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Buchbesprechung Christoph Bezemek (Hg), Constitutionalism 2030, Oxford: Hart Publishing 2022, 219 S, 109,95 €, ISBN 978-1-50994-270-1

BuchbesprechungProf. Dr. Emanuel V. TowfighZÖR 2023, 765 Heft 4 v. 15.12.2023

Innovation wird einer verbreiteten Systematisierung zufolge in zwei Kategorien gegliedert: inkrementell und radikal (oder disruptiv). Das ist auch hilfreich, wenn man rechtswissenschaftliche Forschung in den Blick nimmt. Die deutschsprachige Rechtswissenschaft, insbesondere die dogmatisch arbeitende, liefert in aller Regel inkrementellen Fortschritt: Ein Konzept wird verfeinert, ein Begriff geschliffen und systematisch besser eingepasst, eine Gerichtsentscheidung kritisiert, weil sie eine Rechtsprechungslinie sprengt, usw; die Erfindung eines neuen Begriffs – des „Verwaltungsakts“ etwa – oder die Entdeckung eines neuen Anspruchs ist dagegen selten geworden. Diese Konzentration auf feinsinnige, vorsichtige inkrementelle Entwicklungen der Rechtsdogmatik war in einer Welt nach dem Krieg und mit dem Ende der verheerenden Ideologien eine nachvollziehbare Entwicklung, eine erfolgreiche epistemische Strategie: Man konnte einerseits auf Bewährtes zurückgreifen (wie im Zivilrecht) und musste andererseits neu eingeführte Normen – etwa solche, die den Horror nationalsozialistischen Terrors verarbeiten und das „Nie wieder!“ sichern sollten – behutsam entwickeln. Den Herausforderungen, die sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten zunehmend unseren Gesellschaften präsentieren – kritische, teilweise feindselige Anfragen des Populismus an die Demokratie; Klimawandel; Digitalisierung, Plattformbildung und „soziale“ Medien; Globalisierung der Wirtschaft und Entstehung internationaler Megakonzerne, die es nicht nur mit Kleinstaaten aufnehmen –, können wir mit diesem bescheidenen Ansatz nicht mehr begegnen. Wenn es um die Zukunft von Demokratie und Rechtsstaat geht, dann braucht es radikaler Innovationen: „Wenn wir wollen, dass alles bleibt, wie es ist, dann muss sich alles verändern.“ Dafür ist die (Rechts-)Wissenschaft essenziell: Welches gesellschaftliche Subsystem soll sonst in die Zukunft denken, Alternativen und Szenarien gründlich sondieren, Risiken vorsichtig abwägen? Von der Politik, von jenen, die in der gegenwärtigen Ordnung reüssiert haben, die auch „Produkt“ dieser Ordnung sind, ist eine Weiterentwicklung eher nicht zu erwarten; abgesehen davon, dass sie so sehr mit der Bewältigung der großen und kleinen alltäglichen Krisen beschäftigt ist, dass ihr schlicht die Zeit fehlt, sich mit grundsätzlichen Fragen zu beschäftigen. Die Rechtswissenschaft muss daher viel breiter wieder den Mut fassen, solch große Fragen anzugehen, ohne in neue oder alte Ideologien zu verfallen – um Freiheit, Sicherheit und Wohlstand auch in der nächsten Epoche der Menschheitsgeschichte zu sichern.

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