VwGH 2012/21/0262

VwGH2012/21/02622.8.2013

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Stöberl und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, im Beisein der Schriftführerin Mag. Dobner, über die Beschwerde der Landespolizeidirektion Steiermark gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates für die Steiermark vom 5. November 2012, Zl. UVS 26.9-5/2012-21, betreffend Aufhebung eines unbefristeten Aufenthaltsverbotes (mitbeteiligte Partei: RJ; weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AVG §66 Abs4;
FrPolG 2005 §61 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §67 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §69 Abs2 idF 2011/I/038;
MRK Art8;
VwGG §42 Abs2 Z1;
AVG §66 Abs4;
FrPolG 2005 §61 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §67 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §69 Abs2 idF 2011/I/038;
MRK Art8;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

Der 1958 geborene Mitbeteiligte ist argentinischer Staatsangehöriger und gelangte erstmals 2001 nach Österreich. 2004 heiratete er eine österreichische Staatsbürgerin, weshalb ihm in der Folge Aufenthaltstitel erteilt wurden.

Der Verbindung bzw. Ehe mit der österreichischen Staatsbürgerin entstammen zwei Kinder, und zwar ein 2002 geborener Sohn und eine 2005 geborene Tochter.

Am 1. März 2007 beging der Mitbeteiligte unter Verwendung eines Messers zunächst einen versuchten und dann wenige Minuten später einen vollendeten Raub. Er wurde deshalb wegen des Verbrechens des versuchten schweren Raubes nach den §§ 15, 142 Abs. 1, 143 zweiter Fall StGB und des Verbrechens des schweren Raubes nach den §§ 142 Abs. 1, 143 zweiter Fall StGB schuldig erkannt und zu einer fünfjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Er befand sich deshalb ab 4. März 2007 in Haft, aus der er dann am 4. September 2009 bedingt entlassen wurde.

Im Hinblick auf das strafgerichtliche Fehlverhalten verhängte die Bundespolizeidirektion Graz gegen den Mitbeteiligten mit Bescheid vom 7. Februar 2008 gemäß § 87 iVm § 86 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG ein unbefristetes Aufenthaltsverbot. Die dagegen erhobene Berufung war verspätet, weshalb dieser Bescheid in Rechtskraft erwuchs.

Im Mai 2011 beantragte der Mitbeteiligte die Aufhebung des unbefristeten Aufenthaltsverbotes. Die Bundespolizeidirektion Graz wies diesen Antrag mit Bescheid vom 24. Jänner 2012 gemäß § 69 Abs. 2 FPG ab. Dagegen erhob der Mitbeteiligte Berufung. Über diese erkannte der Unabhängige Verwaltungssenat für die Steiermark (die belangte Behörde) mit dem nunmehr bekämpften Bescheid vom 5. November 2012 wie folgt:

"Gemäß § 66 Abs. 4 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 (im Folgenden AVG) in Verbindung mit § 9 Fremdenpolizeigesetz 2005 (im Folgenden FPG) wird der Berufung

Folge gegeben

und der angefochtene Bescheid behoben."

Die belangte Behörde stellte fest, dass der Mitbeteiligte mit seiner Familie zunächst in Graz gewohnt habe. 2007 sei seine Ehefrau "auf Grund eines Jobangebotes" nach Innsbruck übersiedelt; sie leide an einer chronischen Krankheit (sie sei manischdepressiv) und es sei - aus ihrer Sicht - aus diesem Grund sehr schwierig, mit ihr zusammenzuleben. Dass der Mitbeteiligte (nunmehr) von seiner Familie getrennt lebe, sei somit nicht von ihm zu verantworten; er pflege sowohl zu seiner Ehefrau als auch zu seinen beiden Kindern ein gutes Verhältnis, weshalb er sich auf Grund der Erkrankung seiner Ehefrau sehr oft um den Haushalt bzw. um die beiden Kinder kümmere und für diese sorge. 2007 sei seine Ehefrau bettlägerig gewesen, weshalb dem Mitbeteiligten "offenbar die familiäre Situation über den Kopf gewachsen" sei; er habe die psychische Krankheit seiner Ehefrau nicht verstanden, die sich damals wegen noch nicht richtiger medikamentöser Einstellung zum Teil auch aggressiv verhalten habe. Der Mitbeteiligte habe sodann die - oben angeführten - Straftaten begangen. Er habe sich seither wohlverhalten, die mit der bedingten Entlassung aus der Strafhaft festgesetzte Probezeit sei mittlerweile am 4. September 2012 abgelaufen.

In der Berufungsverhandlung - so die belangte Behörde weiter -

habe sich der Mitbeteiligte reumütig gezeigt und ausgeführt, aus der Vergangenheit und seinen Straftaten sowie aus dem Gefängnisaufenthalt "sehr viel gelernt" zu haben; er sei sich der vergangenen Umstände bewusst und versuche nun insbesondere für seine Kinder ein gutes Vorbild zu sein; bei einem Tatopfer habe er sich entschuldigt und vertrete die Ansicht, nunmehr geläutert zu sein. Diese Umstände habe auch die Ehefrau des Mitbeteiligten bestätigt, die sowohl aus persönlichen wie auch aus finanziellen Gründen einem weiteren Zusammenleben mit dem Mitbeteiligten befürwortend gegenübergestanden sei. Dieser sei arbeitswillig und habe bereits diverse "Saisonjobs" verrichtet; lt. Mitteilung der Bewährungshilfe liege eine Zusage für eine Arbeitsstelle in einem Innsbrucker Gastgewerbebetrieb vor. Zwar weise der Mitbeteiligte mangelhafte Deutschkenntnisse auf, er habe jedoch eine Anmeldebestätigung für einen Deutschkurs Grundstufe 4 für den Zeitraum Oktober bis Dezember 2012 beim BFI Tirol vorgelegt.

In rechtlicher Hinsicht führte die belangte Behörde nach Wiedergabe von § 66 Abs. 4 AVG und § 69 FPG sowie nach Darstellung von Rechtssätzen aus der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes Folgendes aus:

"In nunmehriger Beurteilung der relevanten Sachverhaltslage waren seit der im Jahr 2008 erfolgten Verhängung des Aufenthaltsverbotes wesentliche Umstände bei der Beurteilung des Persönlichkeitsbildes des (Mitbeteiligten) im Sinne der Schutzwürdigkeit des Privat- und Familienlebens zu berücksichtigen. Er ist mit einer österreichischen Staatsbürgerin verheiratet und führt nicht zuletzt auch wegen des bereits beschriebenen Krankheitsbildes seiner Gattin ein entsprechend verantwortungsbewusstes Familienleben mit ihr bzw. den beiden gemeinsamen Kindern. Dass der (Mitbeteiligte) arbeitswillig ist und auch bereits - soferne er die Möglichkeit erhielt - gearbeitet hat, konnte aus dem durchgeführten Beweisverfahren eruiert werden, eine künftige Arbeitszusage konnte beigebracht werden. Dass der (Mitbeteiligte) aus seinen begangenen Straftaten, die nunmehr über 5 1/2 Jahre zurückliegen, gelernt hat und ehrliche Reue zeigt, konnte ebenfalls anlässlich der durchgeführten öffentlichen, mündlichen Berufungsverhandlung festgestellt werden, ebenso wie seine Bereitwilligkeit, die deutsche Sprache, die ein wesentliches Integrationsmerkmal darstellt, zu erlernen.

Da bei Verhängung eines Aufenthaltsverbotes nach der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ein fairer Ausgleich zwischen den öffentlichen Interessen und den Privatinteressen der betreffenden Person gefunden werden muss, kommt der Achtung des Familienlebens besondere Bedeutung zu. Trotz der nunmehr über 5 1/2 Jahre zurückliegenden Verurteilung kommt dem (Mitbeteiligten), der in Österreich gemeinsam mit seiner Familie lebt, der Schutz des Art. 8 EMRK bzw. § 61 Abs 2 FPG zu Gute, sodass die von der Berufungsbehörde ermittelten Umstände zum Schutz des Privat- und Familienlebens im Vergleich zu dem noch nicht erreichten Integrationsmerkmal, der entsprechenden Beherrschung der deutschen Sprache, als vorrangig bzw. übergeordnet anzusehen waren.

Dies bedeutet im Ergebnis für die Berufungsbehörde, dass durchaus seit dem Jahr 2008 eine positive Änderung der maßgeblichen Umstände anzunehmen war, sodass davon ausgegangen werden kann, dass bei Führung eines geordneten Familienlebens und Ausübung einer beruflichen Tätigkeit mit entsprechender Entlohnung eine durchaus positive Prognose im Sinne des § 61 FPG erstellt werden konnte.

Insgesamt gesehen war somit spruchgemäß zu entscheiden."

Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde der Landespolizeidirektion Steiermark hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Erstattung einer Gegenschrift seitens der belangten Behörde - der Mitbeteiligte hat sich am verwaltungsgerichtlichen Verfahren nicht beteiligt - erwogen:

1. Dem bekämpften Bescheid ist zunächst anzulasten, dass die Fassung seines Spruches fehlerhaft ist. Die Bezugnahme auf § 66 Abs. 4 AVG lässt zwar erkennen, dass die belangte Behörde in der Sache selbst entscheiden wollte. Außerdem brachte sie unmissverständlich zum Ausdruck, dass der erhobenen Berufung des Mitbeteiligten Folge gegeben werden solle. Davon ausgehend hätte sich die belangte Behörde aber nicht mit einer bloßen Behebung des erstinstanzlichen Bescheides begnügen dürfen. Vielmehr wäre, um das offenkundig angestrebte Ergebnis korrekt zu formulieren, auszusprechen gewesen, dass in Entsprechung des Antrags des Mitbeteiligten und in Abänderung des erstinstanzlichen Bescheides das gegen diesen erlassene Aufenthaltsverbot aufgehoben werde.

2. Gemäß § 69 Abs. 2 FPG ist ein Aufenthaltsverbot auf Antrag oder von Amts wegen aufzuheben, wenn die Gründe, die zu seiner Erlassung geführt haben, weggefallen sind.

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kann ein Antrag nach § 69 Abs. 2 FPG auf Aufhebung eines Aufenthaltsverbotes nur dann zum Erfolg führen, wenn sich seit der Erlassung der Maßnahme die dafür maßgebenden Umstände zu Gunsten des Fremden geändert haben, wobei im Rahmen der Entscheidung über einen solchen Antrag auch auf die nach der Verhängung der Maßnahme eingetretenen und gegen die Aufhebung dieser Maßnahme sprechenden Umstände Bedacht zu nehmen ist. Bei der Entscheidung über die Aufhebung eines Aufenthaltsverbotes kann die Rechtmäßigkeit jenes Bescheides, mit dem diese Maßnahme erlassen wurde, nicht mehr überprüft werden (vgl. aus jüngerer Zeit etwa das hg. Erkenntnis vom 16. Mai 2013, Zl. 2011/21/0272).

Der gegenständlich bekämpfte Bescheid lässt nicht ausreichend deutlich erkennen, welche Änderungen die offenkundig von der belangten Behörde beabsichtigte Aufhebung des 2008 verhängten unbefristeten Aufenthaltsverbotes rechtfertigen sollen. Derartige Änderungen könnten vor allem darin bestehen, dass die vom Mitbeteiligten ausgehende Gefahr, die dem seinerzeitigen Aufenthaltsverbot zugrunde gelegt wurde, mittlerweile weggefallen ist oder sich maßgeblich reduziert hat. Es käme auch eine Verdichtung der privaten oder familiären Interessen des Mitbeteiligten in Betracht, sodass sich die Aufrechterhaltung des Aufenthaltsverbotes unter dem Blickwinkel des § 61 FPG als verfehlt erweisen würde.

Auf die Gefährdungslage ist die belangte Behörde indes nicht näher eingegangen. Lediglich ihre Ausführungen, der Mitbeteiligte habe aus den mittlerweile mehr als fünfeinhalb Jahre zurückliegenden Straftaten "gelernt" und ehrliche Reue gezeigt, sowie die Erwähnung einer positiven Prognose am Ende ihrer rechtlichen Ausführungen (dort allerdings im Zusammenhang mit § 61 FPG und an Bedingungen geknüpft) tangieren diese Thematik. Eine das beabsichtigte Ergebnis tragende Auseinandersetzung mit der Frage, ob und allenfalls warum - insbesondere unter Bedachtnahme auf die begangenen gravierenden Delikte und die seit der Tatbegehung einerseits und der Haftentlassung andererseits verstrichene Zeit unter Berücksichtigung einer allfälligen Änderung der Lebensverhältnisse des Mitbeteiligten - eine maßgebliche Gefahr nach dem konkret heranzuziehenden Gefährdungsmaßstab (§ 67 FPG) nicht mehr anzunehmen sei, ist den Überlegungen der belangten Behörde aber nicht zu entnehmen. Diese scheint vielmehr primär das Privat- und Familienleben des Mitbeteiligten im Auge gehabt zu haben, was nicht zuletzt durch die alleinige Bezugnahme auf § 61 FPG bzw. Art. 8 EMRK nahegelegt wird. Es wird jedoch auch in diesem Zusammenhang nicht ausreichend deutlich dargetan, warum unter Berücksichtigung der vorgenannten, für die Gefahrenbeurteilung in erster Linie maßgeblichen Umstände eine solche Gefahrenminderung anzunehmen sein soll, sodass die privaten und familiären Interessen des Mitbeteiligten das - nach wie vor bestehende - öffentliche Interesse an seiner Aufenthaltsbeendigung nunmehr überwiegen. Im Übrigen ist nicht zu erkennen, dass es seit Erlassung des Aufenthaltsverbotes 2008 zu einer maßgeblichen Änderung der privaten und familiären Verhältnisse des Mitbeteiligten gekommen ist. Wie in der Amtsbeschwerde richtig betont wird, war der Mitbeteiligte schon bei dessen Verhängung verheiratet und Vater zweier Kinder. Dass er nunmehr - wenngleich er sich festgestelltermaßen um seine Ehefrau und die beiden Kinder kümmert - von seinen Angehörigen (zumindest teilweise) getrennt lebt, hat jedenfalls nicht zu einer Verstärkung seines Familienlebens geführt. Was aber die weiter ins Treffen geführten Umstände anlangt, der Mitbeteiligte sei arbeitswillig und bereit, die deutsche Sprache zu erlernen, so ist hierin allenfalls eine beabsichtigte, nicht jedoch eine bereits erfolgte Integration, auf die im Rahmen des § 61 FPG im hier vorliegenden Zusammenhang als relevante "Änderungstatsache" Rücksicht genommen werden könnte, abzuleiten.

Auch insofern ist die belangte Behörde daher eine nachvollziehbare Begründung für eine maßgebliche Änderung, die zur Aufhebung des Aufenthaltsverbotes hätte führen können, schuldig geblieben. Der bekämpfte Bescheid war daher - wegen der prävalierenden Rechtswidrigkeit seines Inhaltes - gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 2. August 2013

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