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Normative Unschärfen zwischen Offenheit und Introvertiertheit: Die Görgülü-Entscheidung in Retrospektive

AufsätzeProf. Dr. Mehrdad PayandehZÖR 2022, 711 Heft 3 v. 26.9.2022

I. Einleitung

Es gibt verfassungsgerichtliche Entscheidungen, bei denen man nach der ersten Lektüre recht genau weiß, was das Gericht entschieden hat. Und dann gibt es die Görgülü-Entscheidung.11BVerfGE 111, 307. In dieser Entscheidung aus dem Jahr 2004 hat sich der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts zwar nicht erstmals, aber erstmals grundsätzlich zur innerstaatlichen Bedeutung der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR geäußert. Die Tagespresse las die Entscheidung in eindeutiger Weise: „Straßburger Urteile nicht bindend für deutsche Justiz“, schrieb die Süddeutsche Zeitung.22Süddeutsche Zeitung 20.10.2004, 1. „Karlsruhe: Völkerrechtsfreundlichkeit hat Grenzen“, titelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung etwas zurückhaltender.33Frankfurter Allgemeine Zeitung 20.10.2004, 1. Die ersten Besprechungen in juristischen Fachzeitschriften fielen naturgemäß differenzierter aus, unterschieden sich aber stark in der Einschätzung, wie sich das Bundesverfassungsgericht zur Bedeutung der EMRK und der EGMR-Rechtsprechung eigentlich positioniert hatte. Auch in der Rückschau fällt die Einordnung nicht ganz leicht und gelingt nur mit dem rückblickend vorausschauenden Blick auf die nachfolgende Rechtsprechungsentwicklung. Die Frage, ob es sich bei Görgülü um eine gelungene Entscheidung handelt, lässt sich daher am ehesten mit den Worten von Reverend Timothy Lovejoy Jr beantworten: „Short answer: ‚yes‘ with an ‚if‘. Long answer: ‚no‘ with a ‚but‘.“44The Simpsons, Season 8, Episode 8, Hurricane Neddy.

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