähig. Durch einen ausgeprägten Wandertrieb besteht erhöhter Pflegebedarf. Unter Berücksichtigung ihrer Erkrankungen und Leidenszustände benötigt die Klägerin fremde Hilfe bei der täglichen Körperpflege, für die Zubereitung und Einnahme der Mahlzeiten, für die Einnahme der Medikamente, beim Verrichten der Notdurft, für die Reinigung bei teilweiser Harn- und Stuhlinkontinenz, beim An- und Auskleiden, für die Herbeischaffung von Nahrungsmitteln und Bedarfsgütern des täglichen Lebens, für die Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände sowie beim Waschen der Leib- und Bettwäsche. Sie benötigt Mobilitätshilfe im engeren und weiteren Sinn. Der Klägerin wird das Essen eingegeben. Sie weiß mit den Speisen am Teller nichts anzufangen. Teilweise führt sie wohl Trinkgläser zum Mund, dies aber ziellos und nicht auf Aufforderung. Die Klägerin wird täglich mehrmals meist vergeblich auf das WC gesetzt. Im Fall von Stuhlgang muss sie gereinigt werden. Selbständig würde sie nicht auf die Toilette gehen, die sie auch selbst nicht finden würde. Sie ist nicht in der Lage, bei der täglichen Körperpflege und beim An- und Auskleiden selbst mitzuwirken. Die Klägerin ist nicht bettlägerig. Sie ist mobil, findet sich aber nirgends zurecht und bedarf wegen der völligen Desorientiertheit sowohl im Haus als auch außerhalb einer Begleitperson. Wegen der Umtriebigkeit und der damit verbundenen Eigengefährdung ist eine Beaufsichtigung der Klägerin bei Tag und Nacht dauernd erforderlich.

Die Klägerin kann zwar gehen, irrt aber ziellos umher. Willentlich geplante und gesteuerte Bewegungen sind nicht möglich. Sie kann auch nicht Anforderungen willentlich und Vernunft getragen Folge leisten. Die Fähigkeit zu gehen, ist Folge der in der frühen Kindheit erlernten Bewegungsautomatismen. Das gilt auch für alle sonstigen spontanen Bewegungen.

Rechtlich beurteilte das Erstgericht den Sachverhalt dahin, dass der Klägerin wohl noch Bewegungen möglich seien, diese aber Ausfluss eines in der frühen Kindheit erlernten Bewegungsautomatismus seien. Die Bewegungen seien weder willentlich geplant noch gesteuert, sodass trotz einer gewissen Mobilität der vier Extremitäten ein einer praktischen Bewegungsunfähigkeit gleichzuachtender Zustand vorliege. Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei Folge. Es änderte das Ersturteil im Sinne des Zuspruchs von Pflegegeld der Stufe 6 und einer Abweisung des Mehrbegehrens ab. Es sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei. Nach Darstellung der Rechtslage und Wiedergabe höchstgerichtlicher Judikatur führte es aus, möge die Klägerin auch auf Grund ihrer Demenz nicht mehr in der Lage sein, sinnvoll eine Rufglocke einzusetzen, und möge auf Grund ihres Wandertriebes auch die Pflegesituation vergleichbar - wenn nicht oft schwieriger - mit einer völlig bewegungsunfähigen Pension sein, so könne sie doch gehen, sei mobil und nicht bettlägerig. Sie könne auch noch ein Trinkglas zum Mund führen, sodass von einem funktionell einer vollständigen Bewegungsunfähigkeit gleichkommenden Zustand nicht ausgegangen werden könne. Auch wenn die Klägerin nicht die Aufforderungen des Pflegepersonals willentlich und Vernunft getragen befolge, könne sie nach dem festgestellten Sachverhalt durch eine Begleitperson geführt werden, etwa auf die Toilette. Mit Massenbewegungen im Sinn primitiver frühkindlicher Reflexe sei das nicht vergleichbar, auch wenn die Fähigkeit zu Gehen nach dem festgestellten Sachverhalt eine Folge der in der frühen Kindheit erlernten Bewegungsautomatismen sei. Auch wenn insbesondere der Wandertrieb der Klägerin in Verbindung mit ihrer Desorientierung eine dauernde Beaufsichtigung erforderlich mache, rechtfertige das noch nicht Pflegegeld der Stufe 7.

Rechtliche Beurteilung

Die gegen diese Entscheidung gerichtete Revision der Klägerin ist zulässig, weil der Oberste Gerichtshof noch nicht entschieden hat, ob einer völlig dementen, aber mobilen Pflegebedürftigen Pflegegeld der Stufe 7 zusteht. Sie ist aber nicht berechtigt.

Vorweg ist festzuhalten, dass nach den vom Obersten Gerichtshof gepflogenen Erhebungen der für die Klägerin mit Beschluss des Bezirksgerichtes Schärding vom 21. Oktober 2005, AZ 1 P 255/04d, zum ständigen, für alle Angelegenheiten bestellte Sachwalter August S***** den im Revisonsverfahren einschreitenden Rechtsanwälten Prozessvollmacht erteilte. Da in der Revision ein Mangel der gesetzlichen Vertretung im bisherigen Verfahren nicht geltend gemacht wird, wäre eine allenfalls vorliegende Nichtigkeit (§ 477 Abs 1 Z 5 ZPO; ein Einschreiten des Sachwalters im Verfahren vor dem Erst- und vor dem Berufungsgericht ist nicht aktenkundig) durch nachträgliche Genehmigung der Prozessführung geheilt (§ 477 Abs 2 ZPO). Die Revisionswerberin macht im Wesentlichen geltend, nach den Feststellungen sei davon auszugehen, dass die ihr noch aktiv möglichen Bewegungen wegen ihrer Demenz überhaupt nicht willentlich gesteuert seien und von ihr willentlich nicht beeinflusst werden könnten. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung von Pflegegeld der Stufe 7 gemäß § 4 Abs 2 Z 1 BPGG seien daher gegeben. Im Übrigen könne auch von einem gleichzuachtenden Zustand im Sinn des § 4 Abs 2 BPGG gesprochen werden, weil - auch wenn kein Angewiesensein auf bestimmte lebenserhaltende technische Geräte vorliege - die noch vorhandene Restmobilität der vier Extremitäten auf Grund des Umstandes, dass eine willentliche Steuerung nicht möglich sei, nicht mehr benützt werden könne.

Hiezu wurde erwogen:

Ein Zuspruch von Pflegegeld der Stufe 7 setzt nach § 4 Abs 2 BPGG voraus, dass der Pflegebedarf durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt und entweder keine zielgerichteten Bewegungen der vier Extremitäten mit funktioneller Umsetzung möglich sind (Z 1) oder ein gleichzuachtender Umstand vorliegt (Z 2). Diese Fassung erhielt § 4 Abs 2 Stufe 7 BPGG mit der BPGG-Novelle 1998 (BGBl I 1998/111), wobei die gesetzliche Neudefinition in der Ziffer 1 in Anlehnung an die Judikatur des Obersten Gerichtshofes zum bis dahin normierten Tatbestandsmerkmal „praktische Bewegungsunfähigkeit" erfolgte (RIS-Justiz RS0106363 [T9]). In den ErläutRV 1186 BlgNR 20. GP 11 heißt es dazu:

„Die Neudefinition der Stufe 7 dient gleichfalls der Beseitigung von Abgrenzungsproblemen. Anstelle des Kriteriums „praktische Bewegungsunfähigkeit" sollen in das Gesetz in Anlehnung an die Judikatur des Obersten Gerichtshofes die Begriffe „zielgerichtete Bewegungen" und „funktionelle Umsetzung" Aufnahme finden. In den Fällen der Z 1 ist eine funktionelle Umsetzung dh aktive Durchführung willentlich geplanter Bewegungen keiner der vier Extremitäten möglich. Kann der Pflegebedürftige beispielsweise durch den Einsatz von hochtechnischen Geräten mit dem Mund oder den Augen eine willentlich geplante Aktion durchführen - zB langsamst am PC Worte schreiben-, ist er trotzdem in die Stufe 7 einzuordnen, da für nahezu alle Alltagsverrichtungen und Tätigkeiten die Hilfe einer anderen Person notwendig ist. Bei diesen Personen ist etwa auch die Hilfestellung beim Trinken in Form vom Führen des Glases und die richtige Lagerung dazu erforderlich. Dieser Pflegeeinsatz muss rund um die Uhr geleistet werden und erfordert auch ein hohes Maß an praktischem Wissen der Pflegeperson. Ein gleichzuachtender Zustand liegt etwa dann vor, wenn der pflegebedürftige Mensch an sich noch über eine gewisse Mobilität verfügt, diese aber insbesondere auf Grund des Angewiesenseins auf bestimmte lebenserhaltende technische Geräte nicht nützen kann und dadurch für alle Alltagsverrichtungen auf die Hilfe einer Pflegeperson angewiesen ist. Darunter ist etwa nicht die stundenweise Einschränkung der Beweglichkeit wegen der Durchführung von Infusionen - wie es auch bei der Dialyse vorkommt - zu verstehen."

Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes wird für die Unmöglichkeit zielgerichteter Bewegungen der vier Extremitäten mit funktioneller Umsetzung (§ 4 Abs 2 Stufe 7 Z 1 BPGG) verlangt, dass ein Pflegebedürftiger zu keinerlei willentlich gesteuerten Bewegungen, die zu einem bestimmten beabsichtigten Zweck dienen und mit denen dieser Zweck auch erreicht werden kann, in der Lage ist (10 ObS 57/05p mwN; RIS-Justiz RS0106363 [T5]). Der Zustand muss in seinen funktionellen Auswirkungen einer vollständigen Bewegungsunfähigkeit gleichkommen (10 ObS 57/05p; RIS-Justiz RS0106363 [T4]). Für die Stufe 7 ist nicht erforderlich, dass der pflegebedürftige Mensch zielgerichtete Bewegungen noch zur Vornahme einer Betreuungs- und Hilfsverrichtung im Sinn der §§ 1 und 2 EinstVO setzen kann (10 ObS 57/05p mwN; RIS-Justiz RS0106363 [T 15]). In der höchstgerichtlichen Rechtsprechung (s die Darstellung bei Greifeneder/Liebhart, Handbuch Pflegegeld [2004] Rz 358) wurde eine die Pflegegeldstufe 7 ausschließende Beweglichkeit vor allem dann angenommen, wenn aktive Bewegungen ausgeführt werden können, durch die die Betreuung insgesamt etwas vereinfacht wird, weil nicht unbedingt jemand permanent in der Nähe des Betroffenen sein muss bzw der Betroffene nicht ständig unter Beobachtung gehalten werden muss. In diese Richtung gehen einerseits die Fähigkeit zur selbständigen Veränderung der Lage im Bett und eine gewisse Fähigkeit zum selbständigen Essen und Trinken, andererseits die Möglichkeit, mit einer Rufglocke, die der Pflegebedürftige ergreifen kann, einen Rufkontakt herzustellen. Es muss sich aber im weitesten Sinn um Bewegungen handeln, die geeignet sind, die Pflege zu erleichtern oder den pflegerischen Aufwand - wenn auch geringfügig - zu mindern bzw die Lebensführung des Betroffenen zu erleichtern (10 ObS 57/05p). In diesem Sinn hat der Oberste Gerichtshof ausgesprochen, dass bloße Massenbewegungen im Sinn von primitiven, frühkindlichen Reflexen mit den oberen Extremitäten und nicht zielgerichtete Abwehrbewegungen, die zufällig ihr Ziel erreichen, mangels willentlicher Steuerung der noch möglichen Bewegungsabläufe einen Anspruch auf Stufe 7 nicht ausschließen (10 ObS 82/01h). Gleiches gilt selbst für willentlich gesteuerte, zielgerichtete Bewegungen dann, wenn durch sie der Pflegeaufwand nicht vermindert oder die Pflege nicht erleichtert wird, die Restbeweglichkeit sohin nicht nutzbringend eingesetzt werden kann, wie dies beispielsweise der Fall ist, wenn der Pflegebedürftige Arme und Beine bloß anheben und ausstrecken oder mit einem Strohalm oder einer Schnabeltasse trinken kann, ohne aber das Trinkgefäß selbständig ergreifen zu können (10 Ob 57/05p). Der vorliegenden Fall ist aber mit dem der Entscheidung 10 ObS 82/01h zu Grunde liegenden Sachverhalt nicht vergleichbar. Diese Entscheidung verweist zum Verständnis des Ausdrucks „Massenbewegungen" auf Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch. In der 259. Auflage dieses Werks, Seite 1030 wird der Ausdruck mit „frühkindliche Reflexe des Neugeborenen und jungen Säuglings mit weit ausstrahlenden Reflex- und Bewegungskomplexen, die mit der Ausreifung stammesgeschichtlicher jüngerer Hirnstrukturen verschwinden" erläutert. Von Massenbewegungen im Sinn dieser Beschreibung und wie sie der Entscheidung 10 ObS 82/01h zu Grunde lagen kann hier nicht die Rede sein. Schon die Fähigkeit der dementen Klägerin, sich - wenn auch unter Begleitung - selbständig auf den eigenen Beinen fortzubewegen, schließt einen Anspruch auf Stufe 7 aus, weil sie zumindest ihre Beine noch so sinnvoll und nutzbringend einsetzen kann, dass eine Erleichterung der Pflege durchaus erkennbar ist (etwa beim Aufsuchen des WC). Die Klägerin bewegt sich und wird nicht bewegt. Die festgestellte Umtriebigkeit der Klägerin setzt voraus, dass sie gehen will und kann und sich nicht bloß reflexhaft ohne Zielrichtung bewegt. Das Gehen selbst ist die funktionelle Umsetzung der Beinbewegungen und keine ungesteuerte Bewegung der Beine. Die Annahme eines gleichzuachtenden Zustandes (§ 4 Abs 2 Stufe 7 Z 2 BPGG) scheidet schon begrifflich dann aus, wenn - wie im vorliegenden Verfahren - zielgerichtete Bewegungen mit funktioneller Umsetzung noch möglich und tatsächlich auch noch im Sinne einer Vereinfachung der Pflege ausgeführt werden können (10 ObS 4/01p). Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

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