OGH 10ObS2434/96f

OGH10ObS2434/96f13.12.1996

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Bauer und Dr.Danzl als weitere Richter sowie durch die fachkundigen Laienrichter Dr. Peter Wolf (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Leopold Smrcka (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Josef S*****, vertreten durch Dr.Werner Posch, Rechtsanwalt in Gloggnitz, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, wegen Pflegegeld, infolge infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 24.September 1996, GZ 9 Rs 226/96p-19, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Wiener Neustadt als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 1.März 1996, GZ 4 Cgs 233/95i-9, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Die Urteile der Vorinstanzen werden insoweit, als das Klagebegehren auf Erhöhung des Pflegegeldes von Stufe 5 auf Stufe 7 ab dem 1.7.1995 abgewiesen wurde, aufgehoben.

Die Sozialrechtssache wird in diesem Umfang zur Verhandlung und Entscheidung an das Prozeßgericht erster Instanz zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Der am 10.7.1936 geborene Kläger ist in einem Pensionistenheim untergebracht. Eine Zentralheizung ist vorhanden. Um das Aufräumen und die Wäsche kümmert sich die Verwaltung. Ein praktischer Arzt kommt regelmäßig ins Haus. Die vorgeschriebenen Medikamente werden von der Verwaltung besorgt; die Schwestern bringen diese ins Zimmer. Auch das Essen wird ins Zimmer gebracht.

Beim Kläger befindet sich ein Zustand nach Schüben einer multiplen Sklerose mit beinbetonter Tetraspastik. Weiters bestehen Encephalitis disseminata mit Lähmungen, Harn- und Stuhlinkontinenz und Decubitus in Abheilung.

Der Kläger kann sich weder allein an- noch ausziehen. Er vermag sich nicht alleine zu waschen. Er kann den Wohnraum nicht instandhalten, er vermag nicht, Speisen zuzubereiten, er vermag lediglich vorgeschnittene Speisen allein zu sich zu nehmen. Er kann nicht allein die Toilette aufsuchen. Er kann nicht die Heizung warten, das Besorgen der Wäsche ist nicht mehr möglich. Er vermag nicht, Nahrungsmittel einzuholen, weiters auch nicht, Arzt oder Apotheke aufzusuchen. Zu sämtlichen schwierigeren Verrichtungen, wie Großreinemachen und Fensterputzen, benötigt er fremde Hilfe. Infolge seines Zustandes benötigt er die Betreuung des Pflegeheimes.

Der Kläger ist nicht mobil, er ist aber geistig ausreichend rege. Es ist die Unterbringung im Pflegeheim erforderlich. Es muß also eine Person in Bereitschaft sein, die dem Kläger - falls ihm bei einer Verrichtung geholfen werden muß - zur Seite steht. Diese Person muß aber nicht dauernd anwesend sein. Es ist eine Betreuung erforderlich, wie sie normalerweise in einem Altersheim geboten wird. Es bedarf bloß einer Bereitschaft; einer dauernden Beaufsichtigung bedarf es nicht. Die Leidenszustände des Klägers potenzieren sich nicht.

Mit Bescheid vom 7.8.1995 wies die beklagte Partei seinen Antrag vom 11.5.1994 (richtig: 1995 - siehe Pensionsakt) auf Erhöhung des Pflegegeldes ab.

In der hiegegen erhobenen Klage stellte der Kläger das Begehren auf Erhöhung seines Pflegegeldes von bisher Stufe 5 auf nunmehr Stufe 7.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren, soweit es den Zeitraum 1.5.1995 bis 30.6.1995 betrifft, wegen Rechtswegunzulässigkeit (rechtskräftig) zurück, im übrigen - den Zeitraum ab dem 1.7.1995 betreffend - ab. Es beurteilte den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt rechtlich dahingehend, daß es beim Kläger schon an der für die Stufe 6 erforderlichen Voraussetzung einer dauernden Beaufsichtigung bzw einem diesem gleichzuachtenden Pflegeaufwand mangle.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Es führte zur ausschließlich erhobenen Rechtsrüge noch ergänzend aus, daß bei einer im Sinne des Gesetzes orientierten Auslegung davon auszugehen sei, daß die pflegebedingten Mehraufwendungen in den verschiedenen Pflegegeldstufen ansteigend vorgegeben seien. Der Begriff der dauernden Beaufsichtigung in § 4 Abs 2 PBGG bei Stufe 6 bzw der gleichzuachtende Pflegeaufwand könne nicht durch das bloße Erfordernis der dauernden Bereitschaft nachgewiesen werden, da dies bereits Stufe 5 entspreche. Eine dauernde Beaufsichtigung beim Kläger sei aber nicht erforderlich, ebensowenig liege Bewegungsunfähigkeit oder ein gleichzuachtender Zustand vor, da er ja noch in der Lage sei, wesentliche Teile von Betreuungs- oder Hilfsverrichtungen selbst durchzuführen (nämlich vorgeschnittene Nahrung einzunehmen).

Rechtliche Beurteilung

Die gemäß § 46 Abs 3 ASGG auch ohne Vorliegen der Voraussetzungen des Abs 1 leg cit zulässige, auf den Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gestützte und auf die Zuerkennung der Pflegegeldstufe 7 gerichtete sowie von der beklagten Partei nicht beantwortete Revision ist im Sinne des jedem Abänderungsantrag innewohnenden Aufhebungsantrages (MGA ZPO14 E 12 zu § 467) mangels Spruchreife der Sache berechtigt.

1. Anspruch auf Pflegegeld in Höhe der Stufe 4 besteht für Personen, deren Pflegebedarf durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt. Für das Ausmaß des Pflegegeldes ab Stufe 5 (welche dem Kläger von der beklagten Partei bereits vor seinem Erhöhungsantrag zuerkannt war) sind nach § 4 Abs 2 BPGG zusätzlich zu einem zeitlichen Mindestaufwand von 180 Stunden auch andere Kriterien maßgebend. Diese sollen offenbar das Erfordernis besonders qualifizierter Pflege indizieren, sind aber zum Teil nur recht vage umschrieben. So wird für die Stufe 5 ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand verlangt. Dieser liegt nach § 6 EinStV vor, wenn die dauernde Bereitschaft einer Pflegeperson, nicht jedoch deren dauernde Anwesenheit erforderlich ist. Dauernde Bereitschaft wird wohl dahingehend zu verstehen sein, daß der Pflegebedürftige jederzeit Kontakt mit der Pflegeperson aufnehmen und diese in angemessener Zeit die erforderliche Betreuung und Hilfe leisten kann oder die Pflegeperson von sich aus in angemessenen Zeitabständen Kontakt mit dem Pflegebedürftigen aufnimmt. Die Einordnung in Stufe 6 sollte nach der Regierungsvorlage zum BPGG nur bei Vorliegen des Erfordernisses der dauernden Beaufsichtigung zulässig sein (RV 776 BlgNR 18.GP). Durch die im Ausschuß für Arbeit und Soziales vorgenommene Erweiterung der Anspruchsvoraussetzungen für die Stufe 6 durch die Wortfolge "oder ein gleichzuachtender Pflegeaufwand" sollte auch körperlich behinderten Menschen der Zugang zu dieser Stufe ermöglicht werden (908 BlgNR 18.GP, 4). Unter dauernder Beaufsichtigung wird die Notwendigkeit einer weitgehenden Anwesenheit einer Pflegeperson im Wohn- (hier: Heim-)bereich verstanden werden können. Ebenfalls im Ausschuß wurde die Anspruchsvoraussetzung "vollständige Bewegungsunfähigkeit" für die Stufe 7 durch den weiteren Begriff der "praktischen Bewegungsunfähigkeit" ersetzt. Dies setzt einen Zustand voraus, der in den funktionellen Auswirkungen einer vollständigen Bewegungsunfähigkeit gleichkommt. Pflegegeld der Stufe 7 kommt schließlich auch bei einem der praktischen Bewegungsunfähigkeit gleichzuachtenden Zustand in Betracht. Davon wird man sprechen können, wenn der Pflegebedürftige an sich noch über eine gewisse Mobilität verfügt, diese aber insbesondere aufgrund des Angewiesenseins auf bestimmte lebensnotwendige Hilfsmittel (zB ein Beatmungsgerät) nicht nützen kann (vgl hiezu Gruber/Pallinger, PBGG, Rz 55 bis 58 zu § 4; Pfeil, Neuregelung der Pflegevorsorge in Österreich, 198 f; derselbe, BPGG 97 ff, jeweils mit Hinweis auf die Gesetzesmaterialien). Nach § 17 Abs 2 Z 4 der vom Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger nach § 31 Abs 5 Z 23 ASVG erlassenen (und vom Kläger im Rechtsmittel zur Stützung seines Rechtsstandpunktes ausdrücklich zitierten) Richtlinien für die einheitliche Anwendung des Bundespflegegeldgesetzes, Amtliche Verlautbarung Nr 120/1994 (SozSi 1994, 686), gebührt ein Pflegegeld in der Höhe der Stufe 7 Personen, deren Pflegebedarf durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt, wenn praktische Bewegungsunfähigkeit (zielgerichtete Bewegungen mit funktioneller Umsetzung) nicht mehr möglich sind (lit a) oder ein gleichzuachtender Zustand (dauernder Einsatz technischer Hilfsmittel zur Aufrechterhaltung lebensnotwendiger Funktionen ist erforderlich) vorliegt (lit b). Da sich die Umschreibung der Erfordernisse für ein Pflegegeld der Stufe 7 in dieser Richtlinienbestimmung im wesentlichen mit der oben wiedergegebenen Auslegung des Senates deckt, muß hier nicht auch dazu Stellung genommen werden, ob diese Richtlinien für die Gerichte bindend sind oder nicht.

2. Aus der dargestellten Rechtslage ergibt sich, daß die - bereits in der Klagebeantwortung vertretene - Auffassung der Beklagten, ein Pflegegeld der Stufe 7 erfordere außer der praktischen Bewegungsunfähigkeit oder eines gleichzuachtenden Zustandes daneben auch noch eine dauernde Beaufsichtigung oder einen gleichzuachtenden Pflegeaufwand, was beim Kläger nicht erforderlich sei, sodaß es hier schon an den Voraussetzungen für die Gewährung des Pflegegeldes der Stufe 6 mangle, aus dem Gesetz nicht abzuleiten ist. Wie das Berufungsgericht an sich zutreffend ausgeführt hat, setzt zwar nach den Vorstellungen des Gesetzgebers eine höhere Pflegegeldstufe auch einen höheren Grad der Pflegebedürftigkeit voraus, doch hat der Gesetzgeber durch die Formulierung der Erfordernisse im § 4 Abs 2 BPGG zu erkennen gegeben, daß er die völlige oder praktische Bewegungsunfähigkeit (bzw einen gleichzuachtenden Zustand) als höchsten Grad der Pflegebedürftigkeit einstuft, also hier nicht auf das Element der dauernden Beaufsichtigung (zusätzlich) abstellt, sondern die umfassende Einschränkung der Beweglichkeit als Maßstab für den zu erwartenden Pflegeaufwand heranzieht (ebenso jüngst auch 10 ObS 2324/96d).

3. Im vorliegenden Fall wären dem Kläger nach den Feststellungen zielgerichtete Bewegungen mit funktioneller Umsetzung offenbar an sich noch möglich, sodaß praktische Bewegungsunfähigkeit im Sinne des vorstehenden Auslegungsergebnisses (noch) nicht vorliegen würde. Dies ergibt sich insbesondere aus der Feststellung, daß er - wenngleich von dritter Seite beschaffte und zubereitete (vorgeschnittene) - Nahrung einzunehmen in der Lage ist und auch - wenngleich schon vom optischen Erscheinungsbild her augenfällig nur sehr eingeschränkt - eine Unterschrift auf den offenbar von dritter Seite vorbereiteten Klagsschriftsatz ON 1 zu setzen vermochte. Gerade dies läßt den Schluß zu, daß der Kläger an sich noch über eine gewisse Mobilität verfügt, diese aber auf Grund seiner multiplen Skleroseschübe samt Tetraspastik nur mehr eingeschränkt nützen kann. Insoweit sind die Feststellungen des Erstgerichtes nur sehr knapp und allgemein gehalten. Einerseits ist festgestellt, daß der Kläger "nicht mobil" sei, andererseits seine Tetraspastik nur beinbetont ist und er mit den oberen Extremitäten oder zumindest einer der beiden gewisse zielgerichtete Bewegungsabläufe durchführen und steuern kann. Auch der im Rahmen der Feststellungen übernommene medizinische Begriff des "Decubitus in Abheilung" ist in diesem Zusammenhang aufklärungsbedürftig, könnte doch aus diesem Umstand abgeleitet werden, daß dem Kläger auch eine eigenbestimmte Veränderung seiner Körperposition im Bett auch ohne ausschließlich Fremdhilfe möglich wäre. Nach den bisherigen Feststellungen - wobei sich das Erstgericht ohnedies nicht von den Ausführungen im internistischen Sachverständigengutachten leiten ließ, wonach der Kläger überhaupt großteils ohne Pflegehilfe auskommen könnte - läßt sich jedenfalls nicht abschließend beurteilen, ob beim Kläger tatsächlich praktische Bewegungsunfähigkeit oder ein gleichzuachtender Zustand im Sinne der obigen Ausführungen vorliegt und damit Anspruch auf Stufe 7 des Pflegegeldes besteht. In diesem Zusammenhang wird das Erstgericht auch zu beachten haben, daß es seine Feststellungen auf eine den Grundsätzen des § 272 Abs 1 ZPO entsprechende Beweiswürdigung stützt, anstatt sich mit einer Verweisung auf "eingangs zitierte Beweise" zu begnügen (siehe hiezu ausführlich Rechberger in Rechberger, ZPO Rz 3 zu § 272 sowie Fasching, Lehrbuch2 Rz 812 ff).

4. In Stattgebung der Revision waren daher die Urteile der Vorinstanzen im angefochtenen Umfang aufzuheben und die Sozialrechtssache an das Erstgericht zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG.

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