European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E130664
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Pflegschaftssache wird zur neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Begründung:
[1] Nach dem Akteninhalt sind die Kinder Staatsangehörige der Russischen Föderation. Die Eltern sind in der Russischen Föderation (Autonome Republik Tschetschenien) geboren, die Kinder in Österreich.
[2] Dem Vater wurde im Jahr 2005 der Status eines Asylberechtigten zuerkannt. Er lebt jetzt allerdings in der Russischen Föderation, die Adresse ist unbekannt. Auch der Mutter wurde im Jahr 2005 der Status einer Asylberechtigten zuerkannt. Den Kindern wurde in den Jahren 2012 und 2014 gemäß § 34 Abs 2 AsylG ebenfalls der Status von Asylberechtigten zuerkannt. Die Kinder und die Mutter besitzen diesen Status noch immer. Die Kinder verfügen über Konventionsreisepässe, die am 16. 5. 2017 ausgestellt wurden und bis 15. 5. 2022 gültig sind.
[3] Der Vater der Kinder ist aufgrund des Beschlusses des Erstgerichts vom 29. 8. 2019 (ON 49) verpflichtet, ab 1. 12. 2018 einen Unterhaltsbeitrag von 55 EUR pro Monat an M* und von 45 EUR pro Monat an A* zu zahlen.
[4] Die Kinder beantragten am 16. 12. 2019 die Zuerkennung von Unterhaltsvorschüssen nach §§ 3, 4 Z 1 UVG in Höhe von 55 EUR pro Monat (M*, ON 57) und von 45 EUR pro Monat (A*, ON 58).
[5] Mit Beschlüssen vom 12. 5. 2020 (ON 66 und 67) bewilligte das Erstgericht die beantragten Unterhaltsvorschüsse. Der Vater habe den laufenden Unterhaltsbeitrag nicht zur Gänze geleistet, eine Exekutionsführung erscheine aussichtslos, weil er in der Russischen Föderation an unbekannter Adresse lebe. Die Kinder besäßen nach wie vor Flüchtlingseigenschaft, weil sie um ihr Leben fürchten müssten, kehrten sie in die Russische Föderation zurück. Sie wüssten auch nicht, wo sie hin sollten, sämtlicher Kontakt zu den väterlichen Verwandten sei abgebrochen.
[6] Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Bundes nicht Folge. Die Kinder hätten belegt, dass der Vater im Jahr 2014 noch Asylstatus genossen habe, sie verfügten über erst 2017 ausgestellte und nach wie vor gültige Konventionsreisepässe. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl habe – wenn auch erst nach Fassung des Beschlusses des Erstgerichts – die Auskunft erteilt, dass die Kinder nach wie vor Flüchtlingsstatus besäßen. Dies reiche für die Vorschussgewährung aus, weitere Erhebungen seien nicht erforderlich. Den Revisionsrekurs ließ das Rekursgericht nachträglich zu, weil seine Rechtsansicht, das Vorhandensein von rezenten Konventionsreisepässen genüge nicht für die Bejahung der Flüchtlingseigenschaft der Kinder, im Interesse der Rechtssicherheit zu prüfen sei.
[7] Dagegen richtet sich der Revisionsrekurs des Bundes mit dem Antrag, die Unterhaltsvorschussanträge abzuweisen; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt. Es wurden keine Rechtsmittelbeantwortungen erstattet.
[8] Der Revisionsrekurs ist zulässig und im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
[9] Der Bund führt im Revisionsrekurs aus, dass die Flüchtlingseigenschaft der Kinder vom Gericht im Hinblick auf die seit der Asylgewährung an die Eltern verstrichene Zeit selbständig zu prüfen sei. Dabei wäre insbesondere zu berücksichtigen gewesen, dass sich drei weitere Kinder der Mutter mittlerweile wieder in der Russischen Föderation aufhalten. Dem kommt Berechtigung zu:
[10] 1. Der Oberste Gerichtshof hat sich mit den hier zu beurteilenden Rechtsfragen erst jüngst (wiederum) in der Entscheidung vom 13. 10. 2020, 10 Ob 30/20i, mit ausführlicher Begründung auseinandergesetzt. Diese ist zusammengefasst wie folgt darzustellen:
[11] 2.1 Flüchtlinge sind nach der Genfer Flüchtlingskonvention (BGBl 1955/55, GFK) und dem Flüchtlingsprotokoll (BGBl 1974/78) österreichischen Staatsbürgern im Sinn des § 2 Abs 1 UVG gleichgestellt und haben demnach Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse (10 Ob 22/18k mwN).
[12] 2.2 Die Flüchtlingseigenschaft ist nicht vom Vorliegen der Feststellung durch eine Behörde abhängig. Sie ist materieller Natur und ergibt sich aus Art 1 A Z 2 GFK, wonach Flüchtling ist, wer sich „aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb ihres Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen“.
[13] 2.3 Sowohl die Feststellung einer Behörde, dass einem Fremden Flüchtlingseigenschaft zukommt (etwa verbunden mit der Zuerkennung des Status als Asylberechtigter, § 3 Abs 5 AsylG 2005), als auch die Feststellung einer Behörde, dass einem Fremden die Flüchtlingseigenschaft nicht mehr zukommt (etwa in Fällen der Aberkennung des Asyls, § 7 Abs 4 AsylG 2005) hat nur deklarativen Charakter.
[14] 2.4 Eine der Voraussetzungen für die Flüchtlingseigenschaft im Sinne von Art 1 A GFK ist das Bestehen eines Kausalzusammenhangs zwischen den Gründen der Verfolgung, nämlich Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, und den Verfolgungshandlungen oder dem fehlenden Schutz vor solchen Handlungen. Es bedarf daher einer individuellen Prüfung der Flüchtlingseigenschaft, deren Ziel es ist, festzustellen, ob unter Berücksichtigung der persönlichen Umstände des Antragstellers die Voraussetzungen für eine solche Zuerkennung vorliegen.
[15] 2.5 Es sind konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zur Frage zu treffen, ob einer Person Flüchtlingseigenschaft zukommt. Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention im Zeitpunkt der Entscheidung an. Dem Antragsteller muss, um den Status des Asylberechtigten zu erhalten, bei Rückkehr in seinen Herkunftsstaat Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohen. Die entfernte Möglichkeit der Verfolgung genügt nicht.
[16] 3.1 Im gerichtlichen Verfahren nach dem UVG über die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen hat das Gericht die Flüchtlingseigenschaft jeweils selbständig als Vorfrage zu prüfen (RS0110397; RS0037183).
[17] 3.2 Gemäß § 10 UVG hat das Gericht über die Gewährung von Vorschüssen im Verfahren außer Streitsachen zu entscheiden. § 11 Abs 2 UVG bezweckt zwar, dass das Verfahren rasch und ohne weitwändige Ermittlungen abzuwickeln ist. Dennoch gilt grundsätzlich der Untersuchungsgrundsatz des § 16 AußStrG. Das Gericht hat daher vor Antragsabweisung zu versuchen, Unklarheiten aufzuklären und auf eine Substantiierung des Vorbringens zu den Anspruchsvoraussetzungen hinzuwirken. Diese Aufklärungs‑ und Anleitungspflicht trifft auch das Rechtsmittelgericht, sie besteht auch gegenüber dem Träger der Kinder‑ und Jugendhilfe.
[18] 3.3 Gemäß § 11 Abs 2 UVG hat der Antragsteller die Voraussetzungen für die Gewährung von Vorschüssen in erster Linie auf Grund der Pflegschaftsakten, durch Urkunden oder sonst auf einfache Weise nachzuweisen. (Nur) Sofern dies nicht einfach möglich ist – also nur subsidiär –, können die Anspruchsvoraussetzungen gemäß § 11 Abs 2 UVG durch eine der Wahrheit entsprechende Erklärung des Vertreters glaubhaft gemacht werden. Daher muss in einem Fall wie im vorliegenden das Kind bereits im Antrag darlegen und entsprechende Beweismittel anbieten, aus denen sich die von ihm als Anspruchsvoraussetzung des Bestehens seiner Flüchtlingseigenschaft ergibt (zB die Verfolgung eines Elternteils durch den russischen Sicherheitsdienst infolge eines Engagements für den tschetschenischen Widerstand, 10 Ob 3/18s).
[19] 3.4 Die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft im Verwaltungsverfahren kann daher – ebenso wie die darauf beruhende Ausstellung eines Konventionsreisepasses – nicht mehr als Indizwirkung für die Beurteilung der Vorfrage der Flüchtlingseigenschaft entfalten. Insbesondere dann, wenn die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft der Eltern – und von dieser abgeleitet auch jene der Kinder – wie hier bereits mehrere Jahre zurückliegt, muss das Gericht die Flüchtlingseigenschaft auch dann selbständig prüfen, wenn – wie im vorliegenden Fall – die Verwaltungsbehörde die Auskunft erteilt, dass der Status als Asylberechtigter nach wie vor aufrecht und/oder ein Konventionsreisepass ausgestellt worden sei.
[20] 4.1 Hier haben die Kinder in ihren Anträgen behauptet, sie müssten bei der Rückkehr in ihr Land um ihr Leben fürchten. Sämtlicher Kontakt zu den väterlichen Verwandten in der Russischen Föderation sei abgebrochen.
[21] 4.2 Diese Behauptungen hat das Erstgericht seinen Entscheidungen zugrunde gelegt. Eine individuell, bezogen auf die konkrete Situation der Kinder vorgenommene Prüfung der Frage, ob deren Flüchtlingseigenschaft (nach wie vor) besteht, hat das Erstgericht bisher – ausgehend von der ihm bereits im ersten Rechtsgang überbundenen Rechtsansicht des Rekursgerichts, wonach das Vorliegen von rezenten Konventionsreisepässen ausreiche, um die Flüchtlingseigenschaft zu begründen – nicht vorgenommen. Darauf hat der Bund bereits in seinem Rekurs gegen die Bewilligungsbeschlüsse hingewiesen. Eine individuelle Prüfung durch das Gericht wäre aber im konkreten Fall schon aufgrund des Umstands, dass die Zuerkennung des Asylstatus an die Eltern der Kinder bereits im Jahr 2005 erfolgte, erforderlich gewesen. Darüber hinaus hat der Bund im Rechtsmittelverfahren auf die Angaben der Mutter (ON 24) hingewiesen, dass drei ältere Geschwister der antragstellenden Kinder seit dem 11. 12. 2018 (ON 41) nicht mehr bei ihr lebten, sondern in die Russische Föderation zurückgekehrt seien, wo sie bei den Schwiegereltern der Mutter (den väterlichen Großeltern) lebten (die Mutter gibt deren Adresse in der Autonomen Republik Tschetschenien an). Die Mutter wolle zwar, dass diese Kinder zu ihr zurückkämen, dies wollten allerdings die Kinder nicht.
[22] 5.1 Dies macht die Aufhebung der angefochtenen Beschlüsse und die Zurückverweisung der Rechtssache an das Erstgericht erforderlich.
[23] 5.2 Das Erstgericht wird im fortzusetzenden Verfahren zu prüfen haben, ob die Flüchtlingseigenschaft der antragstellenden Kinder zum Zeitpunkt seiner Entscheidung über die Gewährung von Vorschüssen (noch) besteht. Es kommt wie ausgeführt darauf an, ob die antragstellenden Kinder aus konkreten, sie betreffenden Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung befürchten müssen, bei einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat (die Russische Föderation) verfolgt zu werden und ob sie wegen dieser Furcht nicht in der Lage oder nicht gewillt sind, sich des Schutzes dieses Staates zu bedienen.
[24] 5.3 Dazu geeignete Mittel sind beispielsweise (s § 31 Abs 1 AußStrG) Urkunden, die die von den Antragstellern behaupteten Fluchtgründe – insbesondere in der Regel auch des Elternteils, in dessen Pflege und Erziehung sich die Kinder befinden (vgl §§ 13 Abs 1 Z 2, 14 UVG) – konkret betreffen. Zielführend kann aber beispielsweise auch die Einvernahme der Eltern (hier insbesondere der Mutter) oder allfälliger Zeugen durch das Gericht (§§ 31, 35 AußStrG) zu den konkreten Fluchtgründen sein, die sie an der Rückkehr in die Russische Föderation hindern. Wie ausgeführt muss den antragstellenden Kindern bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohen. Die entfernte Möglichkeit zur Verfolgung genügt nicht.
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