OGH 10Ob41/18d

OGH10Ob41/18d13.9.2018

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden und die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann, den Hofrat Mag. Ziegelbauer und die Hofrätin Dr. Faber als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj Am*, geboren * 2006, des mj Y*, geboren * 2007 und des mj Ad*, geboren * 2010, alle vertreten durch das Land Oberösterreich als Kinder- und Jugendhilfeträger (Magistrat der Landeshauptstadt Linz, Soziales, Jugend und Familie, 4040 Linz, Hauptstraße 1–5), wegen Weitergewährung von Unterhaltsvorschüssen, über den Revisionsrekurs des Bundes, vertreten durch die Präsidentin des Oberlandesgerichts Linz, gegen den Beschluss des Landesgerichts Linz als Rekursgericht vom 17. Jänner 2018, GZ 15 R 543/17d, 15 R 544/17a und 15 R 545/17y‑43, womit die Beschlüsse des Bezirksgerichts Linz vom 25. Oktober 2017, GZ 36 Pu 123/11f‑33, ‑34 und ‑35, bestätigt wurden, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2018:E123597

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidung des Rekursgerichts wird aufgehoben.

Die Pflegschaftssache wird zur neuerlichen Entscheidung an das Rekursgericht zurückverwiesen.

 

Begründung:

Die in Österreich geborenen Kinder Am*, Y* und Ad* sind Staatsangehörige der Russischen Föderation und gehören der tschetschenischen Volksgruppe an. Sie leben bei ihrer Mutter in Österreich; diese ist seit 2002 in Österreich.

Mit Bescheiden des Bundesasylamts aus den Jahren 2006 (Am*), 2007 (Y*) und 2010 (Ad*) war ihnen jeweils der Status als Asylberechtigter zuerkannt und gemäß § 3 Abs 5 AsylG festgestellt worden, dass ihnen kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme.

Die Kinder beantragten am 3. Mai 2017 die Weitergewährung der ihnen im Jahr 2012 bis 31. Mai 2017 gewährten Unterhaltsvorschüsse. Nach Aufhebung der im ersten Rechtsgang ergangenen stattgebenden Entscheidung des Erstgerichts brachte ihre Mutter im Rahmen ihrer Einvernahme zusammengefasst vor, die Flüchtlingseigenschaft bestehe weiterhin. Die Verhältnisse in Tschetschenien hätten sich seit der Erstgewährung nicht verbessert. Als alleinstehende (geschiedene) Frau ohne Möglichkeit zu Familienanschluss müssten sie und die Kinder in Tschetschenien in ständiger Furcht vor Gewalt leben.

Das Erstgericht gab (auch im zweiten Rechtsgang) den Anträgen aller drei Kinder auf Weitergewährung von Unterhaltsvorschüssen gemäß den §§ 3, 4 Z 1 UVG von monatlich jeweils 130 EUR für die Zeit von 1. 6. 2017 bis 31. 5. 2022 statt.

Es traf – in Entsprechung des im ersten Rechtsgang vom Rekursgericht erteilten Auftrags – Feststellungen zu der für die Kinder und ihre Mutter aktuell bestehenden Situation in ihrem Heimatland, um auf dieser Sachverhaltsgrundlage das Fortbestehen der Flüchtlingseigenschaft beurteilen zu können.

Daraus sind folgende Feststellungen hervorzuheben:

Die Volksgruppe der Tschetschenen stellt in der Russischen Föderation eine Minderheit dar. Fremdenfeindliche und rassistische Ressentiments in der Bevölkerung und in den Behörden sind weit verbreitet. Entfernte Verwandte der Mutter, die in Grosny leben, berichten, dass sie von Gewalt bedroht sind und verfolgt werden. Als alleinstehende Frau, die sich niemandem anschließen kann, wäre die Mutter völlig schutzlos. Sie hätte mit ihren Kindern in Tschetschenien keine Wohnmöglichkeit, müsste auf der Straße leben, hätte keine Gesundheitsversorgung und keine Möglichkeiten zur medizinischen Behandlung. Insbesondere alleinstehende geschiedene Frauen sind von Gewalt bedroht, werden belästigt und drangsaliert. Die Mutter und ihre Kinder würden in der ständigen Furcht vor Gewalt leben müssen. Zwar verbessert sich die Situation von alleinstehenden Frauen bzw Frauen mit Kindern bei ihrer Rückkehr nach Tschetschenien nach und nach. Gewalt gegen Frauen ist in Tschetschenien jedoch weiterhin weit verbreitet, Ehrenmorde, Brautentführungen und Zwangsehen existieren nach wie vor. Im Nordkaukasus finden die schwersten Menschenrechtsverletzungen in der Russischen Föderation statt. Strafverfolgungsbehörden greifen oft auf ein ethnisches „profiling“ zurück, dieses richtet sich besonders gegen Personen aus dem Kaukasus und Zentralasien. Russische Behörden beschuldigen oft willkürlich Personen aus dem Nordkaukasus für Straftaten, die sie nicht begangen haben, die sich aber tatsächlich ereignet haben. Dabei werden Geständnisse mittels Folter, Schlägen, Elektroschocks, Vergewaltigung oder Androhung der Vergewaltigung erpresst, wobei Staatsanwälte diese Untersuchungen in der Regel unterstützen.

Rechtlich ging das Erstgericht davon aus, dass die Flüchtlingseigenschaft der Kinder weiter bestehe, weil die Volksgruppe der Tschetschenen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Minderheit weiterhin diskriminiert werde und sich vor willkürlicher Strafverfolgung und Benachteiligung durch staatliche Behörden fürchten müsse.

In seinem gegen diese Entscheidung gerichteten Rekurs erhob der Bund (inhaltlich) eine umfangreiche Tatsachenrüge (ua wäre festzustellen gewesen, dass in der Russischen Föderation kein Krieg, sondern Frieden herrsche, sich die Menschen nicht in Lebensgefahr befänden, sehr viele Staatsangehörige der Russischen Föderation freiwillig in ihr Heimatland zurückkehren, auch für alleinstehende Frauen, die mit Kindern in tschetschenisches Gebiet zurückkehren, die Situation nunmehr wesentlich verbessert sei; es grundsätzlich keine systematischen Diskriminierungen von Frauen gäbe und keine Erkenntnisse darüber vorlägen, dass Staatsangehörige der Russischen Föderation mit tschetschenischer Volkszugehörigkeit nach ihrer Rückführung besonderen Repressionen ausgesetzt seien etc).

Das Rekursgericht gab dem Rekurs nicht Folge. Rechtlich ging es davon aus, aus der zwischenzeitig ergangenen Entscheidung des Obersten Gerichtshofs 10 ObS 19/17t sei abzuleiten, dass den Kindern seit der Asylgewährung in den Jahren 2006, 2007 und 2010 ex lege die Flüchtlingseigenschaft zukomme. Aufgrund ihres Status als Asylberechtigte – und damit ex lege verbunden ihre Flüchtlingseigenschaft – seien ihnen die Unterhaltsvorschüsse weiter zu gewähren. Ausgehend von dieser Rechtsansicht ließ das Rekursgericht die Tatsachenrüge im Rekurs unbehandelt.

Das Rekursgericht ließ den Revisionsrekurs im Hinblick auf die seines Erachtens seit der Entscheidung 10 Ob 19/17t nicht mehr einheitliche Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig und im Ergebnis im Sinn des eventualiter gestellten Aufhebungsantrags berechtigt.

1. Der Oberste Gerichtshof hat in der zwischenzeitig ergangenen Entscheidung 10 Ob 40/18g zu der vom Rekursgericht als erheblich erachteten Rechtsfrage Stellung genommen, sodass auf die dort getroffenen Aussagen verwiesen werden kann.

2.1 Die Aussagen dieser Entscheidung lassen sich im Ergebnis dahin zusammenfassen, dass die Flüchtlingseigenschaft als Vorfrage für die Beurteilung des Personalstatuts der Kinder und damit verbunden die Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen gemäß § 2 Abs 1 UVG vom Gericht weiterhin selbständig zu prüfen ist (RIS‑Justiz RS0110397; RS0037183).

2.2 Schon nach der bisherigen Rechtsprechung bildet die Bejahung der Asylberechtigung in einem Asylgewährungsbescheid ein starkes Indiz für das Bestehen der Flüchtlingseigenschaft. Erfolgte eine Feststellung der Flüchtlingseigenschaft im Verwaltungsverfahren erst kurze Zeit vor der gerichtlichen Entscheidung, in der die Flüchtlingseigenschaft eine Vorfrage darstellt, wird das Gericht in der Regel von einer weiteren selbständigen Prüfung mangels gegenteiliger Anhaltspunkte absehen können. Anders wird es dann sein, wenn seit der Feststellung ein geraumer Zeitraum verstrichen ist und sich die Verhältnisse im Heimatstaat des Flüchtlings wesentlich geändert haben (RIS‑Justiz RS0110397).

3. Im vorliegenden Fall datieren die Entscheidungen der Asylbehörden, mit denen den Kindern der im Rahmen eines Familienverfahrens (§ 34 AsylG 2005) der Status als Asylberechtigte zuerkannt wurde, aus den Jahren 2006, 2007 und 2010. Die Indizwirkung der Feststellung der Flüchtlingseigenschaft im Verwaltungsverfahren ist infolge der seither verstrichenen Zeit bereits reduziert. Die Gerichte haben sich daher mit der Frage zu befassen, ob die Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und dem Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl 1974/78, weiter vorliegt.

4. Da es sich nicht um eine erstmalige Gewährung von Unterhaltsvorschüssen, sondern um eine Weitergewährung handelt, ist § 18 Abs 1 Z 2 UVG maßgeblich, wonach die Gerichte die Vorschüsse weiter zu gewähren haben, wenn keine Bedenken dagegen bestehen, dass die Voraussetzungen der Gewährung der Vorschüsse weiter gegeben sind. Der Antrag auf Weitergewährung ist damit an weniger strenge Voraussetzungen geknüpft als die Erstgewährung. Im Fall der Weitergewährung hat das Kind im Wesentlichen nur zu behaupten, dass die Voraussetzungen, die bei der Erstgewährung angenommen wurden, weiterhin gegeben sind (10 Ob 15/16b mwN; Neumayr in Schwimann/Kodek, ABGB4 § 18 UVG Rz 1, 4 und 5).

5. Flüchtlinge sind iSd Art 1 A Z 2 GFK Personen, die sich „aus wohlbegründeter Furcht, aus den Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb ihres Heimatlandes befinden und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt sind, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen“.

6.1 Das Erstgericht hat zum Fortbestehen der Flüchtlingseigenschaft seit der Erstgewährung konkrete Feststellungen getroffen bzw als bescheinigt angesehen und daraus rechtlich abgeleitet, dass der Sachverhalt ident wie zum Zeitpunkt des ursprünglichen Gewährungsbeschlusses ist. Es ging rechtlich davon aus, dass die Flüchtlingseigenschaft der Kinder weiter bestehe und daher die Voraussetzungen für die Weitergewährung vorliegen.

6.2 Der Bund hat sich in seinem Rekurs gegen den vom Erstgericht festgestellten bzw als bescheinigt angesehenen Sachverhalt gewendet und gegenteilige bzw anderslautende Tatsachenbehauptungen aufgestellt. Im Revisionsrekurs wird geltend gemacht, dass das Rekursgericht – ausgehend von seiner Rechtsansicht – auf dieses Rekursvorbringen bisher nicht eingegangen ist und die Tatsachenrüge unerledigt gelassen hat.

7.1 Das Rekursgericht wird sich daher im fortgesetzten Verfahren mit dem bisher nicht behandelten Rekursvorbringen zu befassen haben (§ 53 AußStrG).

7.2 Dies führt zur Aufhebung des Beschlusses des Rekursgerichts und zur Zurückverweisung zur neuerlichen Entscheidung.

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