OGH 10ObS277/94

OGH10ObS277/9419.12.1994

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr.Herbert Vesely und Ernst Viehberger (beide aus dem Kreis der Arbeitgeber) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Anton M*****, Landwirt, ***** vertreten durch Dr.Peter S.Borowan und Dr.Erich Roppatsch, Rechtsanwälte in Spittal/Drau, wider die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der Bauern, 1031 Wien, Ghegastraße 1, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Versehrtenrente (Gesamtrente), infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssache vom 29.September 1994, GZ 7 Rs 69/94-11, womit das Urteil des Landesgerichtes Klagenfurt als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 2.März 1994, GZ 32 Cgs 290/93s-7, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil, das im Umfang der Abweisung des Hauptbegehrens unberührt bleibt, wird im übrigen, also hinsichtlich der Abweisung des Eventualbegehrens auf Gewährung einer Gesamtrente von 35 v.H. ab 22.9.1993 aufgehoben. Ebenso wird das Urteil des Erstgerichtes aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten erster Instanz.

Text

Begründung

Wegen der Folgen eines Arbeitsunfalles vom 9.12.1991 erhielt der Kläger bis zum 31.3.1992 eine Versehrtenrente von 40 v.H. der Vollrente und für die Zeit vom 1.4. bis 30.9.1992 eine solche von 20 v. H. Ab 1.10.1992 wurde die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit auf 15 v.H. eingestuft und daher keine Rente mehr gewährt. Am 6.2.1993 erlitt der Kläger bei einem weiteren Arbeitsunfall einen schultergelenksnahen Oberarmbruch links sowie eine Rißquetschwunde am Mittelgelenk des Mittelfingers rechts. Der Bruch wurde operativ mit einem Marknagel versorgt. Wegen der Folgen dieses zweiten Unfalles wurde dem Kläger mit den Bescheiden vom 17.6. und 17.8.1993 eine Versehrtenrente von 30 v.H. für die Zeit vom 6.4. bis 30.9.1993 und von 20 v.H. ab 1.10.1993 als vorläufige Rente zuerkannt. Am 17.9.1993 stellte der Kläger bei der beklagten Sozialversicherungsanstalt der Bauern den Antrag, gemäß § 210 ASVG unverzüglich eine Gesamtrentenfeststellung vorzunehmen; sollte dies aus welchen Gründen immer nicht möglich sein, so werde hilfsweise beantragt, bescheidmäßig festzustellen, daß dem Kläger neben der 20 %igen Versehrtenrente für die Folgen des Ereignisses vom 6.2.1993 auch eine 15 %ige Versehrtenrente für die Folgen des Unfalls vom 9.12.1991 bis zum Zeitpunkt der Gesamtrentenfeststellung auszuzahlen sei. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 4.11.1993 die Weitergewährung der Versehrtenrente wegen der Folgen des Arbeitsunfalles vom 9.12.1991 über den 30.9.1992 hinaus ab.

Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger fristgerecht Klage mit dem Begehren auf Gewährung einer Versehrtenrente in der Höhe von 45 v.H. der Vollrente vom 6.4. bis 30.9.1993 und von 35 v.H. der Vollrente ab 1.10.1993. In seinem Eventualbegehren beantragte er, die Beklagte schuldig zu erkennen, ihm ab dem Antrag der Gesamtrentenfeststellung vom 22.9.1993 eine Versehrtenrente von 35 v.H. der Vollrente gemäß § 210 ASVG als Dauerrente zu gewähren, nämlich für die Folgen der Arbeitsunfälle vom 9.12.1991 und 6.2.1993. Aufgrund des neuerlichen Versicherungsfalles stehe dem Kläger ab 6.4.1993, zumindest aber ab Antragstellung eine Gesamtrente unter Einbeziehung der 15 %igen Erwerbsminderung aus dem ersten Unfall zu.

Die Beklagte beantragte die Abweisung des Haupt- und des Eventualbegehrens. Eine Gesamtrente sei erst zwei Jahre nach dem letzten Versicherungsfall zu bilden, weil eine Konsolidierung der Unfallsfolgen nach dem zweiten Unfall noch nicht eingetreten sei. Das Gesetz räume dem Versicherungsträger für diesen Fall die Möglichkeit der Gewährung einer vorläufigen Rente ein, deren Grundlage nur die aus dem letzten Versicherungsfall herrührende Erwerbsminderung bilde. Ein Vorunfall, der keine Minderung der Erwerbsfähigkeit von (wenigstens) 20 v.H. ergebe, müsse bis zur Gesamtrentenbildung unberücksichtigt bleiben.

Das Erstgericht gab dem Eventualbegehren Folge und erkannte die Beklagte schuldig, dem Kläger ab 22.9.1993 eine Gesamtrente in Höhe von 35 v.H. der Vollrente für die Folgen der beiden genannten Arbeitsunfälle im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren. Einen ziffernmäßigen Zuspruch oder die Auferlegung einer vorläufigen Zahlung enthält das Urteil des Erstgerichtes ebensowenig wie die Abweisung des Hauptbegehrens. Es erachtete das Begehren auf Gesamtrentenbildung als gerechtfertigt und sprach dem Kläger die Versehrtenrente auf der Grundlage der ermittelten Minderung der Erwerbsfähigkeit aus beiden Unfällen von 35 v.H. ab Antragstellung zu. Aufgrund der Überlagerung der Beschwerden sei die Gesamteinschätzung mit 35 v.H. vorzunehmen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten Folge und änderte das erstgerichtliche Urteil dahin ab, daß es sowohl das Haupt- wie auch das Eventualbegehren abwies. Die Nichterledigung des Hauptbegehrens sei im Berufungsverfahren von keiner der Parteien aufgegriffen worden, weshalb davon auszugehen sei, daß das nichterledigte Teilbegehren aus dem Verfahren ausgeschieden sei. Das Gesetz kenne nur einen einzigen Begriff der Versehrtenrente; diese Rente sei unter den in § 209 Abs 1 ASVG bezeichneten Voraussetzungen als vorläufige Rente, sonst als Dauerrente und entsprechend den Bestimmungen des § 210 Abs 2 ASVG als Gesamtrente festzustellen. Die Feststellung der Gesamtrente müsse spätestens zu Beginn des dritten Jahres nach dem letzten einbezogenen Unfall erfolgen. Der Zweck dieser dem § 209 Abs 1 zweiter Satz ASVG vergleichbaren Bestimmung liege darin, daß bis dahin eine gewisse Konsolidierung der Unfallfolgen erfolgt und die Versehrtenrente sich der Höhe nach möglichst elastisch den sich ergebenden Veränderungen des Gesundheitszustandes anpassen können solle. Es hänge somit von der Art und Absehbarkeit der Verletzungsfolgen des letzten Unfalles ab, ob dem Kläger vor Ablauf der Zweijahresfrist eine Gesamtrente zustehe. Keinesfalls werde nur durch eine entsprechende Antragstellung ein Anspruch des Versicherten auf Gesamtrentenbildung innerhalb dieser Zweijahresfrist ausgelöst. Es bedürfe keiner Erörterung, daß ein operativ mit einer Marknagelung versorgter schulternaher Oberarmbruch weder nach zwei Monaten (Hauptbegehren) noch nach sieben Monaten (Eventualbegehren) vor Entfernung des Marknagels soweit konsolidiert sei, daß über die Unfallsfolgen abschließend im Rahmen einer Dauerrentenfeststellung entschieden werden könnte. Der Kläger habe auch eine solche Konsolidierung nicht behauptet, weshalb das gegenteilige Vorbringen der Beklagten als unbestritten anzusehen sei. Die Beklagte sei daher nicht verhalten gewesen, bis zum Schluß der Verhandlung erster Instanz die Gesamtrentenbildung vorzunehmen. Nach § 210 ASVG könnten aber die Verletzungsfolgen des Vorunfalles vom 9.12.1991 nur im Rahmen der Gesamtrentenbildung Berücksichtigung finden, nicht aber während der Zeit einer zulässigerweise gemäß § 209 Abs 1 ASVG für die Folgen des letzten Unfalles gewährten vorläufigen Rente.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers insoweit, als sein Eventualbegehren auf Gewährung der Gesamtrente ab 22.9.1993 abgewiesen wurde. Er beantragt die Abänderung dahin, daß das dem Eventualbegehren stattgebende Urteil des Erstgerichtes wieder hergestellt werde.

Die Beklagte erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Sinne des im Abänderungsantrag enthaltenen Aufhebungsantrages berechtigt.

Gemäß § 210 Abs 1 ASVG ist dann, wenn ein Versehrter neuerlich durch einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit geschädigt wird und die durch diese neuerliche Schädigung allein verursachte Minderung der Erwerbsfähigkeit mindestens 10 v.H. beträgt, die Entschädigung aus diesen mehreren Versicherungsfällen nach Maßgabe der Abs 2 bis 4 festzustellen, sofern die Gesamtminderung der Erwerbsfähigkeit 20 v. H. erreicht. § 210 Abs 2 ordnet an, daß spätestens vom Beginn des dritten Jahres nach dem Eintritt des neuerlichen Versicherungsfalles an die Rente nach dem Grad der durch alle Versicherungsfälle verursachten Minderung der Erwerbsfähigkeit festzustellen ist. Nach § 210 Abs 4 ASVG gebührt dem Versehrten unter den Voraussetzungen des Abs 1, solange die Gesamtrente nach Abs 2 nicht festgestellt ist, eine Rente entsprechend dem Grade der durch die neuerliche Schädigung allein veursachten Minderung der Erwerbsfähigkeit. Der Bestimmung des § 210 Abs 4 ASVG liegt ein dem § 209 Abs 1 ASVG vergleichbarer Zweck zugrunde: Der Zeitraum von zwei Jahren, während dem eine vorläufige Rente gewährt werden kann bzw die Rente aufgrund des neuerlichen Unfalles gesondert zu gewähren ist, dient dazu, die Konsolidierung der Unfallfolgen abzuwarten. Die Entscheidung über die endgültige Rentenleistung soll erst erfolgen, wenn die Folgen des Unfalls in ihren dauernden Auswirkungen endgültig abschätzbar sind. Dann soll die Dauerrente bzw die Gesamtrente festgesetzt werden (SSV-NF 7/117 zum vergleichbaren § 108 Abs 1 B-KUVG). Für diese Entscheidung hat der Gesetzgeber in beiden Fällen eine Frist von zwei Jahren gesetzt. Der Senat hat dazu ausgesprochen, daß dann, wenn der Versicherungsträger die zwingende gesetzliche Vorschrift des § 209 Abs 1 ASVG nicht eingehalten hat, die vorläufige Rente mit der Rechtsfolge des § 183 Abs 2 ASVG hinsichtlich der Neufeststellung in die Funktion der Dauerrente tritt (SSV-NF 6/76). Die vorläufige Rente sei für den Versicherten gegenüber der Gewährung der Dauerrente die ungünstigere Lösung, weil erst durch die Dauerrente die Rechtslage endgültig festgelegt werde und erst dann eine Änderung der Rentenleistung nur mehr bei Änderung der Verhältnisse möglich sei. Eine Entscheidung des Versicherungsträgers über die Dauerrente nach Ablauf der Zweijahresfrist ohne Bindung an die Grundlagen für die Gewährung der vorläufigen Rente sei daher ausgeschlossen. Dem ist der Fall der Gewährung einer Gesamtrente vergleichbar: Auch hier ordnet das Gesetz an, daß spätestens vom Beginn des dritten Jahres an die Rente als Gesamtrente zu gewähren ist. Kein Zweifel besteht daran, daß es sich bei der Gesamtrente immer um eine Dauerrente handeln muß. Nur innerhalb des Zeitraumes von zwei Jahren kommt der Gewährung der gesonderten Renten für die einzelnen Unfälle insofern provisorischer Charakter zu, als durch die Bildung der Gesamtrente in diese Leistungsansprüche eingegriffen werden darf; nach Ablauf von zwei Jahren soll hingegen die Rechtsposition des Versehrten eine gesicherte sein. So wie aus der Diktion des § 209 Abs 1 ASVG klar hervorgeht, daß die Dauerrente tunlichst bald festzustellen ist und die Zweijahresfrist nicht als Regel, sondern als Grenzfall angesehen werden kann (SSV-NF 6/76 mwN), ist auch die Gesamtrentenbildung nicht erst nach Ablauf von zwei Jahren, sondern bereits dann vorzunehmen, wenn die Entwicklung der Folgen der Arbeitsunfälle absehbar ist, also eine gewisse Konsolidierung der Unfallfolgen eingetreten ist. Auch die Gesamtrente ist sobald wie möglich festzustellen, weil auch die Zweijahresfrist des § 210 Abs 2 ASVG nicht als Regel, sondern als Grenzfall angesehen werden muß. Das Klagebegehren kann auch dann auf Gewährung einer Gesamtrente gerichtet sein, wenn der Versicherungsträger im angefochtenen Bescheid die Feststellung einer Gesamtrente unter Hinweis auf die noch nicht eingetretene Konsolidierung der Unfallsfolgen abgelehnt und nur für den neuen Unfall eine vorläufige Rente zuerkannt hat (vgl SSV-NF 1/5).

Geht man von diesen Rechtsgrundsätzen aus, dann ist die Sozialrechtssache nicht spruchreif, weil nicht feststeht, ob die Voraussetzungen für die Festsetzung einer Gesamtrente erfüllt sind, insbesondere, ob die Entwicklung der Folgen des Arbeitsunfalles absehbar sind, ob also eine Konsolidierung der Unfallfolgen eingetreten ist. Der Auffassung des Berufungsgerichtes, diese Frage bedürfe keiner Erörterung, ist ebenso verfehlt wie die Meinung, der Kläger habe in erster Instanz eine die Gesamtrentenbildung rechtfertigende Konsolidierung der Unfallsfolgen nicht behauptet:

Bereits in der Klage brachte er vor, daß die beklagte Anstalt ihrer Verpflichtung zur Gesamtrentenfeststellung nicht nachgekommen sei, obwohl die Dauerschäden bereits eindeutig feststünden. Die erstgerichtlichen Feststellungen, wonach der Kläger aufgrund des ersten Arbeitsunfalles eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 10 v. H. und aufgrund des weiteren Unfalls eine solche von 30 v.H. erlitten hat und die Gesamteinschätzung aufgrund der Überlagerung der Beschwerden mit 35 v.H. gegeben sei, reicht nicht aus, um die gesetzlichen Voraussetzungen für die Gesamtrentenbildung prüfen zu können. Insoweit waren daher die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Sache, weil es offenbar einer Verhandlung in erster Instanz bedarf, an das Erstgericht zurückzuverweisen. Was das Hauptbegehren betrifft, so wurde es ungeachtet der Auffassung des Berufungsgerichtes, es sei aus dem Verfahren ausgeschieden, mit dem Urteil der 2.Instanz ausdrücklich abgewiesen. Diese Abweisung ist aber im Revisionsverfahren unbekämpft geblieben, weil, wie oben dargestellt, der Kläger dieses Urteil ausschließlich im Umfang der Abweisung des Eventualbegehrens bekämpfte. Da der Revisionswerber die Gesamtrente ausdrücklich erst ab 22.9.1993 begehrt, braucht auch nicht erörtert zu werden, ob er bereits am 17.9.1993 einen Antrag gestellt habe.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG.

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