I. Einleitung
Es gibt verfassungsgerichtliche Entscheidungen, bei denen man nach der ersten Lektüre recht genau weiß, was das Gericht entschieden hat. Und dann gibt es die Görgülü-Entscheidung.1 In dieser Entscheidung aus dem Jahr 2004 hat sich der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts zwar nicht erstmals, aber erstmals grundsätzlich zur innerstaatlichen Bedeutung der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR geäußert. Die Tagespresse las die Entscheidung in eindeutiger Weise: „Straßburger Urteile nicht bindend für deutsche Justiz“, schrieb die Süddeutsche Zeitung.2 „Karlsruhe: Völkerrechtsfreundlichkeit hat Grenzen“, titelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung etwas zurückhaltender.3 Die ersten Besprechungen in juristischen Fachzeitschriften fielen naturgemäß differenzierter aus, unterschieden sich aber stark in der Einschätzung, wie sich das Bundesverfassungsgericht zur Bedeutung der EMRK und der EGMR-Rechtsprechung eigentlich positioniert hatte. Auch in der Rückschau fällt die Einordnung nicht ganz leicht und gelingt nur mit dem rückblickend vorausschauenden Blick auf die nachfolgende Rechtsprechungsentwicklung. Die Frage, ob es sich bei Görgülü um eine gelungene Entscheidung handelt, lässt sich daher am ehesten mit den Worten von Reverend Timothy Lovejoy Jr beantworten: „Short answer: ‚yes‘ with an ‚if‘. Long answer: ‚no‘ with a ‚but‘.“4