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Unionsrecht Art. 10 EMRK (RZ 2020/15)

EntscheidungenUnionsrechtRZ 2020/15RZ 2020, 169 Heft 7 und 8 v. 15.8.2020

Art. 10 EMRK:

Aspekte des Rechts auf freie Meinungsäußerung an den Beispielen Baldassi ua/Frankreich, 11.06.2020, 15271/16, und Carl Jóhann Lilliendahl/Island, 11.06.2020, 29297/18

Die elf BeschwerdeführerInnen in Baldassi ua/Frankreich waren Mitglieder des "Collectif Palestine 68", einer lokalen Untergruppe der internationalen Kampagne "Boycott, Désinvestissement et Sanctions" (BDS). Im September 2009 und im Mai 2010 organisierten diese Mitglieder Protestaktionen in einem Supermarkt in Frankreich und riefen zum Boykott israelischer Produkte auf. Diese Aktionen riefen die Staatsanwaltschaft Colmar auf den Plan, und die BeschwerdeführerInnen wurden in der Berufungsinstanz im November 2013 wegen Anstiftung zur Diskriminierung zu bedingten Geldstrafen von 1.000 € und Zahlungen von immateriellem Schadenersatz (1.000 €) und Kosten (3.000 €) an die vier bzw. drei Privatbeteiligten verurteilt. Eine Berufung an die Cour de Cassation wurde ua mit dem Vermerk abgewiesen, dass die Bestrafungen von Absatz 2 des Art. 10 EMRK gedeckt seien. Der EGMR fand einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK und stellte dazu fest, dass die BeschwerdeführerInnen nicht wegen rassistischer oder antisemitischer Äußerungen verurteilt worden seien, noch seien sie gewalttätig gewesen, oder sei es bei den Aktionen zu Schäden gekommen. Der Gerichtshof wolle nicht die strafgerichtliche Einschätzung der Erfüllung des Tatbestands von "Anstiftung zur Diskriminierung" hinterfragen; der Boykottaufruf betreffend israelische Produkte könne als eine Diskriminierung gegen Produzenten und Produzentinnen aufgrund ihrer Herkunft verstanden werden. Das zugrundeliegende französische Gesetz verbiete jede Art von Boykottaufruf auf Basis einer geographischen Herkunft, unabhängig vom Grund und den Umständen eines solchen Aufrufs. Das französische Berufungsgericht habe für seine Einschätzung, der Boykottaufruf sei nicht von der Meinungsäußerungsfreiheit gedeckt, keine Gründe angeführt, was aber jedenfalls notwendig gewesen wäre, auch deshalb, weil die Aktionen der BeschwerdeführerInnen Themen von öffentlichem Interesse berührt hätten und sie in den Anwendungsbereich der politischen Meinungsäußerung fallen würden. Für Einschränkungen der politischen Meinungsäußerung und bei Fragen von öffentlichem Interesse bestehe nur wenig Raum. Die BeschwerdeführerInnen erhielten einen Zuspruch von Schaden- und Kostenersatz.

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