OGH 10ObS115/95(10ObS116/95)

OGH10ObS115/95(10ObS116/95)20.7.1995

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Ehmayr als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter aus dem Kreis der Arbeitgeber Dr.Pipin Henzl und Dr.Heinz Paul in den verbundenen Sozialrechtssachen der klagenden Partei Hubert M*****, vertreten durch Dr.Peter S.Borowan und Dr.Erich Roppatsch, Rechtsanwälte in Spittal an der Drau, wider die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der Bauern, 1031 Wien, Ghegastraße 1, wegen Versehrtenrente infolge Rekurses der klagenden Partei gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 16.März 1995, GZ 8 Rs 131/94-11, womit das Urteil des Landesgerichtes Klagenfurt als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 3.August 1994, GZ 32 Cgs 111/94v-7, aufgehoben wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluß wird dahin abgeändert, daß er zu lauten hat:

"Die Berufung wegen Nichtigkeit wird verworfen."

Die Beklagte hat dem Kläger binnen vierzehn Tagen die einschließlich 676,48 S Umsatzsteuer mit 4.058,88 S bestimmten Rekurskosten zu ersetzen.

Text

Begründung

Mit Bescheid des beklagten Sozialversicherungsanstalt der Bauern vom 15.11.1977 (Bescheid 1) erkannte diese dem Kläger für die Folgen seines Arbeitsunfalles vom 19.7.1977 (AU 1) (gefühlloser Spitzgriff, Teilamputation des linken Daumens, Nagelplattendeformierung des linken Zeigefingers) ab 20.9.1977 eine (vorläufige) Versehrtenrente von 30 vH der Vollrente zu, die mit Bescheid vom 23.11.1978 (Bescheid 2) ab 1.12.1978 als Dauerrente festgestellt wurde.

Mit Bescheid vom 6.2.1986 (Bescheid 3) stellte die Beklagte fest, daß dem Kläger vom 25.5. bis 31.10.1985 (Zeitraum der Rentenzuerkennung auf Grund des Unfalles vom 25.3.1985 (AU 2) zu seiner Rente eine Zusatzrente von 20 vH gebührte, weil er auf Grund der Arbeitsunfälle vom 19.7.1977 (AU 1) und vom 25.3.1985 (AU 2) mehr als 50 vH erwerbsgemindert war.

Mit rechtskräftigem Bescheid vom 13.2.1989 (Bescheid 4) erkannte die Beklagte dem Kläger für die Folgen des Arbeitsunfalles vom 20.9.1988 (AU 3) für die Zeit vom 20.11.1988 bis 31.8.1989 eine Gesamtvergütung auf der Basis einer vorläufigen Versehrtenrente von 20 vH zu. Mit einem weiteren Bescheid vom 13.2.1989 (Bescheid 4a) stellte die Beklagte fest, daß dem Kläger ab 20.11.1988 eine Zusatzrente von 20 vH gebührt, weil er auf Grund der Arbeitsunfälle vom 19.7.1977 (AU 1) und 20.9.1988 (AU 3) um 50 vH erwerbsgemindert sei. Diese Zusatzrente wurde mit Bescheid vom 21.8.1989 (Bescheid 5) mit Ablauf August 1989 entzogen.

Mit Bescheid vom 25.4.1994 (Bescheid 6) anerkannte die Beklagte den Unfall des Klägers vom 24.12.1993 (AU 4) als Arbeitsunfall, lehnte aber die Gewährung einer Versehrtenrente ab, weil eine über drei Monate nach Eintritt des Versicherungsfalles hinaus andauernde MdE um mindestens 20 vH nicht vorliege.

Mit einem weiteren Bescheid vom 25.4.1994 (Bescheid 7) entzog die Beklagte dem Kläger die für die Folgen des AU 1 mit Bescheid vom 23.11.1978 (Bescheid 2) festgestellte Dauerrente mit Ablauf Mai 1994 mit der Begründung, daß die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) auf ein Ausmaß gesunken sei, das keinen weiteren Anspruch auf Versehrtenrente begründe.

Durch die gegen die beiden letztgenannten Bescheide rechtzeitig erhobenen Klagen 32 Cgs 11/94v (Klage 1) und 32 Cgs 112/94s (Klage 2) trat der Bescheid 6 in seinem ablehnenden Teil, der Bescheid 7 zur Gänze außer Kraft (§ 71 Abs 1 ASGG). Die gegen den Bescheid 6 gerichtete Klage 1 stützt sich darauf, daß durch den AU 4 eine andauernde MdE von mindestens 20 vH eingetreten sei. In der gegen den Bescheid 7 erhobenen Klage 2 behauptet der Kläger, daß die (seinerzeit festgestellte) MdE (nach dem AU 1) nach wie vor vorliege.

Die Beklagte beantragte die Abweisung beider Klagebegehren. Gegen die Klage 1 wendete sie ein, daß der Kläger durch den AU 4 einer Ruptur des lateralen Meniskus im rechten Kniegelenk und eine Ruptur des vorderen Kreuzbeines erlitten habe. Die MdE aus diesem AU liege unter 10 vH. Die Klage 2 sei deshalb nicht begründet, weil sich der Gesundheitszustand des Klägers durch eine deutliche Anpassung so gebessert habe, daß die MdE nur mehr 10 vH betrage.

Die beiden Rechtsstreite wurden zur gemeinsamen Verhandlung verbunden (§ 187 ZPO).

In der Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung vom 3.8.1994 "modifizierte und dehnte" der Kläger "das" - bis dahin nicht ausdrücklich formulierte - Klagebegehren dahin aus, daß ihm die Beklagte für die Folgen der Arbeitsunfälle vom 19.7.1977 (AU 1), 20.9.1988 (AU 3) und 24.12.1993 (AU 4) ab 1.6.1994 eine Dauerrente von 35 vH der Vollrente zu gewähren habe. Dieser Prozeßerklärung ging die mündliche Ergänzung des schriftlichen Gutachtens des Sachverständigen für Orthopädie und orthopädische Chirurgie voraus. Dieser erklärte, daß der Kläger neben den "streitgegenständlichen" AU 1 und 4 noch den "nicht klagsgegenständlichen" AU 3 erlitten habe. Die MdE aus dem AU 1 betrage 10 vH. Zum AU 4 sei zu sagen, daß der AU 3 am selben Knie einen Schaden verursacht habe, auf den durch den AU 4 ein weiterer Schaden aufgepfropft worden sei. Aus dem AU 3 resultiere bei separater Betrachtung eine MdE von 20 vH, aus dem AU 4 - ebenfalls bei separater Betrachtung - eine solche von 5 vH, die zu den 20 vH hinzuzuzählen wären. Aus den AU 1, 3 und 4 ergebe sich daher insgesamt eine MdE von 30 bis 35 vH. Zwei weitere AU aus den Jahren 1985 "bzw 1984" seien folgenlos ausgeheilt. Ohne die Vorschädigung durch den AU 3 wäre der Kläger beim AU 4 wahrscheinlich nicht in der Form ausgerutscht. Hinsichtlich des Zustandes nach den AU 1, 3 und 4 sei mit keiner Besserung, jedoch mit einer Verschlechterung zu rechnen. Dieser Zustand liege mindestens seit April 1994 vor.

Die Beklagte gab zu der die Klagebegehren betreffenden Prozeßerklärung des Klägers keine Erklärung ab.

Das Erstgericht entschied die verbundenen Rechtsstreite durch ein gemeinsames Urteil (§ 404 Abs 2 leg cit). Damit erkannte es die Beklagte schuldig, dem Kläger ab 1.6.1994 für die Folgen der Arbeitsunfälle vom 19.7.1977, 20.9.1988 und 24.12.1993 eine Dauerrente im Ausmaß von 35 vH der Vollrente zu zahlen.

Es traf folgende Tatsachenfeststellungen.

Auf Grund des AU 1 ist das Hautgefühl am Endglied des linken Daumens an der Kuppe wegen einer teilweisen Amputation dieses Endgliedes nicht mehr vollständig vorhanden. Deshalb liegt eine MdE von 10 vH vor.

Der AU 3 führte zu einem Schienbeinbruch rechts und zu einem Riß des vorderen Kreuzbandes, weshalb der Kläger unter einer anterio-medialen Knieinstabilität rechts leidet. Dies bedingt eine MdE von 20 vH.

Durch den AU 4 erlitt der Kläger einen Riß des äußeren Meniskus des rechten Knies, der insbesondere auf die Kreuzbandrückbildung als Folge des AU 3 zurückzuführen ist und für sich allein betrachtet zu einer MdE von 5 vH führte.

Dieser Zustand liegt seit April 1994 vor; mit einer Verschlechterung ist zu rechnen.

Die festgestellte MdE von 35 vH übersteige das gesetzliche Mindestausmaß für eine Versehrtenrente.

In der Berufung machte die Beklagte nur Unzulässigkeit des Rechtsweges geltend; sie beantragte, das angefochtene Urteil als nichtig aufzuheben und die Klage, soweit sie sich auf den AU 3 beziehe, zurückzuweisen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung Folge und hob das angefochtene Urteil auf. Es wies die "Klage" im Umfang des geänderten Klagebegehrens auf Gewährung einer Dauerrente im Ausmaß von 35 vH der Vollrente ab 1.6.1994 für die Folgen der Arbeitsunfälle vom 19.7.1977, 20.9.1988 und 24.12.1993 zurück und verwies die "Rechtssache" im übrigen zur allfälligen Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurück. Den Rekurs an den Obersten Gerichtshof erklärte es für zulässig.

Das Berufungsgericht führte unter Bezugnahme auf die E des OGH 10 Ob S 277/94 aus, daß das Klagebegehren auch dann auf Gewährung einer Gesamtrente gerichtet sein könne, wenn der Versicherungsträger im angefochtenen Bescheid die Feststellung einer Gesamtrente unter Hinweis auf die noch nicht eingetretene Konsolidierung der Unfallsfolgen abgelehnt und nur für den neuen Unfall eine vorläufige Rente zuerkannt habe. Im vorliegenden Fall habe die Beklagte mit den angefochtenen Bescheiden über Versicherungsleistungen aus den AU 1 und 4 entschieden. Nach § 67 Abs 1 ASGG dürfe in einer Leistungssache nach § 65 Abs 1 Z 1 (leg cit) vom Versicherten eine Klage nur erhoben werden, wenn der Versicherungsträger darüber bereits mit Bescheid entschieden habe oder ein - hier nicht behaupteter - Fall von Säumnis vorliege. Die in der Tagsatzung vom 4.(richtig: 3.) 8.1994 vorgenommene Klageänderung wäre nur zulässig, wenn damit eine quantitative Änderung auf Grund desselben Versicherungsfalles, der den Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens bilde, bewirkt würde. § 209 Abs 2 ASVG räume dem Versicherungsträger das Ermessen ein, anstelle einer laufenden vorläufigen Versehrtenrente eine Gesamtvergütung zu gewähren. Ergehe - wie im vorliegenden Fall - bezogen auf den AU 3 ein Bescheid über die Gewährung einer Gesamtvergütung, so werde damit zugleich eine negative Entscheidung über den der Bemessung der Gesamtvergütung zugrundegelegten Zeitraum hinaus getroffen. Eine weitere Leistung aus dem Titel der Versehrtenrente könnte nur auf Antrag gewährt werden (SSV-NF 4/71 mwN). Ein solcher sei nicht gestellt worden, daher liege auch kein diesbezüglicher Bescheid vor. Deshalb sei die Einbeziehung des AU 3 unzulässig. Nur bei einer zulässigen Klageänderung hindere das Fehlen einer Sachentscheidung des Versicherungsträgers über den mit der Klageänderung geltend gemachten Sachverhalt bzw das diesbezügliche Begehren dessen Berücksichtigung nicht (SSV-NF 3/134; 7/127 mwN). Eine nach § 86 ASGG zulässige Änderung der Klage liege nicht vor, weil das neue Klagebegehren auf einem neuen Klagegrund beruhe, der nicht Gegenstand des Verfahrens vor dem Versicherungsträger gewesen und über den kein Bescheid erlassen worden sei. Insoweit liege eine unzulässige Klageänderung und Unzulässigkeit des Rechtsweges bezogen auf Versehrtenrentenleistungen aus dem AU 3 vor. Dies begründe Nichtigkeit gemäß § 477 Abs 1 Z 6 ZPO. Da die Berufungswerberin nur geltend gemacht habe, daß die Entscheidung im Umfang des geänderten Klagebegehrens unzulässig sei, müsse dem Erstgericht, das die Klageänderung schlüssig für zulässig erachtet habe, die Entscheidung über die ursprünglichen, nicht ausdrücklich fallengelassenen Begehren aufgetragen werden.

Der Kläger bekämpft den Beschluß des Berufungsgerichtes zur Gänze mit Rekurs. Er macht unrichtige rechtliche Beurteilung geltend und beantragt, den angefochtenen Beschluß aufzuheben und das erstgerichtliche Urteil wiederherzustellen, allenfalls die Sozialrechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs gegen den im Berufungsverfahren ergangenen Beschluß des Berufungsgerichtes ist nach § 519 Abs 1 Z 1 und 2 ZPO zulässig; er ist auch berechtigt.

Wird ein Versehrter neuerlich durch einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit geschädigt und beträgt die durch diese neuerliche Schädigung allein verursachte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) mindestens 10 vH, so ist die Entschädigung aus diesen mehreren Versicherungsfällen gemäß § 210 Abs 1 ASVG nach Maßgabe der Abs 2 bis 4 leg cit festzustellen, sofern die Gesamtminderung der Erwerbsfähigkeit 20 vH (..........) erreicht. Spätestens vom Beginn des dritten Jahres nach dem Eintritt des neuerlichen Versicherungsfalles an ist die Rente nach dem Grad der durch alle Versicherungsfälle verursachten MdE festzustellen. Eine abgefundene Versehrtenrente ist bei Bildung der Gesamtrente so zu berücksichtigen, daß diese um den Betrag gekürzt wird, der dem Grad der der abgefundenen Rente zugrundegelegten MdE entspricht (Abs 2). Solange die Gesamtrente nach Abs 2 nicht festgestellt ist, gebührt dem Versehrten unter den Voraussetzungen des Abs 1 eine Rente entsprechend dem Grade der durch die neuerliche Schädigung allein verursachten MdE (Abs 4).

Tomandl führt in seinem System des österreichischen Sozialversicherungsrechts 7.ErgLfg 337 zutreffend aus, durch die wiedergegebene gesetzliche Bestimmung würden neuerliche Arbeitsunfälle begünstigt. Sie würden nämlich bereits entschädigt, wenn sie für sich allein mindestens 10 % MdE herbeiführten, sofern die dann bestehende Gesamtminderung der Erwerbsfähigkeit wenigstens 20 % betrage. Zur Feststellung dieser Gesamtminderung seien sämtliche frühere Arbeitsunfälle heranzuziehen, wenn sie zu einer meßbaren MdE geführt hätten, gleichgültig, ob für sie schon Leistungen der UV erbracht worden seien; noch nicht berentete Vorunfälle könnten auch längere Zeit zurückliegen. Die Einschränkung, daß als andere Arbeitsunfälle auch solche in Betracht kämen, die eine MdE von weniger als 10 vH hinterließen, entspricht auch der Rsp des erkennenden Senates (SSV-NF 6/34). Nach dieser E sind alle Vorunfälle bei Bildung der Gesamtrente zu berücksichtigen, die für sich allein eine meßbare MdE bedingen. Dabei kann aber nicht grundsätzlich davon ausgegangen werden, daß Folgen eines Unfalls, die eine unter 10 vH liegende MdE bedingen, nicht meßbar seien.

Unter Bedachtnahme auf § 209 Abs 1 Satz 2 ASVG, nach dem die Versehrtenrente spätestens mit Ablauf des zweijährigen Zeitraumes (nach dem Eintritt des Versicherungsfalles) als Dauerrente festzustellen ist, legte der erkennende Senat in der E SSV-NF 3/24 § 210 Abs 2 Satz 1 leg cit, nach dem spätestens vom Beginn des dritten Jahres nach dem Eintritt des neuerlichen Versicherungsfalles an die (Gesamt-)Rente festzustellen ist, so aus, daß die Gesamtrente im Zeitpunkt der Dauerrentenfeststellung für den letzten Arbeitsunfall gebildet werden soll. Der gesetzliche Auftrag geht dahin, die Dauerrente tunlichst bald festzustellen, weshalb die Zweijahresfrist nicht als Regel, sondern als Grenzfall angesehen werden soll. Das gilt auch für die Gesamtrentenfeststellung (so auch Leitner, Probleme bei der Anwendung des § 210 ASVG SozSi 1961, 129 [135]; Tomandl aaO 338).

Aus der im § 210 Abs 2 Satz 1 ASVG gebrauchten Wortfolge, "die (Gesamt-)Rente (ist) nach dem Grad der durch alle Versicherungsfälle verursachten MdE festzustellen", hat der erkennende Senat in der E SSV-NF 2/114 abgeleitet, daß die Gesamtminderung der Erwerbsfähigkeit durch die mehreren Arbeitsunfälle zu berücksichtigen ist. Es ist daher nicht nur der Grad der Versehrtheit durch die einzelnen Verletzungen (Arbeitsunfälle) zu beurteilen und dann eine Addition vorzunehmen, sondern zu berücksichtigen, inwieweit sich die Unfallverletzungen in ihrer Gesamtheit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auswirken (so auch Tomandl aaO 338). Bei der Feststellung der Gesamtrente besteht keine Bindung an die Grundlagen der Berechnung der zuvor gewährten Einzelrenten durch die Versicherung (SSV-NF 2/114).

In der zu dem § 210 ASVG entsprechenden § 108 B-KUVG ergangenen E SSV-NF 3/128 sprach der Oberste Gerichtshof aus, daß das Gericht weder verpflichtet noch berechtigt ist, einen früheren Dienstunfall zum Gegenstand seiner Entscheidung zu machen und über eine Gesamtrente zu entscheiden, wenn der Kläger seine Klage nicht auch auf diesen Dienstunfall gestützt habe. Anders sei es im Fall der E SSV-NF 3/24 gewesen, in dem alle Arbeitsunfälle den Gegenstand der zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbundenen Verfahren bildeten. Der vom Oberlandesgericht Wien als damals letzter Instanz in Leistungsstreitsachen in den E SVSlg 21.676 und SSV 21/93 vertretenen Rechtsansicht, das Gericht müsse wegen der imperativen Anordnung des § 108 Abs 2 B-KUVG und des § 210 Abs 2 ASVG nach dem Grundsatz der sukzessiven Kompetenz ab Beginn des dritten Jahres eine Gesamtrente feststellen, konnte sich der Oberste Gerichtshof in der E SSV-NF 3/128 nicht anschließen. Trotz dieser "imperativen Anordnung" ist nicht anzunehmen, daß der Gesetzgeber die Grundsätze des Verfahrensrechtes, insbesondere des § 405 ZPO, wonach das Gericht nicht befugt ist, einer Partei etwas zuzusprechen, was nicht beantragt ist, für den Bereich der Unfallversicherung außer Kraft setzen wollte.

In der E SSV-NF 7/117 führte der erkennende Senat aus, daß die Entscheidung über die Gewährung einer Gesamtrente (auch dann) auf das Gericht übergeht, wenn der beklagte Versicherungsträger eine entsprechende Einwendung erhebt. Der Senat wiederholte auch seine schon in den E SSV-NF 3/24 und 128 vertretene Ansicht, daß der Umstand, daß der Versicherungsträger über die Bildung einer Gesamtrente nicht abgesprochen hat, der Entscheidung des Gerichtes über die Gesamtrente nicht entgegensteht. Das Gericht kann jedoch über eine Gesamtrente nur dann absprechen, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen hiefür erfüllt sind.

Aus diesen Ausführungen folgt für den vorliegenden Fall:

Nach dem AU 1, nach dem festgestelltermaßen noch eine MdE von 10 vH vorliegt, wurde der Kläger neuerlich durch die AU 2, 3 und 4 geschädigt. Während der AU 2 keine meßbaren Folgen hinterließ, beträgt die durch den AU 3 allein versachte MdE nach den erstgerichtlichen Feststellungen 20 vH, die durch den AU 4 allein verursachte MdE für sich allein 5 vH. Da die Gesamtminderung der Erwerbsfähigkeit 20 vH erreicht, ist nach § 210 Abs 1 ASVG die Entschädigung aus diesen Versicherungsfällen nach Maßgabe der Abs 2 bis 4 leg cit festzustellen.

Entgegen der von der Beklagten erstmals in der Berufung vertretenen, vom Berufungsgericht geteilten Rechtsansicht war die vom Kläger in der Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung vom 3.8.1994 erklärte Änderung der Klage, gegen die die Beklagte in erster Instanz keine Einwendung erhob, nach § 86 ASGG selbst ohne Zustimmung der Beklagten zulässig. Der Kläger durfte seine bisher nur auf die AU 1 und 4 gestützten, nicht ausdrücklich formulierten, jedoch erkennbar auf eine Versehrtenrente für die Folgen des AU 1 ab 1.6.1994 sowie auf Gewährung einer Versehrtenrente für die Folgen des AU 4 gerichteten Begehren im Hinblick auf § 210 ASVG auf die Gewährung einer (Gesamt)Dauerrente für die Folgen der AU 1, 3 und 4 ab 1.6.1994 ändern. Dadurch, daß er dieses Begehren auch auf den AU 3 stützte, der der Beklagten bereits bekannt war, bezog er sich auf keinen neuen Klagegrund iS der vom Berufungsgericht in der Begründung des angefochtenen Beschlusses herangezogenen Meinung Kudernas, ASGG § 86 Erl 4. Er brachte damit nur vor, daß infolge seiner neuerlichen Schädigung durch einen Arbeitsunfall (AU 4) die Entschädigung gemäß § 210 ASVG auch unter Berücksichtigung des AU 3 festzustellen sei. Auch das geänderte Klagebegehren stützt sich noch auf den Versicherungsfalls AU 4 und begehrt daraus eine Versehrtenrente. Diese ist allerdings nach § 210 ASVG aus mehreren, der Beklagten bereits während der mit den durch die Klagen außer Kraft getretenen Bescheiden beendeten Verfahren in Leistungssachen bekannten Versicherungsfällen, als Gesamtrente festzustellen.

Deshalb liegt hinsichtlich des geänderten Klagebegehrens die in der Berufung der Beklagten geltend gemachte und vom Berufungsgericht angenommene Unzulässigkeit des Rechtsweges nicht vor. Nach § 86 letzter Satz ASGG ist § 67 leg cit nicht anzuwenden, so daß es - im Gegensatz zur Ansicht des Berufungsgerichtes - unerheblich ist, daß der Versicherungsträger darüber, wie sich der AU 3 auf die Gesamtrente auswirkt, keinen Bescheid erlassen hat.

In Stattgebung des Rekurses des Klägers ist daher der Zurückweisungs- und Zurückverweisungsbeschluß des Berufungsgerichtes dahin abzuändern, daß die Berufung der Beklagten, in der lediglich das erstgerichtliche Urteil als nichtig angefochten wird (§ 471 Z 5, § 477 Abs 1 Z 6 ZPO), verworfen wird. Damit bleibt es beim erstgerichtlichen Urteil, gegen dessen inhaltliche Richtigkeit in der Berufung nichts eingewendet wurde.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a und Abs 2 ASGG.

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