VwGH 2008/19/1210

VwGH2008/19/121015.12.2010

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Händschke sowie den Hofrat Mag. Nedwed und die Hofrätin Mag. Rehak als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. S. Giendl, über die Beschwerde der beschwerdeführenden Parteien 1. M und 2. T, beide vertreten durch Dr. Wolfgang Bernt, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Gußhausstraße 10/26, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 17. Juni 2008, Zlen. 316.484-2/11E-IV/44/08 (ad 1.) und 316.667-2/3E-IV/44/08 (ad 2.), betreffend §§ 5, 10 Asylgesetz 2005 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

Auswertung in Arbeit!
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Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird hinsichtlich der Erstbeschwerdeführerin wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften und hinsichtlich der Zweitbeschwerdeführerin wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den beschwerdeführenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Beschwerdeführerinnen sind russische Staatsangehörige tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit; die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter der minderjährigen Zweitbeschwerdeführerin.

Sie reisten gemeinsam Anfang November 2006 über die weißrussisch-polnische Grenze in das Gebiet der Mitgliedstaaten der Europäischen Union ein und stellten zunächst in Polen Asylanträge. In der Folge gelangten sie in das Bundesgebiet und beantragten am 4. Oktober 2007 internationalen Schutz.

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid wies die belangte Behörde diese Anträge gemäß § 5 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) als unzulässig zurück, stellte fest, dass "gemäß Artikel 16 Absatz 1 lit e" Dublin-Verordnung Polen für die Prüfung ihrer Anträge zuständig sei, und wies die Beschwerdeführerinnen gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 dorthin aus. Demzufolge sei die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerinnen nach Polen gemäß § 10 Abs. 4 AsylG 2005 zulässig.

Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, die Beschwerdeführerinnen hätten im November 2006 "die Landgrenze aus Weißrussland (Drittstaat) nach Polen" überschritten und in der Folge dort Asylanträge gestellt, weshalb nach den Kriterien der Dublin-Verordnung Polen für die Prüfung ihrer Anträge auf internationalen Schutz zuständig sei. Gründe für die Ausübung des Selbsteintrittsrechts durch die österreichischen Behörden lägen nicht vor. Die Erstbeschwerdeführerin leide zwar an einer psychischen Erkrankung. Im neurologisch-psychiatrischen Gutachten vom 11. Februar 2008 und der Ergänzung zu diesem Gutachten vom 16. April 2008 sei jedoch klargestellt worden, dass das Risiko, die Erstbeschwerdeführerin könne durch eine Abschiebung aus Österreich "in ihrem psychischen Gefüge endgültig zusammenbrechen", als mittelhoch, aber nicht als überwiegend einzuschätzen sei. Die Erstbeschwerdeführerin sei nicht lebensbedrohlich erkrankt und würde durch die Abschiebung nicht einem realen Risiko ausgesetzt werden, unter qualvollen Umständen zu sterben (vgl. das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 6. März 2008, Zl. B 2400/07). Soweit im neurologischpsychiatrischen Gutachten vom 11. Februar 2008 zum Ausdruck gebracht werde, dass aus psychiatrischer Sicht eine Abschiebung in ein sicheres Drittland nicht vertretbar sei, sei festzuhalten, dass diese Beurteilung nicht am Maßstab der Rechtsprechung des EGMR, sondern aus fachärztlicher Sicht erfolgt sei, wobei von den in Österreich gegebenen medizinischen Behandlungsstandards ausgegangen worden und der Umstand unberücksichtigt geblieben sei, dass eine Verletzung von Art. 3 EMRK nicht schon daraus erwachsen könne, dass eine Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver sei. Demnach sei das reale Risiko, die Erstbeschwerdeführerin könne durch eine Überstellung nach Polen in ihren durch Art. 3 EMRK geschützten Rechten verletzt werden, nicht gegeben.

Gegen diesen Bescheid wendet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

Die Beschwerde bestreitet die Zuständigkeit der Republik Polen für die Prüfung der gegenständlichen Anträge nach den Zuständigkeitskriterien der Dublin-Verordnung nicht. Sie strebt aber die Ausübung des Selbsteintrittsrechts der österreichischen Asylbehörden gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung an und bezieht sich dabei (vor allem) auf die gesundheitlichen Probleme der Erstbeschwerdeführerin. Die belangte Behörde habe das neurologischpsychiatrische Sachverständigengutachten falsch interpretiert. Die Gutachterin habe nämlich ausgeführt, dass sich der Gesundheitszustand der Erstbeschwerdeführerin durch eine Abschiebung nach Polen massiv verschlechtern würde, selbige dadurch dauerhaft schwere psychische Schäden davon tragen würde und ein damit verbundenes erhöhtes Risiko bestünde, in ein Selbstfürsorgedefizit abzurutschen bzw. Kurzschlusshandlungen wie einen Selbstmord zu setzen.

Mit diesem Vorbringen zeigt die Beschwerde im Ergebnis eine relevante Mangelhaftigkeit des angefochtenen Bescheides hinsichtlich der Erstbeschwerdeführerin auf.

Vorweg ist in Bezug auf die Rechtsfrage, unter welchen Voraussetzungen eine Krankheit im Lichte des Art. 3 EMRK zur Unzulässigkeit einer Überstellung eines Asylwerbers in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union führen kann, auf die mittlerweile ständige hg. Rechtsprechung zu verweisen (vgl. dazu etwa das hg. Erkenntnis vom 28. April 2010, Zlen. 2008/19/0139 bis 0143 mwN).

In Bezug auf die Erstbeschwerdeführerin wurde im Asylverfahren ein neurologisch-psychiatrisches Sachverständigengutachten eingeholt. Die Sachverständige führte in diesem Gutachten vom 11. Februar 2008 in einer "Conclusio" zusammenfassend aus, dass der Krieg (in Tschetschenien), der gesellschaftliche Druck in der Heimat, die Flucht mit einem Kleinkind und den jüngeren Geschwistern, und die aktuelle unsichere existenzielle Lage die Erstbeschwerdeführerin bisher daran gehindert hätten, vorangegangene traumatische Erlebnisse zu verarbeiten. Es liege ein behandlungsbedürftiger Zustand vor. Eine Abschiebung würde zweifellos ein zusätzliches Trauma bedeuten. Deshalb erscheine aus psychiatrischer Sicht eine Abschiebung in ein sicheres Drittland nicht vertretbar.

Im Auftrag der belangten Behörde ergänzte die Gutachterin diese Einschätzung mit Schreiben vom 16. April 2008 u.a. wie folgt:

"In meiner Conclusio habe ich beschrieben: 'Eine Abschiebung würde zweifellos ein zusätzliches Trauma bedeuten. Deshalb erscheint aus psychiatrischer Sicht eine Abschiebung in ein sicheres Drittland nicht vertretbar.' Diese Aussage bezieht sich daher auch auf Polen.

Präzisierend zu den Folgen, die eine Abschiebung für (die Erstbeschwerdeführerin) und gegebenenfalls für ihre Tochter bewirken würde, ist zu sagen, dass bereits eine Traumatisierung stattgefunden hat und ein behandlungsbedürftiges Leiden besteht, und zwar in Form eines Zustands nach kriegsbedingter serieller Traumatisierung durch jahrelange emotionale und materielle Entbehrungen, unverarbeitete Trauer, Angst vor gesellschaftlicher Ächtung, Flucht, existenzielle Notlage. Als Folge davon besteht aktuell eine Anpassungsstörung mit einer mittelschweren somatisierenden Depression (siehe psychiatrische Diagnose in meinem Gutachten).

Unter Trauma ist hier nicht ein einmaliges Ereignis zu verstehen, wie etwa ein Knochenbruch, nach dem eine völlige Wiederherstellung durch einen chirurgischen Eingriff erreicht werden kann. Vielmehr handelt es sich um eine lange Serie aufeinander folgender Traumen, in diesem Fall seelischer Schockereignisse, die zwischenzeitlich keine Erholung in den Ausgangszustand gestatteten und somit einander potenzierten.

Eine Abschiebung in dieser psychischen Ausgangslage wäre ein weiteres Trauma, abgesehen davon, dass eine völlige Erholung lebenslang ausbleiben wird. Dies erklärt sich auch daraus, dass derartige Ereignisse sich wie Schmerzen einprägen und zwar durch neurobiologische Umbauvorgänge im Gehirn.

Es besteht hier ein, keineswegs abstraktes, erhöhtes Risiko dafür, dass (die Erstbeschwerdeführerin) durch eine Abschiebung aus Österreich in ihrem psychischen Gefüge endgültig zusammenbreche, d.h. dass sie durch Depression und Bettlägerigkeit in ein Selbstfürsorgedefizit abrutsche und ihre Sorgepflicht für ihr Kind nicht mehr wahrnehme, bzw. im anderen Extrem Kurzschlusshandlungen wie einen (erweiterten) Selbstmord setze.

Selbst wenn das religiöse Bekenntnis solche Handlungen verbietet, kann ein Zustand der schweren Hoffnungslosigkeit, wie er hier vorliegt, eine solche Tat herbeiführen.

Ich schätze die Wahrscheinlichkeit solch extremer Konsequenzen als mittelhoch ein, jedoch nicht als überwiegend.

Die Wahrscheinlichkeit eines Dauerschadens für beide Beteiligten ist aber (auch ohne Abschiebung) als überwiegend einzuschätzen."

Trotz dieser - die Gefährdung der Erstbeschwerdeführerin durch eine Überstellung nach Polen aufzeigenden - ärztlichen Beurteilung verneinte die belangte Behörde ein reales Risiko für die Erstbeschwerdeführerin, bei Abschiebung nach Polen in ihren durch Art. 3 EMRK geschützten Rechten verletzt zu werden und begründete dies damit, dass die Gutachterin ihre Beurteilung aus fachärztlicher Sicht, nicht aber am Maßstab der Rechtsprechung des EGMR getroffen habe. Dabei sei sie von den in Österreich gegebenen medizinischen Behandlungsstandards ausgegangen und habe unberücksichtigt gelassen, dass eine Verletzung von Art. 3 EMRK nicht schon daraus erwachsen könne, dass eine Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver sei.

Dem ist Folgendes zu erwidern:

Ob eine Überstellung unter dem Blickwinkel des Art. 3 EMRK zumutbar ist, ist eine von der belangten Behörde zu beurteilende Rechtsfrage, für die von ärztlicher Seite die entsprechenden Tatsachen erläutert werden müssen (vgl. dazu das hg. Erkenntnis vom 10. Dezember 2009, Zlen. 2008/19/0809 bis 0812).

Die Sachverständige kam nicht nur in ihrem Gutachten vom 11. Februar 2008, sondern auch in der von der belangten Behörde veranlassten Gutachtensergänzung vom 16. April 2008 zu dem Ergebnis, es bestünde für die Erstbeschwerdeführerin ein keineswegs nur abstraktes, erhöhtes Risiko dafür, im Fall ihrer Abschiebung aus Österreich in ihrem psychischen Gefüge endgültig zusammenzubrechen und unter Umständen auch Selbstmord zu begehen. Dass der Gesundheitszustand der Erstbeschwerdeführerin bei einer Überstellung nach Polen somit kein lebensbedrohliches Ausmaß erreichen kann und insofern auch kein "real risk" im Sinn des Art. 3 EMRK vorläge, ist daher nicht zu erkennen.

Aus welchem Teil der gutachterlichen Stellungnahme die belangte Behörde die Schlussfolgerung zog, die Gutachterin sei von österreichischen Behandlungsstandards ausgegangen und habe unberücksichtigt gelassen, dass eine Behandlung im Zielland nicht gleichwertig sein müsse, lässt sich der Bescheidbegründung nicht entnehmen. Nach der Aktenlage hat die Gutachterin zu diesem Themenkomplex auch nicht Stellung genommen.

Damit erweist sich die Begründung der belangten Behörde, mit der sie der ärztlichen Fachmeinung zur Unzumutbarkeit der Überstellung aus rechtlichen Gründen nicht folgte, als mangelhaft, weil sie der Gutachterin Annahmen unterstellt hat, die - wie oben gezeigt wurde - in den Verwaltungsakten keine Deckung finden. Darüber hinaus hat es die belangte Behörde auch unterlassen, unter Berücksichtigung medizinischer Tatsachengrundlagen nachvollziehbar zu beurteilen, ob dem von der Gutachterin aufgezeigten Gesundheitsrisiko für die Erstbeschwerdeführerin allenfalls durch entsprechende (auch medikamentöse) Behandlungen vor, während und nach der Abschiebung entgegengewirkt werden könnte. Erst an Hand solcher Feststellungen ließe sich (abschließend) einschätzen, ob der Erstbeschwerdeführerin im Fall der Überstellung nach Polen eine die Schwelle des Art. 3 EMRK erreichende Erkrankung drohen würde, die den Selbsteintritt der österreichischen Asylbehörden gebietet.

Der angefochtene Bescheid war daher in Bezug auf die Erstbeschwerdeführerin wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

Dieser Umstand schlägt im Familienverfahren auch auf die (minderjährige) Zweitbeschwerdeführerin durch, weshalb der angefochtene Bescheid insoweit wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455, insbesondere deren § 3 Abs. 2.

Wien, am 15. Dezember 2010

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