1. Einleitung
Man sollte mit dem Begriff "historisch" generell vorsichtig umgehen. Im Falle der europäischen Mindestlohn-Richtlinie erscheint er aber durchaus angebracht. Mit der endgültigen Verabschiedung der "Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union" durch das Europäische Parlament und den Rat der EU im Herbst 2022 wurde erstmals überhaupt eine EU-Rechtsvorschrift erlassen, die ausdrücklich darauf abzielt, dass gesetzliche Mindestlöhne ein angemessenes Niveau erhalten und Tarifvertragssysteme gestärkt werden. Historisch ist dieser Vorgang in mehrfacher Hinsicht: Zum einen mündet eine jahrzehntelange Debatte über die Möglichkeiten und Grenzen einer europäischen Mindestlohnpolitik zum ersten Mal erfolgreich in eine europäische Rahmengesetzgebung, die gemeinsame Verfahren und Ziele für angemessene Mindestlöhne in der EU festschreibt. Zum anderen markiert dies aus integrationspolitischer Sicht nicht weniger als einen Paradigmenwechsel hin zu einem sozialen Europa. Über Jahrzehnte hinweg wurde die europäische Einigung von einer neoliberalen Politik der Liberalisierung dominiert, die primär auf die Integration von Märkten abzielte und damit die bestehenden Arbeits- und Sozialsysteme unter Druck setzte (Soukup 2019). In der Eurokrise Anfang der 2010er Jahre wurde diese Politik mit der Herausbildung einer "neuen europäischen Arbeitspolitik" (Syrovatka 2022) sogar noch radikaler, indem die Europäische Kommission – oft gemeinsam mit der Europäischen Zentralbank und dem Internationalen Währungsfonds im Rahmen der so genannten Troika – nun direkt in nationale Arbeits- und Tarifvertragssysteme eingriff (Schulten und Müller 2013). In einem damals viel zitierten Bericht der Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen (GD ECFIN) wurden u.a. die Senkung der Mindestlöhne, die Dezentralisierung von Tarifverhandlungen und die Verringerung der Tarifbindung sowie eine allgemeine Schwä-

