VwGH 2011/23/0282

VwGH2011/23/028229.3.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Stöberl sowie die Hofräte Dr. Sulzbacher, Mag. Haunold, Mag. Feiel und Dr. Mayr als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Pitsch, über die Beschwerde des N, vertreten durch Dr. Markus Andreewitch, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Stallburggasse 4, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien vom 10. Juni 2008, Zl. E1/218.529/2008, betreffend Erlassung eines befristeten Aufenthaltsverbots, zu Recht erkannt:

Normen

FrPolG 2005 §60 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §66;
FrPolG 2005 §86 Abs1;
FrPolG 2005 §87;
VwGG §42 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §60 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §66;
FrPolG 2005 §86 Abs1;
FrPolG 2005 §87;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der im Jänner 1991 geborene Beschwerdeführer, ein serbischer Staatsangehöriger, reiste zuletzt im Jänner 2001 nach Erteilung einer Erstniederlassungsbewilligung für den Aufenthaltszweck "Familiengemeinschaft mit Österreicher" wieder in das Bundesgebiet ein, wo er sich seither aufhält. Zuvor waren ihm bereits vom 12. November 1995 bis 25. April 1999 befristete Aufenthaltsbewilligungen erteilt worden; seit 18. Jänner 2002 verfügt er über einen unbefristeten Aufenthaltstitel.

Der Beschwerdeführer absolvierte in Österreich ein Jahr Volksschule, vier Jahre Hauptschule sowie den polytechnischen Lehrgang. Er lebt mit seiner Mutter und seinem Bruder im gemeinsamen Haushalt; in Österreich wohnt auch sein Stiefvater, ein österreichischer Staatsbürger. Sein leiblicher Vater lebt in Deutschland, wo der Beschwerdeführer die ersten drei Jahre der Grundschule besuchte.

Am 6. Dezember 2007 wurde der Beschwerdeführer vom Landesgericht für Strafsachen Wien rechtskräftig wegen des Verbrechens des Raubes nach § 142 Abs. 1 StGB - teilweise als Beitragstäter nach § 12 dritte Alternative StGB - unter Anwendung des § 5 Z 4 JGG zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Monaten verurteilt, wovon acht Monate unter Setzung einer dreijährigen Probezeit bedingt nachgesehen wurden. Dieser Verurteilung lag zu Grunde, dass der Beschwerdeführer gemeinsam mit Mittätern am 29. August 2007 zwei anderen Personen unter Androhung von Gewalt je ein Mobiltelefon geraubt hatte, wobei er einmal dadurch zur Tatausführung beitrug, dass er Aufpasserdienste leistete und sich zum Eingreifen bereit hielt. Weiters wurde der Beschwerdeführer mit Urteil dieses Landesgerichtes vom 17. Dezember 2007 gemäß §§ 31, 40 StGB unter Bedachtnahme auf das zuvor genannte Urteil rechtskräftig wegen des Verbrechens des Raubes nach § 142 Abs. 1 StGB und des Vergehens des Diebstahls nach § 127 StGB zu einer Zusatzstrafe von sieben Monaten verurteilt, wobei ein Strafteil von sechs Monaten unter Setzung einer dreijährigen Probezeit bedingt nachgesehen wurde. Nach den Urteilsgründen hatten der Beschwerdeführer und Mittäter am 30. Jänner 2007 einem anderen Jugendlichen, nachdem sie ihm mit einer Plastikflasche ins Gesicht und mit den Fäusten gegen den Körper geschlagen und - als er am Boden lag - auf ihn eingetreten hatten, sein Mobiltelefon weggenommen, sowie am 27. Juni 2007 aus einem unversperrten Frisörsalon Kosmetikartikel und EUR 80,-- Bargeld gestohlen.

Im Hinblick auf diese Urteile erließ die Bundespolizeidirektion Wien gegen den Beschwerdeführer mit Bescheid vom 19. Februar 2008 gemäß § 60 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) ein auf die Dauer von zehn Jahren befristetes Aufenthaltsverbot.

Der dagegen vom Beschwerdeführer erhobenen Berufung gab die belangte Behörde mit dem angefochtenen Bescheid vom 10. Juni 2008 gemäß § 66 Abs. 4 AVG mit der Maßgabe keine Folge, dass sie das Aufenthaltsverbot auf § 87 iVm § 86 FPG stützte.

Nach Darstellung des unstrittigen Sachverhalts und der den Urteilen zu Grunde liegenden Straftaten führte die belangte Behörde begründend weiter aus, dass der Beschwerdeführer als Stiefkind eines Österreichers Familienangehöriger iSd § 2 Abs. 4 Z 12 FPG sei, sodass gemäß § 87 FPG die Bestimmungen der §§ 85 und 86 FPG anzuwenden seien. Dabei sei der Katalog des § 60 Abs. 2 FPG als Orientierungsmaßstab heranzuziehen und der Tatbestand des § 60 Abs. 2 Z 1 FPG unzweifelhaft verwirklicht. Das Gesamt-(fehl-)verhalten des Beschwerdeführers beeinträchtige erheblich die öffentliche Ordnung und Sicherheit, weshalb die Voraussetzungen zur Erlassung eines Aufenthaltsverbots - vorbehaltlich der §§ 61 und 66 FPG - (auch) nach § 86 Abs. 1 FPG gegeben seien. Sein Verhalten stelle jedenfalls eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die Grundinteressen der Allgemeinheit dar, sodass die gesetzte Maßnahme unbedingt erforderlich sei.

Da der Beschwerdeführer seit Jänner 2001 durchgehend im Bundesgebiet lebe und im Inland über familiäre Bindungen zu seiner Mutter und seinem Bruder verfüge, sei von einem mit dem Aufenthaltsverbot verbundenen Eingriff in sein Privat- "bzw." Familienleben auszugehen. Dessen ungeachtet - so die belangte Behörde weiter - sei die Erlassung des Aufenthaltsverbots zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele, nämlich zur Verhinderung weiterer strafbarer Handlungen sowie zur Aufrechterhaltung eines geordneten Fremdenwesens, dringend geboten und deshalb im Grunde des § 66 Abs. 1 FPG zulässig. Durch sein wiederkehrendes (gleich gelagertes) strafbares Verhalten sei erkennbar, dass der Beschwerdeführer nicht gewillt sei, die für ihn maßgebenden Rechtsvorschriften seines Gastlandes einzuhalten. Die von ihm ausgehende gegenwärtige und erhebliche Gefahr lasse keine Verhaltensprognose zu seinen Gunsten zu. Dies umso weniger, als er seine Straftaten in mehreren Angriffen "mit durchaus vorhandener höherer krimineller Energie" gesetzt habe.

Im Rahmen der Interessenabwägung nach § 66 Abs. 2 FPG nahm die belangte Behörde darauf Bedacht, dass sich der Beschwerdeführer zuletzt seit mittlerweile mehr als sieben Jahren im Bundesgebiet aufhalte. Ungeachtet dessen könne er sich aber nicht mit Erfolg auf eine daraus ableitbare relevante Integration berufen. Diese erfahre nämlich bereits durch den Umstand, dass die dafür erforderliche soziale Komponente durch sein strafbares Verhalten erheblich gemindert werde, eine wesentliche Relativierung. Es liege auch keine berufliche Integration vor, weil der Beschwerdeführer nach Abschluss der Pflichtschule lediglich zweieinhalb Monate als Lehrling und anschließend einen Tag als Arbeiter und 18 Tage als Angestellter beschäftigt gewesen sei. Seinen solcherart geschmälerten privaten und familiären Interessen stehe das hoch zu veranschlagende öffentliche Interesse an der Einhaltung der "straf- und fremdenrechtlichen" Normen gegenüber. Bei Abwägung dieser Interessenlage kam die belangte Behörde zum Ergebnis, dass die Auswirkungen eines Aufenthaltsverbots auf die Lebenssituation des Beschwerdeführers (und seiner Familie) keinesfalls schwerer wiegen würden als die gegenläufigen öffentlichen Interessen und damit die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von dieser Maßnahme. Auch im Rahmen des ihr eingeräumten Ermessens könne sie angesichts der dem Beschwerdeführer zur Last liegenden Straftaten selbst unter Berücksichtigung seiner familiären Situation seinen weiteren Aufenthalt nicht in Kauf nehmen. Abschließend kam die belangte Behörde zum Ergebnis, dass vor Verstreichen des festgesetzten Zeitraums ein Wegfall des für die Erlassung des Aufenthaltsverbots maßgeblichen Grundes, nämlich der massiven und gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit durch den Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet, nicht erwartet werden könne, sodass auch die von der Erstbehörde vorgenommene Befristung gerechtfertigt sei.

Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen:

Schon das in der Beschwerde unter dem Blickwinkel des § 66 Abs. 1 und 2 FPG (in der hier maßgeblichen Stammfassung) erstattete Vorbringen führt diese zum Erfolg. So wies der Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang - wie schon in der Berufung - u.a. darauf hin, dass er in Serbien über keine Verwandten und sonstige Bindungen verfüge und sein Familienleben ausschließlich in Österreich stattfinde.

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die beiden den Beschwerdeführer betreffenden Strafurteile zueinander im Verhältnis der §§ 31 und 40 StGB stehen, sodass sie - wie die Beschwerde auch zu Recht ins Treffen führt - als Einheit zu werten und nur als eine rechtskräftige Verurteilung anzusehen sind (vgl. das Erkenntnis vom 5. Juli 2011, Zl. 2008/21/0131, mwN). Der Beschwerdeführer ist somit als "Ersttäter" zu betrachten, der auch das erste Mal das Haftübel verspürt hat.

Zwar wurde der Beschwerdeführer wegen insgesamt vier Straftaten - die keineswegs verharmlost werden dürfen - verurteilt, wovon jedoch nur eine mit der Ausübung von körperlicher Gewalt verbunden war und wobei ein Großteil der verhängten Freiheitsstrafe bedingt nachgesehen wurde. Bei Begehung der Straftaten war der Beschwerdeführer erst 16 Jahre alt und auch bei Erlassung des angefochtenen Bescheides war er mit 17 Jahren und 4 Monaten noch minderjährig. Er hält sich - mit einer Unterbrechung von drei Jahren, in welchen er in Deutschland die Grundschule besuchte - seit 1995 (durchgehend seit 2001, also seit seinem zehnten Lebensjahr) rechtmäßig im Bundesgebiet auf. Insgesamt hat der Beschwerdeführer somit die Zeit beginnend ab dem fünften Lebensjahr im deutschsprachigen Raum verbracht. In Österreich schloss er seine Schulausbildung ab. Hier wohnen auch seine Mutter und sein Bruder, mit welchen er im gemeinsamen Haushalt lebt. Der (leibliche) Vater des Beschwerdeführers hält sich in Deutschland auf; dass er in seinem Heimatland noch nahe Familienangehörige oder andere Anknüpfungspunkte für eine Existenzgründung habe, wurde im angefochtenen Bescheid nicht festgestellt.

Im Hinblick auf diese massiven persönlichen Bindungen des Beschwerdeführers im Bundesgebiet und deren Fehlen im Heimatland erweist sich das verhängte Aufenthaltsverbot trotz der Schwere der Straftaten als unverhältnismäßig (vgl. unter dem Gesichtspunkt eines Begründungsmangels das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 24. September 2009, Zl. 2008/18/0782).

Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufzuheben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 29. März 2012

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