BFG RV/3100191/2021

BFGRV/3100191/202130.6.2021

Beurteilung des Grades der Behinderung bei Zöliakie und (anderen) geringfügigen Funktionsstörungen

European Case Law Identifier: ECLI:AT:BFG:2021:RV.3100191.2021

 

Entscheidungstext

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesfinanzgericht hat durch den Richter***Ri*** in der Beschwerdesache ***Bf1***, ***Bf1-Adr***, über die Beschwerde vom 30. August 2018 gegen den Bescheid des Finanzamtes Innsbruck (jetzt Finanzamt Österreich) vom 24. August 2018 betreffend Einkommensteuer (Arbeitnehmerveranlagung) 2017 sowie über die Beschwerde vom 4. August 2020 gegen den Bescheid des Finanzamtes Kufstein Schwaz (jetzt Finanzamt Österreich) vom 22. Juli 2020 betreffend Einkommensteuer (Arbeitnehmerveranlagung) 2018 zu Recht erkannt:

 

I. Die Beschwerde gegen den Einkommensteuerbescheid 2017 wird gemäß § 279 BAO als unbegründet abgewiesen. Der angefochtene Bescheid wird abgeändert.
Die Bemessungsgrundlagen und die Höhe der festgesetzten Abgabe sind dem Ende der Entscheidungsgründe zu entnehmen und bilden einen Bestandteil des Spruches dieses Erkenntnisses.

II. Die Beschwerde gegen den Einkommensteuerbescheid 2018 wird gemäß § 279 BAO als unbegründet abgewiesen.

III. Gegen dieses Erkenntnis ist eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) nicht zulässig.

 

Entscheidungsgründe

Verfahrensgang

1. Die Beschwerdeführerin erzielte in den Beschwerdejahren Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit und machte in Ihren Erklärungen zur Arbeitnehmerveranlagung neben Werbungskosten und Sonderausgaben auch außergewöhnliche Belastungen aufgrund einer Behinderung geltend.

2. Im Beschwerdejahr 2017 wurde in der am 25.3.2018 eingereichten Erklärung der Grad der Behinderung mit 30 % angegeben und neben behinderungsbedingten Kosten für Hilfsmittel und Heilbehandlung in Höhe von 220,28 Euro auch der pauschale Freibetrag für eine Diät (Zucker etc.) beantragt.

Vom Finanzamt wurden im Bescheid vom 24.8.2018 der Freibetrag wegen eigener Behinderung in Höhe von 75,- Euro und die behinderungsbedingten Kosten für Hilfsmittel und Heilbehandlung, jedoch nicht der pauschale Freibetrag für die Diät zuerkannt.

3. In der am 30.8.2018 eingebrachten Beschwerde wurde von der Beschwerdeführerin auf eine bei ihr vorliegende Zöliakie und den deshalb beantragten Freibetrag hingewiesen und mitgeteilt, dass am 25.8.2018 ein Antrag auf Feststellung des Grades der Erwerbsminderung beim Bundessozialamt (Sozialministeriumservice) gestellt worden sei.

4. Der Vorhalt des Finanzamtes vom 14.3.2019, in dem ersucht wurde, den beantragten Behinderungsgrad von 30 % und das Vorliegen einer Zöliakie nachzuweisen, wurde von der Beschwerdeführerin damit beantwortet, dass der vom Sozialministeriumservice abgewiesene Antrag beim Bundesverwaltungsgericht in Hinblick auf den Grad der Behinderung bekämpft worden sei. Die Beschwerde gegen den Einkommensteuerbescheid werde aufrechterhalten.

Mit Vorhalt vom 9.1.2020 wurde die Beschwerdeführerin vom Finanzamt neuerlich um Vorlage eines Nachweises ersucht. In der Beantwortung wurde mitgeteilt, dass die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes weiterhin ausständig sei. Als Beleg für die bestehende Zöliakie wurde ein Schreiben des behandelnden Arztes vom 15.5.2019 übermittelt, in dem dieser die Diagnose und die Einstufung der Erkrankung bestätigte.

5. Mit Beschwerdevorentscheidung vom 29.6.2020 wurde der Beschwerde Folge gegeben und der in der Erklärung beantragte Pauschbetrag für Diät (Zucker etc.) in Höhe von 840,- Euro zuerkannt.

6. Die Beschwerdeführerin hatte mit 4.11.2019 ihren Hauptwohnsitz verlegt, weshalb für die am 7.7.2020 eingereichten Erklärung zur Arbeitnehmerveranlagung 2018 ein anderes Finanzamt örtlich zuständig war.

Im Rahmen der außergewöhnlichen Belastungen war der Grad der Behinderung wiederum mit 30 % angegeben. Es wurden der Pauschalbetrag für Diät (Zucker etc.) sowie behinderungs-bedingte Kosten für Hilfsmittel und Heilbehandlung in Höhe von 988,94 Euro geltend gemacht.

7. Vom nunmehr zuständigen Finanzamt wurde um Übermittlung des Bescheides des Sozialministeriumservice ersucht und Unterlagen für die behinderungsbedingten Kosten für Hilfsmittel und Heilbehandlung in Höhe von 988,94 Euro angefordert.

8. Im Einkommensteuerbescheid 2018 vom 22.7.2020 wurde mangels Nachweis der Behinderung weder der Freibetrag wegen Behinderung noch der Pauschalbetrag für Diät (Zucker etc.) angesetzt. Die Aufwendungen in Höhe von 988,94 Euro wurden (nur) als Krankheitskosten, also als außergewöhnliche Belastungen mit Selbstbehalt, berücksichtigt.

9. In der Beschwerde vom 4.8.2020 wurde auf die bestehende Zöliakie und darauf hingewiesen, dass die damit in Zusammenhang stehenden Aufwendungen vom bisher zuständigen Finanzamt in der Beschwerdevorentscheidung das Jahr 2017 betreffend als behinderungsbedingt anerkannt worden seien.

10. In der Beantwortung eines weiteren Vorhaltes vom 13.8.2020 wurde von der Beschwerdeführerin vorgebracht, dass das Sozialministeriumservice die bestehende Zöliakie falscherweise als Stoffwechselerkrankung und nicht als Magen-Darm-Erkrankung nach der Anlage zur "Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz betreffend nähere Bestimmungen über die Feststellung des Grades der Behinderung (Einschätzungsverordnung, BGBl. II Nr. 261/2010)" beurteilt habe. Dieses Verfahren sei noch nicht abgeschlossen.

Bei den behinderungsbedingten Kosten für Hilfsmittel und Heilbehandlung wurden von der Beschwerdeführerin Kosten, die mit der Behinderung nicht in Zusammenhang stehen, ausgeschieden und nur mehr 696,16 Euro geltend gemacht.

11. Mit der Beschwerdevorentscheidung vom 2.12.2020 wurde der Erstbescheid insofern abgeändert, als die bisher anerkannten Krankheitskosten (außergewöhnliche Belastungen mit Selbstbehalt) auf 696, 16 Euro reduziert wurde und die Diät in Höhe des Jahresbetrages von 840,- Euro zusätzlich als Krankheitskosten (außergewöhnliche Belastungen mit Selbstbehalt) angesetzt wurden. Gesamt ergaben sich Krankheitskosten in Höhe von 1.536,16 Euro, die den Selbstbehalt nicht überstiegen.

Zudem wurde die Beschwerdevorentscheidung vom 29.6.2020 betreffend das Jahr 2017 gemäß § 299 BAO aufgehoben und eine neue Beschwerdevorentscheidung mit Datum 2.12.2020 erlassen. Im Vergleich zum Erstbescheid wurde der Freibetrag wegen eigener Behinderung in Höhe von 75,- Euro und die behinderungsbedingten Kosten für Hilfsmittel und Heilbehandlung in Höhe von 220,28 Euro nicht mehr zuerkannt.

12. Sowohl gegen die (neue) Beschwerdevorentscheidung betreffend das Jahr 2017 als auch gegen die Beschwerdevorentscheidung betreffend das Jahr 2018 wurden von der Beschwerdeführerin am 8.12.2020 Vorlageanträge eingebracht. In diesen wurde zugestanden, dass vom Bundessozialamt (Sozialministeriumservice) ein (Gesamt-)Grad der Behinderung von 20 % festgestellt wurde und dieser "rechtsgültig" sei. Allerdings habe das Bundessozialamt (Sozialministeriumservice) neben der Zöliakie weitere Einschränkungen zu jeweils 10 % festgestellt. Diese würden gesamt zu einem Grad der Behinderung von mindestens 25 % führen, das Bundessozialamt (Sozialministeriumservice) könne den Grad der Behinderung jedoch nur in Zehnerschritten angeben. Nach der Randziffer 839h der Lohnsteuerrichtlinien 2002 seien die Voraussetzungen für die geltend gemachten Freibeträge erfüllt.

In vergleichbaren Fällen sei beim Vorliegen einer Zöliakie ein Grad der Behinderung von 30 % festgestellt worden. Zum Beleg wurde von der Beschwerdeführerin auf in der Findok auffindbare Entscheidungen des Bundesfinanzgerichtes verwiesen.

13. Mit Vorlagebericht vom 31.3.2021 wurden die Beschwerden dem Bundesfinanzgericht vorgelegt.

 

Das Bundesfinanzgericht hat erwogen:

Sachverhalt

Die Beschwerdeführerin erzielte in den Jahren und 2017 und 2018 Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit und machte in den Erklärungen zur Arbeitnehmerveranlagung u.a. außergewöhnliche Belastungen aufgrund einer Behinderung geltend. Der Grad der Behinderung wurde von der Beschwerdeführerin mit 30 % angegeben und der pauschale Freibetrag sowie der Freibetrag für Diätverpflegung (Zöliakie) geltend gemacht, außerdem behinderungsbedingte Kosten für Hilfsmittel und Heilbehandlung.

Der durch ein ärztliches Sachverständigengutachten festgestellte und vom Sozialministeriumservice bescheinigte Grad der Behinderung beträgt 20 %.

 

Beweiswürdigung

Der am 4.12.2018 nach Einholung eines ärztlichen Sachverständigengutachtens ausgestellte Bescheid des Bundessozialamtes (Sozialministeriumservice) bescheinigte einen Grad der Behinderung von 20 %. Dem als Beilage angehängten Gutachten ist zu entnehmen, dass bei der Beschwerdeführerin eine Funktionseinschränkung aufgrund einer Zöliakie Marsh Typ 3b besteht, die laut Einschätzungsverordnung unter Position 09.03.01, also Stoffwechselstörungen leichten Grades, mit einem Grad der Behinderung von 20 % eingeordnet wurde. Die festgestellten weiteren zwei Funktionseinschränkungen wurden mit einem Grad der Behinderung von jeweils 10 % bewertet, erhöhten aufgrund von Geringfügigkeit den Gesamtgrad der Behinderung jedoch nicht.

Dieser Bescheid des Bundessozialamtes (Sozialministeriumservice) wurde durch die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes vom 30.9.2020, GZ I414 2213066-1/16E, nach Einholung eines Ergänzungsgutachtens bestätigt.

Insoweit besteht Einigkeit zwischen den Streitparteien.

Nach Ansicht der Beschwerdeführerin ist jedoch die durch den Sachverständigen vorgenommene Einstufung nicht unter der richtigen Positionsnummer erfolgt. Dies gründet auf der Einschätzung des behandelten Arztes, der in seinem Befund von einer Einordnung unter Positionsnummer 07.04.05 der Einschätzungsverordnung aufgrund einer chronischen Darmstörung mittleren Grades mit chronischen Schleimhautveränderungen ausgegangen ist.

Für das Bundesfinanzgericht besteht, insbesondere aufgrund der Tatsache, dass die Entscheidung des Bundessozialamtes (Sozialministeriumservice) durch das Bundesverwaltungsgericht nach Einholung eines Ergänzungsgutachtens bestätigt wurde, kein Zweifel, dass die Einstufung unter der richtigen Positionsnummer erfolgt ist.

Anzeichen, dass das zu Grunde liegende Gutachten unschlüssig ist, haben sich für das Bundesfinanzgericht nicht ergeben.

 

Rechtliche Beurteilung

Zu Spruchpunkt I. (Abweisung/Abänderung/Stattgabe)

Rechtslage

§ 34 EStG 1988 lautet auszugsweise:

(1) Bei der Ermittlung des Einkommens (§ 2 Abs. 2) eines unbeschränkt Steuerpflichtigen nach Abzug der Sonderausgaben (§ 18) außergewöhnliche Belastungen abzuziehen. Die Belastung muss folgende Voraussetzungen erfüllen:

1. Sie muss außergewöhnlich sein (Abs. 2).

2. Sie muss zwangsläufig erwachsen (Abs. 3).

3. Sie muss die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit wesentlich beeinträchtigen (Abs. 4).

Die Belastung darf weder Betriebsausgaben, Werbungskosten noch Sonderausgaben sein.

(2) Die Belastung ist nach Abs. 2 leg.cit. außergewöhnlich, soweit sie höher ist als jene, die der Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse erwächst.

(3) Die Belastung erwächst nach § 34 Abs. 3 EStG 1988 dem Steuerpflichtigen zwangsläufig, wenn er sich ihr aus tatsächlichen, rechtlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann.

(4) Die Belastung beeinträchtigt nach § 34 Abs. 4 EStG 1988 wesentlich die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, soweit sie einen vom Steuerpflichtigen von seinem Einkommen (§ 2 Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 5) vor Abzug der außergewöhnlichen Belastungen zu berechnenden Selbstbehalt übersteigt.

[…]

(6) Folgende Aufwendungen können ohne Berücksichtigung des Selbstbehaltes abgezogen werden:

[…]

Der Bundesminister für Finanzen kann mit Verordnung festlegen, in welchen Fällen und in welcher Höhe Mehraufwendungen aus dem Titel der Behinderung ohne Anrechnung auf einen Freibetrag nach § 35 Abs. 3 und ohne Anrechnung auf eine pflegebedingte Geldleistung zu berücksichtigen sind.

 

§ 35 EStG 1988 lautet in der maßgeblichen Fassung (BGBl I 62/2018 bzw. BGBl I 103/2019) auszugsweise:

(2) Die Höhe des Freibetrages bestimmt sich nach dem Ausmaß der Minderung der Erwerbsfähigkeit (Grad der Behinderung). Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (Grad der Behinderung) richtet sich in Fällen,

1. in denen Leistungen wegen einer Behinderung erbracht werden, nach der hiefür maßgebenden Einschätzung.

2. in denen keine eigenen gesetzlichen Vorschriften für die Einschätzung bestehen, nach § 7 und § 9 Abs. 1 des Kriegsopferversorgungsgesetzes 1957 bzw. nach der Einschätzungsverordnung, BGBl. II Nr. 261/2010, für die von ihr umfassten Bereiche.

Die Tatsache der Behinderung und das Ausmaß der Minderung der Erwerbsfähigkeit (Grad der Behinderung) sind durch eine amtliche Bescheinigung der für diese Feststellung zuständigen Stelle nachzuweisen. Zuständige Stelle ist:

(3) Es wird jährlich gewährt

bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von ein Freibetrag von Euro

25% bis 34% ............................................................ 75

35% bis 44% ............................................................ 99

45% bis 54% ............................................................ 243

55% bis 64% ............................................................ 294

65% bis 74% ............................................................ 363

75% bis 84% ............................................................ 435

85% bis 94% ............................................................ 507

ab 95% ..................................................................... 726.

 

[…]

(5) Anstelle des Freibetrages können auch die tatsächlichen Kosten aus dem Titel der Behinderung geltend gemacht werden (§ 34 Abs. 6).

[…]

(7) Der Bundesminister für Finanzen kann nach den Erfahrungen der Praxis im Verordnungsweg Durchschnittssätze für die Kosten bestimmter Krankheiten sowie körperlicher und geistiger Gebrechen festsetzen, die zu Behinderungen im Sinne des Abs. 3 führen.

[…]

 

Die Verordnung über außergewöhnliche Belastungen BGBl II 303/1996 idF BGBl II 430/2010 lautet auszugsweise:

§ 1. (1) Hat der Steuerpflichtige Aufwendungen

so sind die in den §§ 2 bis 4 dieser Verordnung genannten Mehraufwendungen als außergewöhnliche Belastungen zu berücksichtigen.

(2) Eine Behinderung liegt vor, wenn das Ausmaß der Minderung der Erwerbsfähigkeit (Grad der Behinderung) mindestens 25% beträgt.

(3) Die Mehraufwendungen gemäß §§ 2 bis 4 dieser Verordnung sind nicht um eine pflegebedingte Geldleistung (Pflegegeld, Pflegezulage oder Blindenzulage) oder um einen Freibetrag nach § 35 Abs. 3 EStG 1988 zu kürzen.

§ 2. (1) Als Mehraufwendungen wegen Krankendiätverpflegung sind ohne Nachweis der tatsächlichen Kosten bei

pro Kalendermonat zu berücksichtigen. Bei Zusammentreffen mehrerer Krankheiten ist der höhere Pauschbetrag zu berücksichtigen.

(2) Bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von weniger als 25% sind die angeführten Beträge ohne Nachweis der tatsächlichen Kosten nach Abzug des Selbstbehaltes gemäß § 34 Abs. 4 EStG 1988 zu berücksichtigen.

[…]

§ 4. Nicht regelmäßig anfallende Aufwendungen für Hilfsmittel (z.B. Rollstuhl, Hörgerät, Blindenhilfsmittel) sowie Kosten der Heilbehandlung sind im nachgewiesenen Ausmaß zu berücksichtigen.

[…]

 

Das Ausmaß der Minderung der Erwerbsfähigkeit (Grad der Behinderung) ist vom Bundessozialamt (Sozialministeriumservice) unter Mitwirkung eines ärztlichen Sachverständigen auf der Grundlage der Einschätzungsverordnung festzustellen.

Die Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz betreffend nähere Bestimmungen über die Feststellung des Grades der Behinderung BGBl II 261/2010 idF BGBl II 251/2012 (Einschätzungsverordnung) lautet auszugsweise:

Grad der Behinderung

§ 2. (1) Die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen sind als Grad der Behinderung zu beurteilen. Der Grad der Behinderung wird nach Art und Schwere der Funktionsbeeinträchtigung in festen Sätzen oder Rahmensätzen in der Anlage dieser Verordnung festgelegt. Die Anlage bildet einen Bestandteil dieser Verordnung.

(2) Bei Auswirkungen von Funktionsbeeinträchtigungen, die nicht in der Anlage angeführt sind, ist der Grad der Behinderung in Analogie zu vergleichbaren Funktionsbeeinträchtigungen festzulegen.

(3) Der Grad der Behinderung ist nach durch zehn teilbaren Hundertsätzen festzustellen. Ein um fünf geringerer Grad der Behinderung wird von ihnen mit umfasst. Das Ergebnis der Einschätzung innerhalb eines Rahmensatzes ist zu begründen.

Gesamtgrad der Behinderung

§ 3. (1) Eine Einschätzung des Gesamtgrades der Behinderung ist dann vorzunehmen, wenn mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vorliegen. Bei der Ermittlung des Gesamtgrades der Behinderung sind die einzelnen Werte der Funktionsbeeinträchtigungen nicht zu addieren. Maßgebend sind die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander.

(2) Bei der Ermittlung des Gesamtgrades der Behinderung ist zunächst von jener Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, für die der höchste Wert festgestellt wurde. In der Folge ist zu prüfen, ob und inwieweit dieser durch die weiteren Funktionsbeeinträchtigungen erhöht wird.

Gesundheitsschädigungen mit einem Ausmaß von weniger als 20 vH sind außer Betracht zu lassen, sofern eine solche Gesundheitsschädigung im Zusammenwirken mit einer anderen Gesundheitsschädigung keine wesentliche Funktionsbeeinträchtigung verursacht.

Bei Überschneidungen von Funktionsbeeinträchtigungen ist grundsätzlich vom höheren Grad der Behinderung auszugehen.

(3) Eine wechselseitige Beeinflussung der Funktionsbeeinträchtigungen, die geeignet ist, eine Erhöhung des Grades der Behinderung zu bewirken, liegt vor, wenn

- sich eine Funktionsbeeinträchtigung auf eine andere besonders nachteilig auswirkt,

- zwei oder mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vorliegen, die gemeinsam zu einer wesentlichen Funktionsbeeinträchtigung führen.

(4) Eine wesentliche Funktionsbeeinträchtigung ist dann gegeben, wenn das Gesamtbild der Behinderung eine andere Beurteilung gerechtfertigt erscheinen lässt, als die einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen alleine.

 

Erwägungen

1. Die Beschwerdeführerin hat in ihren Erklärungen zur ArbeitnehmerInnenveranlagung 2017 und 2018 den pauschalen Freibetrag für Behinderung gemäß § 35 Abs. 3 EStG 1988, den pauschalen Freibetrag für Diätverpflegung gemäß § 2 der Verordnung über außergewöhnliche Belastungen und unregelmäßige Ausgaben für Hilfsmittel sowie Kosten der Heilbehandlung gemäß § 4 der Verordnung über außergewöhnliche Belastungen geltend gemacht.

Nach § 35 Abs. 3 EStG 1988 ist für die Geltendmachung des (gestaffelten) Freibetrages eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 25 % notwendig. Ebenso sieht die Verordnung über außergewöhnliche Belastungen für die Berücksichtigung der darin geregelten Mehraufwendungen eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (einen Grad der Behinderung) von mindestens 25 % vor.

Liegt der Grad der Behinderung unter 25 %, können Aufwendungen als (allgemeine) außergewöhnliche Belastungen, also mit Selbstbehalt, geltend gemacht werden.

2. Für die Feststellung des Grades der Behinderung ist gemäß § 35 Abs. 2 EStG 1988 (im vorliegenden Fall) das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (Sozialministerium-service) zuständige Behörde. Die Bestätigung eines praktischen Arztes oder eines Amtsarztes reicht nicht aus (vgl. Peyerl in Jakom, EStG13 (2020), § 35 Rz 7).

Ebenso ist zur Feststellung - mangels medizinischer Fachkenntnis nachvollziehbarerweise - weder die Abgabenbehörde noch das Bundesfinanzgericht befugt (vgl. UFS vom 15.11.2012, RV/0582-I/11).

Die amtliche Bescheinigung des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen (Sozialministeriumservice) über den Grad der Behinderung muss im Zeitpunkt der Geltendmachung der Freibeträge vorliegen, der Antrag auf Ausstellung der Bescheinigung genügt nicht (vgl. BFG 20.5.2016, GZ. RV/7105215/2015). Die Abgabenbehörde hat ihrer Entscheidung die jeweils vorliegende amtliche Bescheinigung zu Grunde zu legen (vgl. VwGH vom 21.12.1999, 99/14/0262).

Die Abgabenbehörde ist an die Einschätzung der zuständigen Behörde gebunden (vgl. Fuchs in Doralt et al, EStG20, § 35 Tz 7).

3. Die Beschwerdeführerin hat, da sie von einem Grad der Behinderung von 30 % ausgegangen ist und bei diesem Prozentsatz die Geltendmachung von außergewöhnlichen Belastungen ohne Selbstbehalt möglich ist, einen Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses beim Sozialministeriumservice gestellt.

Ein Behindertenpass wird nur ausgestellt, wenn ein Grad der Behinderung von mindestens 50 % festgestellt wird (§ 40 BBG). In Fällen, in denen der Behinderungsgrad unter 50 % liegt, ergeht ein abweisender Bescheid, in dem jedoch vom Sozialministeriumservice der Grad der Behinderung angegeben wird (vgl. Peyerl in Jakom, EStG13 (2020), § 35 Rz 8).

Gegen diesen Bescheid ist eine Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht möglich, in der auch ein - nach Ansicht des Antragstellers - zu niedrig festgestellter Grad der Behinderung gerügt werden kann.

Sowohl die Verwaltungsbehörden als auch die Verwaltungsgerichte haben ein Gutachten eines Sachverständigen, das sie ihrer Entscheidung zu Grunde legen, auf seine Richtigkeit, Vollständigkeit und Schlüssigkeit hin zu prüfen (VwGH vom 17.11.2015, Ra 2015/03/0058).

Die Gutachten der Ärzte des Sozialministeriumservice haben den Befund und die daraus abgeleiteten fachlichen Schlüsse (Gutachten im engeren Sinn) in nachvollziehbarer Weise darzustellen (vgl. VwGH vom 8.8.1996, 96/14/0043).

Die Behörden des Verwaltungsverfahrens sind verpflichtet, die Beweiskraft der Gutachten des Sozialministeriumservice zu prüfen und erforderlichenfalls für deren Ergänzung zu sorgen (vgl. VwGH vom 25. 11. 2010, 2010/16/0068).

4. Das Gutachten des ärztlichen Sachverständigen vom 1.12.2018 listete drei Funktionseinschränkungen auf, wobei die Zöliakie unter der Positionsnummer 09.03.01 als Zöliakie Marsh Typ 3b und mit einem Grad der Behinderung von 20 % bewertet wurde.

Auch das im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht eingeholte Ergänzungsgutachten vom 16.4.2019 kommt zu keinem anderen Ergebnis. Die Einordnung unter der Positionsnummer 09.03.01 entsprach den Vorgaben des ärztlichen Dienstes des Bundesministeriums für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz an die Sachverständigen. Das Bundesverwaltungsgericht führte in seiner rechtlichen Beurteilung aus, dass die Zöliakie als Stoffwechselerkrankung richtigerweise in diese Kategorie einzuordnen war.

Wie der ärztliche Gutachter in seiner Begründung anführte, erhöhen die neben der Zöliakie festgestellten Funktionseinschränkungen "aufgrund von Geringfügigkeit" den Gesamtgrad der Behinderung der Beschwerdeführerin nicht (weiter).

Daraus ergibt sich, dass vom ärztlichen Gutachter der Gesamtzustand der betroffenen Person beurteilt wird. Ein "Zusammenrechnen" von Behinderungsgraden aufgrund der festgestellten Funktionseinschränkungen erfolgt nicht. Dies entspricht auch den Vorgaben der oben zitierten Einschätzungsverordnung (vgl. § 3).

Damit geht der in den Vorlageanträgen geäußerte Einwand ins Leere, dass aufgrund der zusätzlichen Leiden zwar kein Behinderungsgrad von 30 %, sehr wohl aber zumindest ein - für die steuerliche Berücksichtigung von außergewöhnlichen Belastungen ohne Selbstbehalt notwendiger - Behinderungsgrad von 25 % bei der Beschwerdeführerin vorliegen würde.

Wäre dies der Fall gewesen, hätte das Gutachten einen Gesamtgrad von 30 % ausweisen müssen, da gemäß § 2 Abs. 3 Einschätzungsverordnung aufzurunden ist.

Auch die Berufung auf die Rz 839h der LStR 2002, die nebenbei erwähnt für das Bundesfinanzgericht nicht bindend sind, führt zu keinem anderen Ergebnis, da als Grundvoraussetzung ebenfalls ein Behinderungsgrad von mindestens 25 % gegeben sein muss.

5. Zusammenfassend ergibt sich für den Beschwerdefall, dass die durch das Sozialministeriumservice vorgenommene Einstufung des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit in Höhe von 20 % durch die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes vom 30.9.2020, GZ I414 2213066-1/16E nach Einholung eines Ergänzungsgutachtens bestätigt wurde. Vom Bundesfinanzgericht kann diese Einstufung nicht abgeändert werden, zumal sich auch keine Anhaltspunkte ergeben haben, dass die Einstufung nicht richtig ist.

6. Das Krankheitsbild der Zöliakie tritt in unterschiedlichen Ausprägungen auf. Daraus ergibt sich, dass diese Krankheit nicht einheitlich mit einem bestimmten Behinderungsgrad verbunden werden kann, sondern der individuellen Beurteilung bedarf. Deshalb können auch die Hinweise auf andere Entscheidungen des Bundesfinanzgerichtes, in denen basierend auf den Gutachten des Bundessozialamtes (Sozialministeriumservice) bei einer Zöliakie ein Behinderungsgrad von 30 % zuerkannt wurde, der Beschwerdeführerin nicht zum Erfolg verhelfen.

7. Ergänzend muss auch darauf hingewiesen werden, dass einer Feststellung der Minderung der Erwerbsfähigkeit durch das Sozialministeriumservice von Ausnahmefällen (Unfällen etc.) abgesehen keine Rückwirkung zukommt. Das bedeutet, dass - nachdem der Bescheid des Sozialministeriumservice am 4.12.2018 ausgestellt wurde - für das Jahr 2017 schon von vornherein kein Anspruch bestehen würde.

8. Vom Finanzamt wurde in der Beschwerdevorentscheidung vom 2.12.2020 betreffend Einkommensteuer 2018- § 2 Abs. 2 der Verordnung über außergewöhnliche Belastungen folgend - der Jahresbetrag von 840,- Euro für die Mehraufwendungen wegen Krankendiätverpflegung als außergewöhnliche Belastungen mit Selbstbehalt berücksichtigt. Demgegenüber wurden die von der Beschwerdeführerin von 988,94 Euro auf 696,16 Euro reduzierten Krankheitskosten - unrichtigerweise - nur in der verminderten Höhe angesetzt. Nachdem die Krankheitskosten (inkl. Pauschalbetrag für die Diät) in Höhe von 1.828,94 Euro den Selbstbehalt in Höhe von 5.836,09 Euro nicht übersteigen, ergibt sich durch das Erkenntnis des Bundesfinanzgerichts weder eine Änderung der Bemessungsgrundlage noch der festgesetzten Einkommensteuer gegenüber dem Erstbescheid vom 22.7.2020.

In der Beschwerdevorentscheidung vom 2.12.2020 betreffend Einkommensteuer 2017 wurden keine Mehraufwendungen wegen Krankendiätverpflegung als außergewöhnliche Belastungen mit Selbstbehalt berücksichtigt, obwohl eine ärztliche Bestätigung für eine Diät beginnend mit April 2017 vorlag. Trotz der nichtberücksichtigten Kosten in Höhe von 850,28 Euro (630,- Euro Pauschalbetrag Diät, 220,28 Euro zusätzliche Kosten für Hilfsmittel und Heilbehandlung) wurde der Selbstbehalt in Höhe von 4.969,06 Euro nicht überschritten.

Die Einkommensteuer 2017 errechnet sich (analog der Beschwerdevorentscheidung vom 2.12.2020) folgendermaßen (in Euro):

Lohnzettel

37.298,43

Pendlerpauschale laut Lohnzettel

0,00

Pendlerpauschale laut Veranlagung

-1.476,00

Pauschbetrag für Werbungskosten

-132,00

Gesamtbetrag der Einkünfte

35.690,43

Sonderausgaben (§18 EStG 1988)

 

Topf-Sonderausgaben

-260,97

Kirchenbeitrag

-161,71

Außergewöhnliche Belastungen

 

Aufwendungen vor Abzug des Selbstbehaltes (§ 34 (4) EStG 1988)

-927,28

Selbstbehalt

927,28

Einkommen

35.267,75

Steuer vor Abzug der Absetzbeträge

8.092,46

Verkehrsabsetzbetrag

-400,00

Pendlereuro

-46,00

Steuer nach Abzug der Absetzbeträge

7.646,46

Steuer für die sonstigen Bezüge

331,27

Einkommensteuer

7.977,73

Anrechenbare Lohnsteuer

-8.795,98

Rundung gem. § 39 Abs. 3 EStG 1988

0,25

Festgesetzte Einkommensteuer

-818,00

 

Zu Spruchpunkt II. (Revision)

Gegen ein Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes ist die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Im Beschwerdefall wurden keine Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung aufgeworfen, weshalb die Revision nicht zulässig ist.

 

 

Innsbruck, am 30. Juni 2021

 

Zusatzinformationen

Materie:

Steuer

betroffene Normen:

Einschätzungsverordnung, BGBl. II Nr. 261/2010
§ 34 Abs. 3 EStG 1988, Einkommensteuergesetz 1988, BGBl. Nr. 400/1988
§§ 40 ff BBG, Bundesbehindertengesetz, BGBl. Nr. 283/1990
§ 35 Abs. 3 EStG 1988, Einkommensteuergesetz 1988, BGBl. Nr. 400/1988
§ 35 Abs. 2 EStG 1988, Einkommensteuergesetz 1988, BGBl. Nr. 400/1988
§ 34 Abs. 4 EStG 1988, Einkommensteuergesetz 1988, BGBl. Nr. 400/1988
§ 2 Abs. 3 Einschätzungsverordnung, BGBl. II Nr. 261/2010
§ 35 EStG 1988, Einkommensteuergesetz 1988, BGBl. Nr. 400/1988
§ 40 BBG, Bundesbehindertengesetz, BGBl. Nr. 283/1990
§ 34 EStG 1988, Einkommensteuergesetz 1988, BGBl. Nr. 400/1988
§ 3 Einschätzungsverordnung, BGBl. II Nr. 261/2010

Verweise:

VwGH 21.12.1999, 99/14/0262
VwGH 17.11.2015, Ra 2015/03/0058
VwGH 08.08.1996, 96/14/0043
VwGH 25.11.2010, 2010/16/0068
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