VwGH 2007/21/0214

VwGH2007/21/021418.9.2008

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher, Dr. Pfiel und Mag. Eder als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Plankensteiner, über die Beschwerde des C, vertreten durch Dr. Hans Gradischnig, Rechtsanwalt in 9500 Villach, Moritschstraße 5/II, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates für Kärnten vom 23. April 2007, Zl. KUVS-1048/8/2006, betreffend Erlassung eines befristeten Aufenthaltsverbotes, zu Recht erkannt:

Normen

FrPolG 2005 §86 Abs1;
FrPolG 2005 §87;
VwGG §42 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §86 Abs1;
FrPolG 2005 §87;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.171,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem zitierten, im Instanzenzug ergangenen Bescheid erließ die belangte Behörde gegen den am 1. Jänner 1955 geborenen Beschwerdeführer, einen türkischen Staatsangehörigen, der nach dem Inhalt der vorgelegten Verwaltungsakten im Jahr 1989 in das österreichische Bundesgebiet eingereist war und dem unstrittig "die Rechtsstellung nach Art. 6 und 7 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG - Türkei" (im Folgenden kurz: ARB) zukam, "gemäß §§ 60 Abs. 1, 61, 66 und 86 Abs. 1 iVm § 63 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG" ein auf zehn Jahre befristetes Aufenthaltsverbot.

In ihrer Begründung stellte die belangte Behörde mehrere Straftaten (versuchte Weitergabe von Suchtgift, versuchte gewerbsmäßige Förderung der Schlepperei, Weitergabe von Falschgeld und falscher bzw. verfälschter öffentlicher Urkunden) inhaltlich näher dar, die der Beschwerdeführer im Verlauf des Jahres 2000 begangen habe und wofür er mit Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 8. Mai 2001 zu einer "Zusatzfreiheitsstrafe" von zwei Jahren und drei Monaten rechtskräftig verurteilt worden sei. Dadurch habe der Beschwerdeführer massiv gegen die Grundinteressen der Gesellschaft verstoßen. Wegen der schwer wiegenden Taten sei eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr "iSd § 86 FPG" gegeben.

Der Beschwerdeführer habe während seines Aufenthaltes in Österreich seit 1989 bei mehreren Firmen gearbeitet. In der Verhandlung vor der belangten Behörde am 30. Jänner 2007 habe er angegeben, dass er derzeit arbeitslos sei. Er sei mit einer türkischen Staatsangehörigen verheiratet. Der Ehe entstammten fünf (zwischen 1984 und 1998 geborene) Kinder, wobei vier Kinder in der Türkei geboren worden seien. "Die Familie (sei) 1991 ebenfalls" nach Österreich gezogen. Die Ehefrau des Beschwerdeführers habe ausgesagt, dass "eine Tochter nun in Norwegen verheiratet" sei und "eine andere Tochter mit ihrem Ehemann in der Türkei" lebe; nach den Aussagen des Beschwerdeführers und seiner Ehefrau lebten in Österreich keine Verwandten. "Eine ausgeprägte soziale Integration" sei beim Beschwerdeführer nicht gegeben. Trotz der langen Aufenthaltsdauer sei er der deutschen Sprache nicht so weit mächtig, dass seine Einvernahme ohne Beiziehung einer Dolmetscherin habe durchgeführt werden können. Zu seinen sozialen Kontakten befragt habe er dabei angegeben, "dass er in Österreich seine Familie habe (jedoch leben keine Verwandten in Österreich) und er andere 'Türken' kenne, wobei es sich um Bekannte und nicht um Freunde" handle.

Der Eingriff sei - so führte die belangte Behörde offenbar unter dem Gesichtspunkt des § 66 FPG weiter aus - nach Art. 8 Abs. 2 EMRK zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Ruhe zulässig. Zu bemerken sei, dass in Österreich keine Verwandten des Beschwerdeführers lebten und auch seine zwei Töchter "sich ebenfalls nicht in Österreich aufhielten".

Weiters sei "anzumerken", dass gegen den Beschwerdeführer eine mit 2. Dezember 2006 datierte Strafanzeige "wegen des Verdachts von 'Treibstoffdiebstahls' vorlieg(e)". Auf Grund der schwierigen "Einkommens- und Vermögensverhältnisse (derzeit arbeitslos)" bestehe durchaus die Gefahr "des wiederholten Verstoßes gegen die österreichische Rechtsordnung".

Das Aufenthaltsverbot sei für eine Dauer von zehn Jahren auszusprechen gewesen, weil dieser Zeitraum erforderlich sei, um sein Wohlverhalten zu beobachten und zu gewährleisten, dass er nicht neuerlich strafrechtliche Delikte begehe und eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung in Österreich hervorrufe.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen hat:

§ 86 Abs. 1 FPG lautet auszugsweise wie folgt:

"Sonderbestimmungen für den Entzug der Aufenthaltsberechtigung und für verfahrensfreie Maßnahmen

§ 86. (1) Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen freizügigkeitsberechtigte EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige ist zulässig, wenn auf Grund ihres persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können nicht ohne weiteres diese Maßnahmen begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige, die vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes ihren Hauptwohnsitz ununterbrochen seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, ist dann zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Ordnung oder Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. ..."

Diese Bestimmung ist nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes auch auf türkische Staatsangehörige anzuwenden, die dem ARB unterliegen. Unter der Wendung "vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes" in ihrem fünften Satz ist der Zeitpunkt vor Eintritt des ersten der von der Behörde zur Begründung des Aufenthaltsverbotes herangezogenen Umstände, die in ihrer Gesamtheit diese Maßnahme tragen, zu verstehen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 11. Dezember 2007, Zl. 2006/18/0278 mwN.).

Die belangte Behörde hat nur die vom Beschwerdeführer im Verlauf des Jahres 2000 begangenen Straftaten, über die im erwähnten Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 8. Mai 2001 abgesprochen wurde, ihrem Aufenthaltsverbot zu Grunde gelegt. Damit hätte sie - in Folge des seit 1989 andauernden Aufenthaltes des Beschwerdeführers in Österreich - jedenfalls die Bestimmung des § 86 Abs. 1 fünfter Satz FPG anzuwenden gehabt. Da sie dies verkannt hat, hat sie sich auch nicht mit der entscheidenden Frage auseinander gesetzt, ob durch einen Verbleib des Beschwerdeführers im Bundesgebiet die öffentliche Ordnung oder Sicherheit der Republik Österreich nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde (vgl. dazu die hg. Erkenntnisse vom 26. September 2007, Zl. 2007/21/0197, vom 28. Februar 2008, Zl. 2006/21/0201, und vom 29. April 2008, Zl. 2008/21/0072).

Ergänzend ist auszuführen, dass noch weitere Straftaten des Beschwerdeführers (vgl. dazu den rudimentären Ermittlungsbericht vom 11. April 2000, Blatt 4-6 der Verwaltungsakten) aktenkundig sind, die laut der vorgelegten Strafregisterauskunft vom 9. Jänner 2007 (Blatt 232 der Verwaltungsakten) zu einer Verurteilung durch das Amtsgericht Rosenheim (Deutschland) am 5. Juli 2000 geführt haben. Diese könnten in eine künftige Entscheidung mit einbezogen werden. Dazu wären jedoch ausreichende Feststellungen über die Tatzeiten und die dem Beschwerdeführer angelasteten deliktischen Verhalten zu treffen, um die vom Beschwerdeführer ausgehende Gefährdung öffentlicher Interessen beurteilen zu können.

Anzumerken ist schließlich, dass mängelfreie Feststellungen - hier insbesondere zum Maß der familiären und sozialen Integration des Beschwerdeführers in Österreich - nicht darin bestehen können, Aussagen einvernommener Personen oder sonstige Ermittlungsergebnisse (zumal wenn sie einander zum Teil widersprechen und überdies jede beweiswürdigende Argumentation der belangten Behörde dazu fehlt) aneinander gereiht wiederzugeben. Ebenso kann aus dem Vorliegen einer Anzeige (im Beschwerdefall wegen Verdachts des Diebstahls von Treibstoff) - ohne auf die Richtigkeit des Vorwurfes einzugehen - nichts zu Lasten des Beschwerdeführers abgeleitet werden.

Angesichts des eingangs dargestellten - auf einer Verkennung der Rechtslage (des § 86 Abs. 1 fünfter Satz FPG) beruhenden - (sekundären) Begründungsmangels war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.

Wien, am 18. September 2008

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