VwGH 2010/21/0286

VwGH2010/21/028620.10.2011

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Senft, über die Beschwerde der Bundesministerin für Inneres gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates des Landes Oberösterreich vom 11. Juni 2010, Zl. VwSen-400740/60/Gf/Mu, betreffend medizinische Versorgung während des Vollzuges der Schubhaft (mitbeteiligte Partei: L, vertreten durch Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6), zu Recht erkannt:

Normen

B-VG Art131;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGG §63 Abs1;
B-VG Art131;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGG §63 Abs1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

Y, ein am 2. März 1987 geborener Staatsangehöriger von Gambia, ist während des Vollzuges einer mit Bescheid vom 8. September 2005 verhängten und am 12. September 2005 in Vollzug gesetzten Schubhaft am 4. Oktober 2005 im polizeilichen Anhaltezentrum Linz (kurz: PAZ) verstorben.

Mit im ersten Rechtsgang ergangenem Bescheid vom 13. Februar 2006 stellte die belangte Behörde über Beschwerde des Mitbeteiligten, der behauptete, ein Bruder des Y zu sein, soweit im vorliegenden Zusammenhang von Bedeutung, fest, dass die Anhaltung des Y in Schubhaft "diesen hinsichtlich ihrer Art und Weise in seinem gemäß Art. 3 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Schutz vor unmenschlicher Behandlung verletzte".

In ihrer Begründung legte die belangte Behörde (zusammengefasst) dar, am 28. September 2005 sei Y, wie aus der "Meldung" des Stadtpolizeikommandos (PAZ) vom 4. Oktober 2005 hervorgehe, "ohne Angabe von Gründen" in den Hungerstreik getreten. Daraufhin seien ihm Merkblätter über die Folgen eines Hungerstreiks in seiner Muttersprache ausgefolgt worden, Vertreterinnen des Vereines "Menschenrechte Österreichs" hätten mehrere Betreuungsgespräche mit ihm geführt.

Laut "Aufnahmeuntersuchung" am 12. September 2005 habe der 1,7 m große Y ein Gewicht von 76,5 kg aufgewiesen. Am ersten Tag des Hungerstreiks (28. September 2005) sei - so das "Hungerstreik-Formular" - ein Wert von 67 kg und als "individuelles kritisches Gewicht" ein Wert von 54 kg festgehalten, der am 4. Oktober 2005 (59 kg nach einem kontinuierlichen Gewichtsverlust von insgesamt 17,2 kg über die 22 Tage dauernde Schubhaft hinweg) noch nicht erreicht gewesen sei. Die Zunge des Y sei (mit Ausnahme am 2. Oktober 2005) stets feucht, seine Lippen seien am 3. Oktober 2005 "borkig" gewesen. Es sei festgehalten worden, dass er Widerstand geleistet oder simuliert hätte.

Am 4. Oktober 2005 sei Y daraufhin (gemäß der zuvor genannten Meldung vom 4. Oktober 2005) zwecks Abklärung seines Allgemeinzustandes ("Gibt sich hinfällig, muss von 2 Personen gestützt werden, Gewichtskontrolle daher nicht genau möglich. Zunge trocken, Lippen borkig. Ambulante fachärztliche Begutachtung erb. Event. Blutkontrolle, Jonogramm erb.") und der Frage der weiteren Haftfähigkeit aus fachärztlicher Sicht um

9.30 Uhr ambulant in das Allgemeine Krankenhaus Linz (kurz: AKH) überstellt worden. Da er sich dieser Untersuchung habe widersetzen wollen und ua. mit den Füßen gegen eine Krankenschwester getreten habe, hätten ihm Hand- und Fußfesseln angelegt werden müssen. Laut Untersuchungsbefund des AKH sei die "Flüssigkeitszufuhr nicht eruierbar" und die "Kommunikation schwierig" gewesen, weil Y nicht Deutsch gesprochen habe. Außerdem habe er trockene Lippen und die Augen stets geschlossen gehalten gehabt. Insgesamt habe er sich unkooperativ erwiesen, ein Gehen sei jedoch "mit Führung" möglich erschienen. Bei Verschlechterung des Allgemeinzustandes sei eine "Zwangsernährung (Psychiatrie)" erforderlich gewesen, weil Y zeitweise um sich geschlagen habe, weshalb die schließlich doch durchgeführte Blutabnahme schwierig bzw. riskant gewesen sei.

Nach Rückkehr in seine Zelle im PAZ um 11.00 Uhr sei Y in Abständen zwischen 15 und 30 Minuten kontrolliert worden. Bei der Kontrolle um 12.30 Uhr habe er jedenfalls auf das Öffnen der Zellentür noch reagiert. Um 12.50 Uhr sei festgestellt worden, dass er nicht mehr geatmet habe und kein Puls wahrnehmbar sei. Die verständigte Notärztin und die Polizeiärzte hätten um 13.10 Uhr den Tod des Y festgestellt.

Aus dem Obduktionsprotokoll vom 5. Oktober 2005 gehe hervor, dass nach dem äußeren Erscheinungsbild des Y keine "wesentliche akute Unterernährung" vorliege und prima vista auch keine Anzeichen einer "klassischen Austrocknung" feststellbar gewesen seien. Aus einem danach erstellten ärztlichen Sachverständigengutachten folge, dass nach dem äußeren Erscheinungsbild und den klinischen Befunden bei Y bis zum 4. Oktober 2005 eine lebensbedrohliche Situation nicht zwingend erkennbar gewesen sei. Nachdem Gewalteinwirkung, Alkohol oder Drogen als Todesursache mangels irgendwelcher Indizien ausgeschlossen werden könnten, habe sich die letztlich zum Tod führende "Entgleisung im Elektrolytsystem nämlich nicht schlagartig entwickeln können", sondern es müsste sich um eine über mehrere Tage fortschreitende diesbezügliche Störung gehandelt haben, die rein funktionell noch lange Zeit habe kompensiert werden können. Letztlich sei es jedoch plötzlich - vermutlich auf Grund einer akuten Herzrhythmusstörung - zum Herztod gekommen, wobei dieses Geschehen nur dann hätte verhindert werden können, wenn schon frühzeitig eine Laboruntersuchung vorgenommen worden wäre. Dazu hätte es zwar in (bloßer) Kenntnis des "Hungerstreikprotokolls" keine zwingende Veranlassung gegeben, doch hätte der im AKH erhobene Laborbefund, der ua. erhöhte Kaliumwerte ausgewiesen habe und damit eine Verschiebung im Elektrolytsystem habe vermuten lassen, offenkundig einer entsprechenden Überprüfung bedurft, wozu es jedoch auf Grund des plötzlichen Ablebens nicht mehr gekommen sei.

Eine dem entsprechend postmortal durchgeführte klinische Laboruntersuchung habe eine erblich determinierte Störung im blutbildenden System (sog. "Sichelzellenanämie") ergeben, die zu Lebzeiten des Y jedoch - wie häufig bei Personen mit schwarzer Hautfarbe - nur latent vorhanden gewesen sei (sog. "Sichelzellenanlage"). Diese hätte ex ante nur im Wege eines Sichelzellentests entdeckt werden können und habe bei Hinzutreten schädigender Ereignisse (wie etwa Sauerstoff- oder Flüssigkeitsmangel, Austrocknung) Symptome entwickeln können, die fallweise auch tödliche Folgen nach sich ziehen. Infolge der durch den Hungerstreik eingeschränkten Nahrungs-, insbesondere der verminderten Flüssigkeitszufuhr sei es unter diesen Voraussetzungen zu einer Konglomeration der roten Blutzellen und zu Durchblutungsstörungen in den verschiedenen Organsystemen sowie zu einem Blutzellzerfall gekommen. Das Zusammenwirken von Sichelzellenanlage und Flüssigkeitsmangel habe somit eine permanent fortschreitende Störung im Elektrolythaushalt zur Folge gehabt, die zwar vorerst auf Grund der an sich guten körperlichen Konstitution des Y noch habe kompensiert werden können, letztlich jedoch zum Todeseintritt durch akutes Herzversagen geführt habe.

Ergänzend sei aus der "Einvernahme sämtlicher Personen, mit denen (Y) bis zu seinem Ableben in Kontakt stand" festzustellen, dass Y weder krank noch schwach, sondern im Gegenteil sogar noch am 4. Oktober 2005 athletisch und kräftig wirkte. Aus der Aussage der Mitarbeiterinnen des Vereines "Menschenrechte Österreich" gehe hervor, dass Y auch nach einer Woche Hungerstreik noch "das gleiche, runde Gesicht" gehabt habe und nie Folter- oder Misshandlungsvorwürfe erhoben habe.

Auf Grund des körperlichen Zustandes des Y sei davon auszugehen, dass er während der Dauer des Hungerstreiks "zumindest gelegentlich etwas Flüssigkeit und wohl auch etwas Nahrung zu sich genommen hat".

Rechtlich argumentierte die belangte Behörde im ersten Rechtsgang, wenn es ein Staat unternehme, seine "Organe und Organwalter" dazu zu ermächtigen, die Freiheit von Personen in einer Art und Weise zu beschränken, dass diese nicht mehr in vollem Umfang aus eigenem für sich selbst sorgen könnten, dann übernehme er damit gleichzeitig die Pflicht, diesen Menschen jene Bedürfnisse zu erfüllen, die nicht in einem unmittelbaren Widerspruch zum Zweck der Freiheitseinschränkung stünden. Dies umfasse es, den Betroffenen eine solche medizinische Betreuung zukommen zu lassen, wie sie "üblicherweise dem Standard seines Wohlfahrtsystems" entspreche. Andernfalls läge eine unmenschliche Behandlung und damit eine Verletzung des Art. 3 EMRK vor. Ein der EMRK verpflichteter Staat habe "jeweils in verschiedener Form rechtlich dafür einzustehen", wenn sich im Einzelfall ergebe, dass die der Freiheitsbeschränkung korrelierende Fürsorgepflicht im Ergebnis in nicht ausreichendem Ausmaß realisiert worden sei, und zwar einerlei, ob auf Grund eines kollektiven oder individuell vorwerfbaren Fehlverhaltens.

Wie sich "aus dem vorangeführten ärztlichen Sachverständigengutachten" (Anmerkung: Obduktionsprotokoll vom 5. Oktober 2005) zweifelsfrei ergebe, habe Y an einer bis zu seinem Tod unerkannt gebliebenen latenten Sichelzellenanämie gelitten, die sich ex ante (nur) im Wege prophylaktischer Tests hätte feststellen lassen können. Derartige Vorsorgeuntersuchungen unter gleichzeitiger Wahrung der ärztlichen Schweigepflicht durchzuführen, sei in Bezug auf Schubhäftlinge weder durch generelle noch durch individuelle Rechtsvorschriften geboten oder vorgesehen, obwohl diese Tests nicht besonders kostenintensiv seien. Unter den speziell mit Gesundheitsfragen befassten Stellen gehöre es "seit geraumer (Zeit) zum Allgemeingut" bzw. müsste es dazu gehören, "dass die Sichelzellenanämie eine nahezu ausschließlich bei Schwarzafrikanern (und das wiederum in einem nicht zu vernachlässigenden Ausmaß) vorkommende Erbkrankheit (sei), sodass also Schubhäftlinge aus diesen Gebieten ebenso wie im Hinblick auf Aids eine spezifische Risikogruppe (bildeten). Dies (gelte) in Bezug auf eine Sichelzellenanämie insbesondere dann, wenn eine auf Grund eines Hungerstreiks drohende Exsikkose als zusätzlicher Risikofaktor (hinzutrete)". Es wäre somit, hätte der Tod des Y doch nicht anders verhindert werden können, ein "Suchttest bzw. eine Hämoglobinelektrophorese und in der Folge eine Zwangsernährung" anzuordnen gewesen, um den Blutzellenzerfall zu vermeiden. Da dies nicht geschehen sei, sei Y, der Bruder des Mitbeteiligten, gerade dadurch in seinem verfassungsmäßig unbeschränkt geschützten Recht auf eine menschenwürdige Behandlung verletzt worden.

Mit im ersten Rechtsgang ergangenem Erkenntnis vom 30. August 2007, Zl. 2006/21/0054 (= VwSlg. 17.256 A/2007), dem die weiteren Einzelheiten des Verfahrens und die Rechtslage entnommen werden können, hob der Verwaltungsgerichtshof den oben wiedergegebenen feststellenden Ausspruch über Amtsbeschwerde der Bundesministerin für Inneres gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften auf. Begründend überband er folgende Rechtsansicht:

"Aus § 7 sowie § 10 Abs. 2 AnhO geht hervor, dass die dem Bund obliegende Pflicht zur Gewährleistung der medizinischen Versorgung ua. von Schubhäftlingen in erster Linie durch die Vermittlung der notwendigen ärztlichen Hilfe (Veranlassung der Untersuchung und Bekanntgabe des Untersuchungsergebnisses) zu erfolgen hat (vgl. die allgemeinen Ausführungen des zur früheren Rechtslage ergangenen hg. Erkenntnisses vom 27. März 1998, Zl. 95/02/0506). Weiters ist, wie sich schon aus Art. 3 EMRK ergibt, gemäß § 4 Abs. 1 AnhO die Menschenwürde des Häftlings zu wahren. Durch die Verletzung der genannten Bestimmungen können fallbezogen dessen Rechte verletzt werden (vgl. das hg. Erkenntnis vom 3. Dezember 2002, Zl. 2000/01/0379).

Allein die Anhaltung einer Person (in Schubhaft) führt jedoch nach den mit der EMRK im Einklang stehenden dargestellten Regelungen des positiven Rechts nicht zu einer Erweiterung von Fürsorgepflichten des Staates dergestalt, dass solche auch objektiv bei gehöriger Sorgfalt nicht als notwendig erkennbare Maßnahmen auf Grund von Veranlagungen des Häftlings zum späteren Ausbruch von Krankheiten umfassten."

Die belangte Behörde sei - so wurde im genannten Erkenntnis weiter ausgeführt - davon ausgegangen, dass es jedenfalls unter den "speziell mit Gesundheitsfragen befassten Stellen seit geraumer (Zeit) zum Allgemeingut" gehöre bzw. gehören müsste, dass die Sichelzellenanämie eine nahezu ausschließlich bei Schwarzafrikanern (und dort wiederum in einem nicht zu vernachlässigenden Ausmaß) vorkommende Erbkrankheit sei, sodass also Schubhäftlinge aus diesen Gebieten ebenso wie im Hinblick auf AIDS eine spezifische Risikogruppe bildeten. Im Hinblick darauf hätte - so die Ansicht der belangten Behörde im ersten Rechtsgang -

bei Einhaltung der objektiv gebotenen Sorgfalt spätestens zu Beginn des Hungerstreiks zumindest ein Suchtest bzw. eine Hämoglobinelektrophorese und in der Folge eine Zwangsernährung angeordnet werden müssen, um den Blutzellenzerfall zu vermeiden. Dies alles sei effektiv nicht geschehen.

Dem trete - so argumentierte der Verwaltungsgerichtshof - die Amtsbeschwerdeführerin zu Recht entgegen. Die von der belangten Behörde getroffenen Feststellungen, die eine Erkennbarkeit der Notwendigkeit weitergehender medizinischer Maßnahmen bejahten, seien (was näher dargestellt wurde) nicht mängelfrei getroffen worden.

Die weiters aufgeworfene Frage, so legte der Verwaltungsgerichtshof abschließend dar, ob die Angehörigeneigenschaft des Mitbeteiligten (als Bruder des Y) ausreichend von Amts wegen geklärt worden war oder zusätzlicher Beweisaufnahmen bedurft hätte, könne dahingestellt bleiben: Das weitere Verfahren werde nämlich ohnedies Gelegenheit bieten, entsprechende Beweisanträge (Einholung eines DNA-Tests, Anfrage an die Vertretungsbehörde Gambias zur Verifizierung der Daten) zu stellen.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 11. Juni 2010 stellte die belangte Behörde gemäß "§ 67c Abs. 3 AVG" fest, der sich zuvor bereits in einem "wochenlangen" Hungerstreik befunden habende Bruder des Beschwerdeführers sei durch die Unterlassung von zweckgerichteten und effektiven Maßnahmen zur Entdeckung und Behandlung seiner Krankheit während seiner Anhaltung in Schubhaft in seinem nach Art. 3 EMRK verfassungsmäßig unbeschränkt geschützten Recht auf eine menschenwürdige Behandlung verletzt worden.

Nach Darstellung des bisherigen Verfahrens führte die belangte Behörde aus, der Polizeidirektor von Linz habe die Ansicht vertreten, jene aus der Anhalteordnung resultierende Garantenstellung könne nicht einer solchen gleichgestellt werden, wie sie bei Krankenanstalten gegeben sei. Sogar in Krankenanstalten würde - selbst bei einem Schwarzafrikaner - eine Untersuchung auf Sichelzellenanämie (insbesondere eine Hämoglobin-Elektrophorese) keineswegs "obligatorisch", sondern nur bei Vorliegen entsprechend konkreter Verdachtsmomente durchgeführt. Daher könne die Fremdenpolizeibehörde eine dementsprechende Verpflichtung erst recht nicht treffen; vielmehr beschränke sich deren medizinische Versorgungspflicht auf jenen Standard, wie er einer hausärztlichen Betreuung entspreche.

Beweisanträge zur Klärung der Angehörigeneigenschaft des Mitbeteiligten seien, so die belangte Behörde, nicht gestellt worden.

Rechtlich führte die belangte Behörde Folgendes aus:

"Zwar ist zuzugestehen, dass jene aus der AnhO erfließende Garantenstellung grundsätzlich nicht einer solchen gleichgestellt werden kann, wie sie bei Krankenanstalten gegeben ist, weil sich dies schon aus den unterschiedlichen Zielsetzungen dieser beiden Einrichtungen ergibt.

Dies ändert jedoch nichts daran, dass - diesen beiden Aspekten gleichsam 'übergeordnet' - den Staat dann eine besondere, überdurchschnittliche Fürsorgepflicht trifft, wenn er im Wege einer Inhaftierung einen Menschen daran hindert, selbst für die Bedürfnisse des täglichen Lebens zu sorgen und der Primärzweck dieser Anhaltung nicht in einer Sanktion für ein gravierend rechtswidriges Verhalten, sondern nur darin besteht, eine geplante Außerlandesschaffung effektiv zu sichern. Die mit dieser qualifizierten Fürsorgepflicht einhergehende Wachsamkeit für die nötige Obsorge ist dabei selbstredend umso größer, je offensichtlicher jeweils ein entsprechender Bedarf des Betroffenen besteht. Ob die entsprechenden Hilfeleistungen dann unmittelbar durch das Haftvollzugspersonal oder extern - z.B. durch Verbringung in eine Krankenanstalt - oder im Wege einer dementsprechenden Kombination beider Möglichkeiten erbracht werden, ist dabei zweitrangig; entscheidend ist lediglich, dass sie im günstigsten Fall im Ergebnis erfolgreich waren bzw. im ungünstigsten Fall zumindest das den konkreten Umständen entsprechende Menschenmögliche getan wurde, um den Eintritt eines derartigen Erfolges objektiv als sehr wahrscheinlich prognostizieren zu lassen.

Im gegenständlichen Fall ist der belangten Behörde zwar auch zuzugestehen, dass gleichsam 'unter normalen Umständen' nicht an das Vorliegen einer Sichelzellenanämie beim Bruder des (Mitbeteiligten) zu denken gewesen wäre und sohin 'standardmäßig' auch keine spezifisch darauf gerichteten Untersuchungen hätten durchgeführt werden müssen.

Der Oö. Verwaltungssenat hat jedoch bereits in seiner o. a. Entscheidung vom 13. Februar 2006 ... darauf hingewiesen, dass es im vorliegenden Zusammenhang gerade nicht um die Beurteilung eines allfälligen schuldhaften, d.h. persönlich vorwerfbaren Verhaltens, sondern darum geht, einen objektiven, gleichsam 'systembedingten' Fehler aufzuzeigen, der im Ergebnis auch zu einer Rechtswidrigkeit führt (den die belangte Behörde hier nur deshalb prozessual zu 'vertreten' hat, weil sich der entscheidungsrelevante Sachverhalt eben in deren Wirkungsbereich ereignet hat): Die Garantenpflicht für Inhaftierte hätte nämlich bedingt, schon auf der Ebene der generellen Rechtsvorschriften (Gesetz, Verordnung, Erlass) eine entsprechend wirksame Vorsorge dafür zu treffen, dass beim Vorliegen besonderer Umstände stets auch dementsprechend effektive Hilfsmaßnahmen zum Tragen kommen.

Im gegenständlichen Fall, wo sich der Bruder des (Mitbeteiligten) schon wochenlang im Hungerstreik befand, was auch zu einer entsprechenden Gewichtsabnahme und Austrocknungserscheinungen geführt hatte, und er zudem aus einem Risikogebiet stammte, konnte offenkundig - wie die belangte Behörde meint - mit einer medizinischen Versorgungspflicht bloß auf jenem Standard, wie er einer hausärztlichen Betreuung entspricht, nicht das Auslangen gefunden werden, resultierte diese dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit entsprechende, im Vergleich zum 'normalen' Strafvollzug vergleichsweise qualifizierte Fürsorgepflicht doch schon daraus, dass die Freiheitsentziehung hier nicht aus Anlass (des Verdachtes) der Begehung einer ins Gewicht fallenden strafbaren Handlung, sondern nur auf Grund eines wertungsmäßig schon a priori wesentlich weniger gerechtfertigten Ausnahmetatbestandes (vgl. Art. 2 Abs. 1 Z. 1 bis Z. 3 PersFrSchG gegenüber Art. 2 Abs. 1 Z. 4 bis Z. 7 PersFrSchG andererseits) erfolgen durfte (nämlich: Art. 2 Abs. 1 Z. 7 PersFrSchG).

Gerade dadurch, dass aber selbst für solche Extremfälle allgemeinverbindliche Anordnungen für eine zweckentsprechende behördliche Vorgangweise fehlten, sodass den Vollzugsorganen ein unmittelbar auf eine spezifische gesetzliche oder sonstige generelle Grundlage gestütztes grundrechtskonformes Handeln nicht möglich war - vielmehr hätte dieses unmittelbar auf die Verfassung gegründet werden müssen -, wurde der Bruder des (Mitbeteiligten) hier im Ergebnis in seinem gemäß Art. 3 EMRK gewährleisteten Recht auf Schutz vor einer unmenschlichen Behandlung verletzt. …

Schließlich ist der belangten Behörde auch entgegen zu halten, dass eine mit einem Eingriff in die körperliche Unversehrtheit verbundene Untersuchung (wie eine Blutabnahme zwecks Hämoglobin-Elektrophorese) auch nur dann gegen Art. 3 EMRK verstoßen würde, wenn diese gegen den - explizit in dieser Weise geäußerten - gegenteiligen Willen des Angehaltenen durchgeführt würde; eine dementsprechende Aufklärung oder ein bloßes Anbieten einer derartigen Behandlung geriete hingegen mit Art. 3 EMRK keinesfalls in Widerspruch.

Aus allen diesen Gründen hatte der Oö. Verwaltungssenat daher gemäß § 67c Abs. 3 AVG festzustellen, dass der sich bereits zuvor in einem wochenlangen Hungerstreik befunden habende Bruder des (Mitbeteiligten) durch die Unterlassung von zweckgerichteten und effektiven Maßnahmen zur Entdeckung und Behandlung seiner Krankheit (Sichelzellenanämie) während seiner Anhaltung in Schubhaft in seinem nach Art. 3 EMRK verfassungsmäßig unbeschränkt geschützten Recht auf eine menschenwürdige Behandlung verletzt wurde."

(Anonymisierungen durch den Verwaltungsgerichtshof)

Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde der Bundesministerin für Inneres hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Erstattung von Gegenschriften durch die belangte Behörde und den Mitbeteiligten erwogen:

Der belangten Behörde ist zunächst darin beizupflichten, dass auch im zweiten Rechtsgang - trotz Hinweises durch den Verwaltungsgerichtshof im zitierten Erkenntnis vom 30. August 2007 - keine konkreten Beweisanträge (etwa auf Einholung eines DNA-Gutachtens oder Anfrage an die Vertretungsbehörde Gambias zur Verifizierung der Daten) gestellt bzw. entsprechende Urkunden vorgelegt wurden, um die (basierend auf einer schlüssigen Beweiswürdigung) angenommene Angehörigeneigenschaft zwischen dem Mitbeteiligten und dem Schubhäftling Y zu widerlegen. Der in der Beschwerde geltend gemachte Verfahrensmangel, die belangte Behörde habe entsprechende Beweisanträge unbehandelt gelassen, liegt daher nicht vor.

Die Amtsbeschwerde rügt weiters, dass die (oben wiedergegebenen) Ausführungen der belangten Behörde zur Garantenstellung und der daraus abgeleiteten überdurchschnittlichen Fürsorgepflicht der durch den Verwaltungsgerichtshof im ersten Rechtsgang überbundenen Rechtansicht widersprechen.

Mit dieser Argumentation ist die Beschwerdeführerin im Recht:

Gemäß § 63 Abs. 1 VwGG sind die Verwaltungsbehörden, denen in diesem Zusammenhang auch die unabhängigen Verwaltungssenate zuzuzählen sind, wenn der Verwaltungsgerichtshof einer Beschwerde gemäß Art. 131 B-VG stattgegeben hat, in dem betreffenden Fall mit den ihnen zu Gebote stehenden rechtlichen Mitteln verpflichtet, unverzüglich den der Rechtsanschauung des Verwaltungsgerichtshofes entsprechenden Rechtszustand herzustellen. Bei der Erlassung des Ersatzbescheides besteht somit eine Bindungswirkung an die vom Verwaltungsgerichtshof in seinem aufhebenden Erkenntnis geäußerte Rechtsanschauung (vgl. etwa die hg. Erkenntnisse vom 3. Oktober 2008, Zl. 2008/10/0015, vom 29. Jänner 2010, Zl. 2009/10/0117, und vom 26. Jänner 2011, Zl. 2009/12/0125, jeweils mwN).

Der Verwaltungsgerichtshof hat im erwähnten Erkenntnis vom 30. August 2007 klar ausgeführt, allein die Anhaltung einer Person (in Schubhaft) führe nach den in diesem Erkenntnis dargestellten, im Einklang mit der EMRK stehenden Regelungen des positiven Rechts nicht zu einer Erweiterung von Fürsorgepflichten des Staates dergestalt, dass solche auch objektiv bei gehöriger Sorgfalt nicht als notwendig erkennbare Maßnahmen auf Grund von Veranlagungen des Häftlings zum späteren Ausbruch von Krankheiten umfassten.

Die wiedergegebene Begründung der belangten Behörde, es bestehe dennoch - über den Inhalt genereller Rechtsvorschriften hinaus - eine erweiterte Garantenstellung gegenüber Inhaftierten, welche sich auch auf Mängel der (im ersten Rechtsgang inhaltlich dargestellten, mit der EMRK im Einklang stehend erachteten) generellen Normen erstrecke, widerspricht dieser überbundenen Rechtansicht.

Die vom Mitbeteiligten in seiner Gegenschrift erwähnten Ausführungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) vom 22. Dezember 2009, Bsw 27.900/04 (Rechtssache Palushi gegen Österreich), können an diesem Ergebnis nichts ändern, weil dieser Entscheidung Misshandlungsvorwürfe durch Sicherheitswachebeamte (und nicht die ausschließliche Unterlassung einer medizinischen Behandlung) und damit ein anderer Sachverhalt zu Grunde gelegen ist.

Auch irrt die belangte Behörde, soweit sie unterstellt, der am 28. September 2005 begonnene Hungerstreik des Mitbeteiligten hätte bei seinem Ableben am 4. Oktober 2005 bereits "wochenlang" angedauert.

Da die belangte Behörde die dargestellte Bindungswirkung nicht beachtet hat, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Im weiteren Verfahren wird auf das behördliche Vorbringen einzugehen sein, nicht einmal in Krankenanstalten seien - Schwarzafrikaner betreffend - standardisierte Hämoglobinelektrophorese-Untersuchungen zur Abklärung von Hinweisen einer (drohenden) Sichelzellenerkrankung üblich, solche würden nur bei entsprechenden Verdachtsmomenten veranlasst. Es wird dabei - zweckmäßigerweise unter Beiziehung eines medizinischen Sachverständigen - abzuklären sein, ob (und ab welchem Zeitpunkt) der reduzierte psychische und physische Zustand des Bruders des Mitbeteiligten eine derartige Untersuchung konkret indiziert hätte und ob eine solche in Verbindung mit einer - notwendigerweise daran erst anschließenden - medizinischen Behandlung sein Ableben noch hätte verhindern können.

Von der Klärung dieser Fragen (und nicht vom Aufzeigen behaupteter Systemfehler zur Begründung erweiterter Fürsorgepflichten bzw. einer Garantenstellung) wird es abhängen, ob im vorliegenden Fall vom Fehlen einer - für sein Ableben kausalen - angemessenen medizinischen Versorgung des Mitbeteiligten gesprochen werden kann.

Wien, am 20. Oktober 2011

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte