European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:010OBS00125.20K.1124.000
Spruch:
Der Rekurs wird zurückgewiesen.
Die beklagte Partei hat die Kosten der Rekursbeantwortung selbst zu tragen.
Begründung:
[1] Mit Bescheid vom 3. 8. 2017 lehnte die Wiener Gebietskrankenkasse (nun: Österreichische Gesundheitskasse) den Antrag der Klägerin ab, die Kosten für die häusliche (Intensiv‑)Pflege für ihren 2016 geborenen Sohn laut Kostenvoranschlag der C***** GmbH in K***** vom 3. 5. 2017 für eine 24‑Stunden‑Betreuung an sieben Tagen der Woche im Umfang von voraussichtlich 720 Stunden monatlich bzw in Höhe eines Betrags von insgesamt 35.520 EUR pro Monat zu übernehmen. Mit Ausnahme einer krankenhausersetzenden Therapie bzw der Krankenbehandlung sowie der gleichgestellten Leistungen im niedergelassenen Bereich handle es sich bei den im Kostenvoranschlag genannten Leistungen um eine (Intensiv‑)Pflege des Sohnes der Klägerin im Rahmen einer Langzeitpflege. Dafür seien jene Stellen zuständig, die Pflegeleistungen oder Zuschüsse dazu gewähren. Bei Vorlage einer ärztlichen Verordnung, eines Pflegeplans und einer Rechnung mit Zahlungsbestätigung könne der Klägerin die Gewährung eines Zuschusses für medizinische Hauskrankenpflege im Umfang von fünf Stunden täglich, dies entspreche einem Betrag von 1.728 EUR monatlich, in Aussicht gestellt werden.
[2] Mit ihrer gegen diesen Bescheid gerichteten Klage begehrt die Klägerin von der Beklagten die Zuerkennung der Kosten für häusliche (Intensiv‑)Pflege für den anspruchsberechtigten Sohn der Klägerin auf Grundlage des bereits genannten Kostenvoranschlags der C***** GmbH im Ausmaß von 35.520 EUR pro Monat für eine 24‑Stunden‑Betreuung auf Basis eines 30‑Tage‑Monats, gesamt daher voraussichtlich 720 Stunden monatlich. Aufgrund der schweren Erkrankungen des Sohnes der Klägerin benötige dieser eine 24‑Stunden‑Pflege und Betreuung. Dabei handle es sich nicht um den Normalfall einer medizinischen Hauskrankenpflege, sondern es sei eine 24‑ Stunden‑Betreuung des Sohnes der Klägerin durch qualifiziertes Pflegepersonal erforderlich.
[3] Die Beklagte wandte dagegen ein, dass beim Sohn der Klägerin nicht eine behandelbare Krankheit, sondern ein Gebrechen vorliege, sodass sie nicht leistungszuständig sei. Soweit für den Sohn der Klägerin Maßnahmen der Krankenbehandlung erforderlich seien, würden sie von der Beklagten ohnedies gewährt. Für die Gewährung medizinischer Hauskrankenpflege fehle es an den Voraussetzungen, insbesondere fehle eine ärztliche Anordnung. Über ein Ausmaß von fünf Stunden täglich hinaus bestehe kein Bedarf des Sohnes der Klägerin an medizinischer Hauskrankenpflege. Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung des Erkrankten zählten nicht zur medizinischen Hauskrankenpflege.
[4] Das Erstgericht gelangte zu folgendem Urteilszuspruch:
„Die beklagte Partei ist verpflichtet, gegenüber der Klägerin die Kosten für die häusliche (Intensiv‑)Pflege für den anspruchsberechtigten Angehörigen [Sohn der Klägerin] laut dem Kostenvoranschlag der Firma 'C***** GmbH' […] vom 3. 5. 2017 über eine 24‑Stunden‑Betreuung im Umfang von voraussichtlich acht Tagstunden und acht Nachtstunden (von 22.00 Uhr bis 6.00 Uhr) und zwar täglich, unter der Voraussetzung zu übernehmen, dass zwischen C***** und der Klägerin ein Pflegedienstleistungsvertrag entsprechend dem Kostenvoranschlag vom 3. 5. 2017 zustande kommt, für alle Tage inklusive Sonn‑ und Feiertage, in welchen [der Sohn der Klägerin] nicht in Krankenanstalten stationär gepflegt wird, unter der Voraussetzung, dass es für den zu übernehmenden Zeitraum ärztliche Verordnungen gibt und, was bedauerlicherweise nicht zu erwarten ist, am Gesundheitszustand und Pflegebedarf [des Sohnes der Klägerin] sich nichts Wesentliches verändert.“
[5] Das Mehrbegehren „hinsichtlich eines darüber hinausgehenden Zeitaufwandes und hinsichtlich der Vergangenheit“ wies das Erstgericht ab. Die Klägerin habe grundsätzlich Anspruch auf medizinische Hauskrankenpflege für ihren Sohn gemäß § 151 Abs 1 ASVG. Im hier vorliegenden außergewöhnlichen Fall einer zeitlich ohne Unterbrechung notwendigen medizinischen Behandlung bzw qualifizierten Pflege eines Versicherten im häuslichen Bereich bestehe ein Anspruch auf Kostenerstattung nach Marktpreisen.
[6] Das Berufungsgericht verneinte eine von der Klägerin geltend gemachte Nichtigkeit des Urteils des Erstgerichts gemäß § 477 Abs 1 Z 9 ZPO. Im Übrigen gab es den Berufungen beider Parteien Folge, hob das Urteil des Erstgerichts auf und verwies die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurück. Beim Sohn der Klägerin liege ein regelwidriger Körperzustand im Sinn des § 120 ASVG vor, der eine Krankenbehandlung notwendig mache. Durch die beim Sohn der Klägerin durchgeführten Therapien könne eine Verschlechterung seines Zustands auf längere Zeit hintangehalten und überdies eine gewisse Verbesserung des Gesundheitszustands erreicht werden. Ein Anspruch auf Hauskrankenpflege bzw häusliche (Intensiv‑)Pflege für den Sohn der Klägerin könne daher nicht mit dem Argument ausgeschlossen werden, es liege bloß ein Gebrechen vor. Nach den bisher getroffenen Feststellungen könne jedoch noch nicht beurteilt werden, in welchem konkreten zeitlichen Ausmaß medizinische Hauskrankenpflege bzw häusliche (Intensiv‑)Pflege für den Sohn der Klägerin erforderlich sei. Das Erstgericht gehe nämlich einerseits davon aus, dass beim Sohn der Klägerin intensive Rund‑um‑die‑Uhr‑Pflege erforderlich sei, andererseits aber davon, dass ein Bedarf an medizinischer Hauskrankenpflege im Ausmaß von voraussichtlich acht Stunden pro Tag und acht Stunden pro Nacht bestehe. Es sei auch nicht klar, ob die erforderliche Überwachung des Sohnes der Klägerin durch 24 Stunden hindurch ausschließlich von medizinischem Fachpersonal geleistet werden könne. Um beurteilen zu können, ob die Klägerin einen Anspruch auf Kostenerstattung gemäß §§ 131, 131a ASVG, oder einen solchen auf Kostenzuschuss gemäß § 131b ASVG geltend machen könne, fehlten ausreichende Tatsachenfeststellungen. Das Verfahren sei daher ergänzungsbedürftig. Der Rekurs an den Obersten Gerichtshof sei zulässig, weil Rechtsprechung zur Frage fehle, ob die in der Entscheidung 10 ObS 103/19y entwickelten Grundsätze auch auf den Fall einer Hauskrankenpflege eines minderjährigen Kindes anwendbar seien.
[7] Gegen diese Entscheidung richtet sich der von der beklagten Österreichischen Gesundheitskasse beantwortete Rekurs der Klägerin, mit dem diese die Stattgebung ihres Klagebegehrens anstrebt.
Rechtliche Beurteilung
[8] Der Rekurs ist entgegen dem Zulassungsausspruch des Berufungsgerichts unzulässig.
[9] 1.1 Die Rekurswerberin macht geltend, dass aus den schon bisher getroffenen Feststellungen zweifelsfrei abzuleiten sei, dass beim Sohn der Klägerin wegen dessen Krankheitsbild die Notwendigkeit einer häuslichen Intensivpflege im Umfang von 24 Stunden pro Tag an allen Tagen bestehe, wobei die in diesem Zusammenhang erforderlichen Leistungen ausschließlich durch Angehörige des gehobenen Dienstes für Gesundheits‑ und Krankenpflege mit der Spezialisierung (Sonderausbildung) für Kinder‑ und Jugendintensivpflege zu erbringen seien.
[10] 1.2 Der Zweck eines Rekurses gemäß § 519 Abs 1 Z 2 ZPO besteht in der Überprüfung der Rechtsansicht des Berufungsgerichts durch den Obersten Gerichtshof (RIS‑Justiz RS0042179 [T17]). Ist die dem Aufhebungsbeschluss zugrunde liegende Rechtsansicht nicht zu beanstanden oder wird sie vom Rekurswerber nicht bekämpft, so kann der Oberste Gerichtshof nicht überprüfen, ob sich die vom Berufungsgericht angeordnete Ergänzung des Verfahrens oder der Feststellungen tatsächlich als notwendig erweist (RS0042179 [T22]).
[11] 1.3 Das Berufungsgericht vertritt die Rechtsansicht, dass beim Kläger kein Gebrechen, sondern eine Krankheit im Sinn des § 120 Z 1 ASVG vorliege, die eine Krankenbehandlung notwendig macht. Die Krankenversicherung gewährt aus dem Versicherungsfall der Krankheit (§ 116 Abs 1 Z 1 ASVG) die in § 117 Z 2 ASVG genannten Leistungen: Krankenbehandlung (§§ 133–137 ASVG), erforderlichenfalls medizinische Hauskrankenpflege (§ 151 ASVG) oder Anstaltspflege (§§ 144–150 ASVG). Damit übereinstimmend bejaht das Berufungsgericht grundsätzlich einen Anspruch der Klägerin aus der Krankenversicherung auf Leistungen der medizinischen Hauskrankenpflege oder der häuslichen Intensivpflege für ihren Sohn. Gegen diese Rechtsansicht wendet sich die Rekurswerberin nicht. Der Oberste Gerichtshof darf daher nicht überprüfen, ob sich die vom Berufungsgericht angeordnete Ergänzung des Verfahrens oder der Feststellungen tatsächlich als notwendig erweist.
[12] 2.1 Die Rekurswerberin macht geltend, dass es dem Berufungsgericht unter Berücksichtigung von § 496 Abs 3 ZPO und § 90 Abs 2 ASGG insbesondere durch Verlesung des Gutachtens der Sachverständigen aus dem Fachgebiet der Gesundheits‑ und Krankenpflege möglich gewesen wäre, sowohl das Erfordernis einer durchgehenden Betreuung des Sohnes der Klägerin für 24 Stunden an allen Tagen als auch die dafür zwingende Anwesenheit von Angehörigen des gehobenen Dienstes für Gesundheits‑ und Krankenpflege mit Spezialisierung Kinder‑ und Jugendlichenpflege sowie Intensivpflege (Kinderintensivpflege) festzustellen. Dies lasse sich aus den Feststellungen des Erstgerichts ableiten.
[13] 2.2 Die Zurückverweisung der Sache an das Erstgericht (statt das Verfahren in zweiter Instanz selbst zu ergänzen) kann zwar einen Verfahrensmangel begründen, wenn die Voraussetzungen dafür (etwa ein erheblicher Mehraufwand an Kosten oder Verfahrensverzögerungen) nicht vorliegen (RS0042125; RS0108072). Von einer unrichtigen Lösung einer Frage des Verfahrensrechts, die für die Rechtssicherheit von erheblicher Bedeutung ist, kann aber nur dann gesprochen werden, wenn eine Selbstergänzungspflicht nach der ratio des § 496 Abs 3 ZPO geradezu auf der Hand liegt, also eine gravierende Verkennung der Rechtslage vorliegt (8 Ob 145/06s; 4 Ob 123/16s). Eine solche liegt hier nicht vor, weil nicht nur der Sachverhalt mit den Parteien ergänzend zu erörtern sein wird (RS0042125 [T6]), sondern auch allfällig erforderliche Ergänzungen der Sachverständigengutachten nicht auszuschließen sind.
[14] 3.1 Die Rekurswerberin führt schließlich aus, dass die Pflege des Sohnes der Klägerin nicht als einfache medizinische Hauskrankenpflege erbracht werden könne. Vielmehr handle es sich dabei um Leistungen der intensivmedizinisch‑pflegerischen Betreuung. Diese seien nach einem objektiven Marktpreis zu ersetzen, sie seien nicht mit anderen Tarifpositionen der Satzung vergleichbar. Der in der Satzung der Beklagten vorgesehene Kostenzuschuss von gesamt 11,52 EUR pro Stunde entspreche weniger als einem Viertel des vom Erstgericht festgestellten angebotenen Stundensatzes und würde daher die für den Sohn der Klägerin erforderliche medizinische Hauskrankenpflege nicht ermöglichen. Die Beklagte habe nicht die notwendige Versorgungsstruktur zur Erbringung von intensivpflegerischen Leistungen im häuslichen Bereich geschaffen. Die im konkreten Fall erforderlichen Leistungen seien entgegen den Annahmen in der Entscheidung 10 ObS 103/19y weder nach dem Wiener Chancengleichheitsgesetz förderbare Maßnahmen noch seien sie vom Träger der Sozialhilfe sicherzustellen oder vorzuleisten.
[15] 3.2 Im Verfahren 10 ObS 103/19y war nicht strittig, dass der damalige Kläger Anspruch auf medizinische Hauskrankenpflege hatte. Es musste daher zur Frage, ob eine im häuslichen Bereich durchzuführende Intensivpflege, für die eigentlich die Unterbringung in einer Krankenanstalt erforderlich wäre, welche jedoch medizinisch kontraindiziert sei, als medizinische Hauskrankenpflege im Sinn des § 151 ASVG anzusehen sei, nicht Stellung genommen werden (Pkt 2.1 dieser Entscheidung). Das Berufungsgericht hat keineswegs ausgeführt, dass die in der Entscheidung 10 ObS 103/19y erarbeiteten Grundsätze auch auf den vorliegenden Fall anwendbar seien: es lässt dies vielmehr offen, wenn es ausdrücklich formuliert, dass die Feststellungen nicht ausreichen, um zu beurteilen, „in welchem konkreten zeitlichen Ausmaß Hauskrankenpflege bzw häusliche (Intensiv‑)Pflege“ für den Sohn der Klägerin erforderlich sei. Für die Beurteilung der Frage, ob (und in welchem Ausmaß) ein Kostenzuschuss nach der Satzung oder Kostenersatz nach objektiven Marktpreisen zu leisten wäre, fehlt es daher, worauf das Berufungsgericht hingewiesen hat, an den erforderlichen Feststellungen. Der Oberste Gerichtshof ist aber nicht verpflichtet, zu bloß unter Umständen möglichen, aber noch nicht feststellungsmäßig gesicherten Fallgestaltungen Stellung zu nehmen (RS0088931 [T3]).
[16] Der Rekurs war daher mangels Vorliegens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO als unzulässig zurückzuweisen (§ 526 Abs 2 ZPO).
[17] Die Entscheidung über die Kosten des Rekursverfahrens beruht auf § 77 ASGG. Abgesehen davon, dass die Beklagte gar nicht auf die Unzulässigkeit des Rekurses hingewiesen hat, hat der Versicherungsträger gemäß § 77 Abs 1 Z 1 ASGG die Kosten, die ihm durch das Verfahren erwachsen sind, ohne Rücksicht auf dessen Ausgang selbst zu tragen.
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