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Harmonisierung ohne Grenzen? Die (neuen) Wege des europäischen Strafgesetzgebers

AufsätzeMag. Jennifer CapelareJSt 2023, 319 Heft 4 v. 29.8.2023

Das Strafrecht ist wie kaum ein anderes Rechtsgebiet Ausdruck nationaler Souveränität.11 Fuchs/Zerbes, Strafrecht Allgemeiner Teil I11 (2021) 51; Rosenau/Petrus in Vedder/Heintschel von Heinegg (Hrsg), Europäisches Unionsrecht2 (2018) Art 83 AEUV Rz 2; Böse in Böse (Hrsg), Enzyklopädie Europarecht. Europäisches Strafrecht2 (2021) § 1 Rz 1; Perron, Sind die nationalen Grenzen des Strafrechts überwindbar?, ZStW 109 (1997), 281 (282 mwN). Das zeigt sich insbesondere an der höchst unterschiedlichen Ausgestaltung der Strafrechtsordnungen der Staaten Europas.22 Hecker, Europäisches Strafrecht6 (2021) 5. Dennoch wurde immer wieder der Gedanke aufgeworfen, das Strafrecht auf europäischer Ebene weiterzuentwickeln.33So etwa ein neues Modell auf europäischer Ebene vorschlagend Klip, Strafrecht in der Europäischen Union, ZStW 117 (2005), 889. Siehe auch Sieber, Die Zukunft des Europäischen Strafrechts, ZStW 121 (2009), 1; Schünemann, Europäischer Sicherheitsstaat = europäischer Polizeistaat?, ZIS 2007, 528 (528); Klip, European Criminal Law. An Integrative Approach4 (2021) 27 ff. Auch wenn wir derzeit von einem „Europäischen Strafrecht“44Damit ist ein auf supranationaler Ebene echtes, supranationales europäisches Strafrechtssystem mit unmittelbarer Anwendung in den Mitgliedstaaten gemeint. noch weit entfernt sind55 Hecker, Europäisches Strafrecht 5. Starke Tendenzen zur Schaffung eines solchen sehend Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht10 (2022) 105., so ging nichtsdestotrotz eine mit der Europäisierung einhergehende, kontinuierliche Harmonisierung des materielles Strafrechts66Unter „Harmonisierung des materiellen Strafrechts“ ist die inhaltliche Angleichung der mitgliedschaftlichen Strafrechtsnormen auf der Tatbestands- und Rechtsfolgenseite auf Grundlage unionsrechtlich definierter und verbindlicher Standards zu verstehen, siehe Hecker, Europäisches Strafrecht 243 mwN; Zeder, Mindestvorschriften der EU im materiellen Strafrecht: Was bringt der Vertrag von Lissabon Neues?, ERA Forum 2008, 209 (210). vonstatten. Während (nicht nur) das Schrifttum diese Entwicklung (weiterhin) kritisch sieht77So etwa Klip, European Criminal Law 29; BVerfG 30.6.2009, 2 BvE 2/08 ua = BVerfGE 123, 267., ist die Europäische Kommission darum bemüht, ihre Kompetenzen im Bereich des materiellen Strafrechts stetig weiter auszubauen.88 Klip, European Criminal Law 29 f. In diese Kerbe schlagend auch Zeder, Neue Vorhaben der Union im materiellen Strafrecht, Teil 4: Abschöpfung und Einziehung von Vermögenswerten, JSt 2022, 449 (451). Dieser Beitrag bietet einen kurzen Überblick über die aktuelle materiell-strafrechtliche Kompetenzlage der Europäischen Union und untersucht anschließend, ob die von mancher Seite mit dem In-Kraft-Treten des Vertrags von Lissabon befürchtete „uferlose Harmonisierung“99So hatte etwa das BVerfG in seinem Lissabon-Urteil festgehalten, dass mit Art 83 Abs 2 AEUV eine Uferlosigkeit an Strafrechtssetzung drohe, 2 BvE 2/08 ua, Rz 361. tatsächlich stattgefunden hat, ehe er sich der Frage widmet, ob die materiell-strafrechtlichen Kompetenzen der Europäischen Kommission durch den Abschluss völkerrechtlicher Abkommen faktisch erweitert werden können.

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