VwGH 2011/21/0098

VwGH2011/21/009820.3.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Dobner, über die Beschwerde des F in W, vertreten durch Edward W. Daigneault, Rechtsanwalt in 1160 Wien, Lerchenfelder Gürtel 45/11, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien vom 15. März 2011, Zl. UVS-01/29/8796/2010-3, betreffend Schubhaft (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

FrPolG 2005 §76 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §76 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Algeriens, reiste am 27. November 2002 in das Bundesgebiet ein und beantragte am 2. Dezember 2002 unter dem Alias-Namen S.Z. sowie am 23. Jänner 2003 unter dem Alias-Namen B.B. erfolglos die Gewährung von Asyl. Bereits mit (unbekämpft in Rechtskraft erwachsenem) Bescheid vom 22. Jänner 2004 hatte die Bundespolizeidirektion Wien gegen den Beschwerdeführer gemäß § 36 Abs. 1 und 2 Z. 7 des Fremdengesetzes 1997 (FrG), also gestützt auf Mittellosigkeit, ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Aufenthaltsverbot erlassen. Mit im Instanzenzug ergangenem Bescheid vom 8. September 2008 erließ die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien dann gegen den Beschwerdeführer im Hinblick auf strafgerichtliche Verurteilungen gemäß § 60 Abs. 1 und 2 Z. 1 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 - FPG ein auf zehn Jahre befristetes Aufenthaltsverbot. Eine dagegen erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 19. Februar 2009, Zl. 2008/18/0708, dem die Einzelheiten dieses Verfahrens entnommen werden können, als unbegründet abgewiesen.

Am 13. Mai 2010 heiratete der Beschwerdeführer in Österreich unter seinem richtigen Namen die österreichische Staatsbürgerin S. Am 7. März 2011 wurde in Wien die gemeinsame Tochter R, eine österreichische Staatsbürgerin, geboren.

Über - im Weg der Österreichischen Botschaft in Algier - am 11. Juli 2010 gestellten Antrag war dem Beschwerdeführer, gestützt auf die genannte Eheschließung, ein Aufenthaltstitel "Familienangehöriger" mit Gültigkeit vom 30. August 2010 bis zum 4. Jänner 2011 erteilt worden. Unter Verwendung eines ihm von der Österreichischen Botschaft in Algier ausgestellten Visums D reiste der Beschwerdeführer am 19. September 2010 über den Flughafen Wien-Schwechat nach Österreich ein, übernahm am Tag darauf den genannten Aufenthaltstitel und begründete seinen Wohnsitz - gemeinsam mit seiner österreichischen Ehefrau - in Wien.

Mit - am selben Tag in Vollzug gesetztem - Bescheid vom 21. September 2010 ordnete die Bundespolizeidirektion Wien über den Beschwerdeführer gemäß § 76 Abs. 1 FPG die Schubhaft zur Sicherung seiner Abschiebung an.

Begründend führte sie nach Zitierung des § 76 Abs. 1 Satz 1 FPG aus, der Beschwerdeführer halte sich "seit 07.08.2004 nicht rechtmäßig im Bundesgebiet auf", weil die Asylbehörde seinen Asylantrag rechtskräftig abgewiesen habe und er über keinen Aufenthaltstitel oder ein sonstiges Aufenthaltsrecht verfüge. Der Beschwerdeführer habe in vollem Bewusstsein, dass sein Aufenthalt in Österreich nicht gestattet sei, eine österreichische Staatsbürgerin geheiratet und einen Aufenthaltstitel erwirkt. Dabei habe er jedoch - wie er schon früher ein gefälschtes französisches Reisedokument verwendet habe, um ein Aufenthaltsrecht vorzutäuschen und einer Arbeit nachgehen zu können - Behörden über das Bestehen des (zuletzt) erwähnten Aufenthaltsverbotes getäuscht. Auch gehe er keiner legalen Beschäftigung nach. Er sei offenkundig nicht gewillt, das Bundesgebiet zu verlassen, sodass eine Abschiebung gemäß § 46 FPG zulässig sei. Die Verhängung der Schubhaft zur Sicherung des bzw. der fremdenpolizeilichen Verfahren sei somit notwendig, weil zu befürchten sei, dass er sich den weiteren fremdenrechtlichen Verfahren bzw. den Maßnahmen zu entziehen trachten werde, zumal er seiner Ausreiseverpflichtung nicht nachgekommen sei.

Die Anordnung eines gelinderen Mittels gemäß § 77 FPG komme - so die Bundespolizeidirektion Wien weiter - nicht in Betracht, weil im Hinblick auf die bisherigen Täuschungshandlungen des Beschwerdeführers kein Grund zur Annahme bestehe, dass der Zweck der Schubhaft auch durch deren Anwendung erreicht werden könne. Die familiären Bindungen zu seiner "erst am 13.05.2010 geehelichten Frau" seien nicht geeignet zu verhindern, dass er sich weiteren fremdenpolizeilichen Maßnahmen entziehen werde, weil er "im Bundesgebiet über keine geeigneten weiteren Bindungen, insbesondere berufliche, verfüge".

Gegen diesen Bescheid und seine Anhaltung in Schubhaft erhob der Beschwerdeführer am 22. September 2010 Schubhaftbeschwerde, in der er auf den erwähnten Aufenthaltstitel und das Visum verwies, unter dessen Verwendung er am 19. September 2010 legal nach Österreich eingereist sei. Der rechtskräftige Aufenthaltstitel verdränge als spätere Norm die Rechtswirkungen eines zuvor verhängten Aufenthaltsverbotes. Er halte sich somit rechtmäßig in Österreich auf und habe in der Ehewohnung bei seiner Gattin, wo er auch festgenommen worden sei, gewohnt. Es bestehe daher kein Anlass für die Annahme eines möglichen Untertauchens, zumal die Polizei ihre Kontrolle telefonisch angemeldet und er danach "pflichtgemäß auf die Beamten gewartet" habe. Ein gewolltes Untertauchen sehe anders aus. Jedenfalls hätte eine Schubhaft durch ein gelinderes Mittel substituiert werden können.

Am 23. September 2010 wurde der Beschwerdeführer daraufhin aus der Schubhaft entlassen.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 15. März 2011 wies die belangte Behörde die Schubhaftbeschwerde gemäß § 83 Abs. 1 und 2 FPG als unbegründet ab.

In ihrer Begründung teilte sie die Ansicht des Beschwerdeführers, dass sein rechtskräftiger Aufenthaltstitel als spätere Norm die Rechtswirksamkeit des zuvor verhängten Aufenthaltsverbotes verdränge. Hier sei dieser jedoch nur deshalb erteilt worden, weil der Beschwerdeführer unter einer "Mehrzahl von Identitäten" aufgetreten sei und die Behörde bewusst über das Bestehen eines Aufenthaltsverbotes getäuscht habe. Die Fremdenbehörde habe daher mit gutem Grund davon ausgehen dürfen, dass die - das Aufenthaltsverbot beseitigende - Wirkung des Aufenthaltstitels keinen Bestand haben und die Durchsetzbarkeit des Aufenthaltsverbotes nur für kurze Zeit gehemmt sein werde. Auch liege die Annahme, dass sich der Beschwerdeführer - etwa unter Verwendung eines fremden Ausweises - dem behördlichen Zugriff zu entziehen trachten werde, nach seinem bisherigen Verhalten auf der Hand. Die Ehe mit einer Österreicherin stehe dieser Annahme nicht entgegen, weil "ein solches Verhalten auch in Absprache mit seiner Ehefrau möglich" erscheine. Auch fehle die Ausreisebereitschaft infolge der erwähnten Ehe umso mehr. Insgesamt erweise sich die Schubhaft zur Überwachung der Ausreise des Beschwerdeführers als erforderlich. Deren Zweck könne durch Anwendung eines gelinderen Mittels nicht erreicht werden.

Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen:

§ 76 Abs. 1 FPG in der hier noch maßgeblichen Fassung vor dem FrÄG 2011 lautet:

"Schubhaft

§ 76. (1) Fremde können festgenommen und angehalten werden (Schubhaft), sofern dies notwendig ist, um das Verfahren zur Erlassung eines Aufenthaltsverbotes oder einer Ausweisung bis zum Eintritt ihrer Durchsetzbarkeit oder um die Abschiebung, die Zurückschiebung oder die Durchbeförderung zu sichern. Über Fremde, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten, darf Schubhaft verhängt werden, wenn auf Grund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, sie würden sich dem Verfahren entziehen."

Da dem Beschwerdeführer (wenn auch unter einer neuen Identität und unbeschadet der Frage ihres rechtlichen Fortbestandes) ein Aufenthaltstitel erteilt worden war, lag gegen ihn bei Erlassung des Schubhaftbescheides am 21. September 2010 und während des Vollzuges der Schubhaft bis zum 23. September 2010 kein durchsetzbares Aufenthaltsverbot vor. Der in Rechtskraft erwachsene Aufenthaltstitel verdrängte nämlich - wie die belangte Behörde zutreffend dargelegt hat - als spätere Norm die Rechtswirksamkeit des zuvor erlassenen Aufenthaltsverbotes für die Dauer der Geltung des Titels (vgl. dazu etwa die hg. Erkenntnisse vom 31. März 2008, Zl. 2008/21/0123, vom 30. April 2009, Zl. 2008/21/0549, und vom 30. August 2011, Zl. 2008/21/0552).

Infolge des erwähnten Aufenthaltstitels "Familienangehöriger" hielt sich der Beschwerdeführer bei Schubhaftverhängung rechtmäßig im Bundesgebiet auf. In dem die Schubhaft anordnenden Bescheid vom 21. September 2010 wurde daher verfehlt die Unrechtmäßigkeit seines Aufenthaltes unterstellt und daraus die Anwendbarkeit des § 76 Abs. 1 Satz 1 FPG gefolgert.

Wesentlich ist aber vor allem, dass die Schubhaft allein zur Sicherung der Abschiebung des Beschwerdeführers verhängt wurde. Für eine Abschiebung ermangelte es aber nach dem Gesagten an einem aktuell durchsetzbaren Titel, weshalb der bekämpfte Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben war.

Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 20. März 2012

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