VwGH 2007/15/0019

VwGH2007/15/001918.11.2008

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Hargassner und die Hofräte Dr. Sulyok, Dr. Zorn, Dr. Büsser und Mag. Novak als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Zaunbauer, über die Beschwerde des KH in G, vertreten durch die Sachwalterin Sandra Schmid, diese vertreten durch Mag. Johann Juster, Rechtsanwalt in 3910 Zwettl, Landstraße 52, gegen den Bescheid des unabhängigen Finanzsenates, Außenstelle Wien, vom 29. September 2006, RV/1366-W/06, betreffend (erhöhte) Familienbeihilfe ab 1. November 2000, zu Recht erkannt:

Normen

FamLAG 1967 §8 Abs6 idF 2002/I/105;
FamLAG 1967 §8 Abs6 idF 2002/I/105;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem im Instanzenzug ergangenen angefochtenen Bescheid wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf erhöhte Familienbeihilfe ab November 2000 abgewiesen. Der am 22. September 1966 geborene Beschwerdeführer habe durch seine Sachwalterin den Antrag auf Gewährung der erhöhten Familienbeihilfe wegen erheblicher Behinderung gestellt. Das Finanzamt habe in seinem diesen Antrag abweisenden Bescheid ausgeführt, der Beschwerdeführer habe vom 18. Jänner 1984 bis 7. Dezember 1986 eine Lehre absolviert und sei danach als Angestellter tätig gewesen. Vom 1. April 1987 bis 30. November 1987 habe er den Präsenzdienst geleistet. In der Folge sei er bis 31. Dezember 1996 erwerbstätig gewesen. Aus diesen Gründen und im Sinne der Verwaltungsökonomie sei von der Einholung eines ärztlichen Gutachtens abgesehen worden.

In der Berufung sei eine Ergänzung des Verfahrens durch Einholung eines Gutachtens des Bundessozialamtes zum Nachweis dafür, dass aus medizinischer Sicht eine Erwerbsunfähigkeit vor dem 21. Lebensjahr bestanden habe, beantragt worden. Der Beschwerdeführer habe seine Lehre zum Einzelhandelskaufmann im elterlichen Betrieb absolviert. Es sei daher davon auszugehen, dass die Eltern Nachsicht und ein besonderes Entgegenkommen für ihren Sohn aufgebracht haben. Die Versicherungszeiten seien daher als Arbeitsversuche anzusehen.

Über Aufforderung des Finanzamtes sei daraufhin vom Bundessozialamt ein fachärztliches Sachverständigengutachten erstellt worden. Danach betrage der Gesamtgrad der Behinderung 70 v.H. voraussichtlich mehr als drei Jahre anhaltend. Eine Nachuntersuchung sei nicht erforderlich. Eine rückwirkende Anerkennung der Einschätzung des Grades der Behinderung sei ab 1. Jänner 1999 auf Grund der vorgelegten relevanten Befunde möglich. Der Beschwerdeführer sei voraussichtlich dauernd außer Stande, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen.

Das Finanzamt habe mit Berufungsvorentscheidung die Berufung als unbegründet abgewiesen, weil nach dem eingeholten Sachverständigengutachten der Beschwerdeführer seit 1. Jänner 1999 dauernd außer Stande sei, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen. Die Erwerbsunfähigkeit sei demnach nicht vor dem 21. Lebensjahr eingetreten.

Im Vorlageantrag sei ausgeführt worden, der Sachverständige habe sich lediglich auf ein Gutachten aus dem Jahr 1999 bezogen. Der Beschwerdeführer habe bereits davor viele stationäre Aufenthalte in der LNK Mauer gehabt, wodurch nachgewiesen werden könne, dass die Erkrankung des Beschwerdeführers nicht erst seit 1. Jänner 1999 bestehe. Die Krankengeschichte über die Aufenthalte des Beschwerdeführers in der LNK Mauer hätten daher dem Gutachten zu Grunde gelegt werden müssen. Der Beschwerdeführer sei das erste Mal 1991 dort stationär aufgenommen worden. Die Erkrankung habe allerdings bereits vor diesem Aufenthalt begonnen.

Im Erwägungsteil führte die belangte Behörde nach Gesetzeszitaten aus, die Feststellung des Behindertengrades eines Kindes, für das erhöhte Familienbeihilfe beantragt worden sei, habe nach den Bestimmungen des § 8 Abs. 6 Familienlastenausgleichsgesetz 1967 (in der Folge: FLAG) auf dem Weg der Würdigung ärztlicher Sachverständigengutachten zu erfolgen. Im Gutachten des Bundessozialamtes vom 24. Mai 2006 sei der Behinderungsgrad des Beschwerdeführers mit 70 v.H. eingestuft worden. Die rückwirkende Anerkennung der Einschätzung des Grades der Behinderung sei auf Grund der vorgelegten relevanten Befunde mit 1. Jänner 1999 möglich gewesen. Es sei bestätigt worden, dass der Beschwerdeführer voraussichtlich dauernd außer Stande sei, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen.

Im Beschwerdefall stehe fest, dass der Beschwerdeführer insgesamt mehr als 12 Jahre berufstätig gewesen sei. Der Beschwerdeführer habe laut Versicherungsdatenauszug der österreichischen Sozialversicherung vom 1. November 1981 bis 30. Juni 1982 und vom 1. November 1982 bis 30. Juni 1983 eine mittlere Schule besucht und sei danach beschäftigt gewesen (die Beschäftigungszeiten von 1983 bis 1996 werden in der Folge aufgelistet). Ab 1997 habe der Beschwerdeführer Krankengeld, Arbeitslosengeld und Pensionsvorschuss bezogen. Mittlerweile beziehe er eine Pension und Pflegegeld der Stufe 2.

Von Juli 1983 bis Ende März 1987 sei der Beschwerdeführer ungefähr drei Jahre und sechs Monate als Arbeiter bzw. Angestelltenlehrling beschäftigt gewesen. Im Anschluss daran habe er vom 1. April bis 30. November 1987 den Präsenzdienst absolviert. Während des Präsenzdienstes habe der Beschwerdeführer das 21. Lebensjahr vollendet. Von Dezember 1987 bis Dezember 1996 habe er noch ungefähr acht Jahre gearbeitet.

Zum Vorbringen des Beschwerdeführers im Vorlageantrag, die Krankengeschichte der LNK Mauer hätten bei der Begutachtung berücksichtigt werden müssen, sei zu sagen, dass der erstmalige Aufenthalt vom 18. September bis 23. Oktober 1991 stattgefunden habe. Zu diesem Zeitpunkt sei der Beschwerdeführer bereits 25 Jahre alt gewesen. Es könnten daher daraus keine Schlüsse gezogen werden, dass die Erkrankung bereits vor dem 21. Lebensjahr eingetreten sei. Überdies gingen beide Gutachten auf die stationären Aufenthalte ein. Auch der Umstand, dass der Beschwerdeführer während seines Präsenzdienstes das 21. Lebensjahr vollendet habe und nicht für untauglich erklärt worden sei, spreche eindeutig gegen eine bereits vor diesem Zeitpunkt eingetretene Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen. Hierzu komme noch, dass nach der Rechtsprechung eine mehrjährige berufliche Tätigkeit des Kindes, die für den Anspruch auf Familienbeihilfe notwendige Annahme, das Kind sei infolge seiner Behinderung nicht in der Lage gewesen, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, widerlege. Dass die Eltern als Arbeitgeber dem Beschwerdeführer gegenüber ein besonderes Entgegenkommen an den Tag gelegt haben, möge zutreffen. Dass der Beschwerdeführer aber keine Arbeitsleistung erbracht habe, sei nicht behauptet worden, sei aus der Aktenlage nicht erkennbar und wäre auch bei einer derartig langdauernden Beschäftigung keineswegs anzunehmen. Überdies sei der Beschwerdeführer insgesamt mehr als zwei Jahre bei anderen Arbeitgebern beschäftigt gewesen.

Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Vorlage der Verwaltungsakten und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde über die Beschwerde erwogen:

Kinder, deren Eltern ihnen nicht überwiegend Unterhalt leisten, und die sich nicht auf Kosten der Jugendwohlfahrtspflege oder Sozialhilfe in Heimerziehung befinden, haben nach § 6 Abs. 5 FLAG unter den selben Voraussetzungen Anspruch auf Familienbeihilfe, unter denen eine Vollwaise Anspruch auf Familienbeihilfe hat.

Anspruch auf Familienbeihilfe haben nach § 6 Abs. 2 lit. d FLAG auch volljährige Vollwaisen, die wegen einer vor Vollendung des 21. Lebensjahres oder während einer späteren Berufsausbildung, jedoch spätestens vor Vollendung des 27. Lebensjahres, eingetretenen körperlichen oder geistigen Behinderung voraussichtlich dauernd außer Stande sind, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, und sich in keiner Anstaltspflege befinden.

Die Höhe der Familienbeihilfe für den jeweiligen Anspruchszeitraum ist in § 8 Abs. 2 FLAG normiert; nach § 8 Abs. 4 leg. cit. erhöht sich die Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder.

Als erheblich behindert gilt ein Kind gemäß § 8 Abs. 5 FLAG im Falle einer Behinderung von mindestens 50vH, soweit es sich nicht um ein Kind handelt, das voraussichtlich dauernd außer Stande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen.

Nach § 8 Abs. 6 FLAG in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I 2002/105 (welche Bestimmung nach § 50 s Abs. 1 leg. cit. mit 1. Jänner 2003 in Kraft getreten ist) ist der Grad der Behinderung oder die voraussichtliche dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, durch eine Bescheinigung des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen auf Grund eines ärztlichen Sachverständigengutachtens nachzuweisen.

Gemäß § 8 Abs. 7 FLAG gelten die Abs. 4 bis 6 sinngemäß für Vollwaisen, die gemäß § 6 leg. cit. Anspruch auf Familienbeihilfe haben.

Die belangte Behörde hatte bereits die Verfahrensvorschrift des § 8 Abs. 6 FLAG anzuwenden. Das danach abzuführende qualifizierte Nachweisverfahren durch ein ärztliches Gutachten (vgl. dazu das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 10. Dezember 2007, B 700/07, und die hg. Erkenntnisse vom 27. April 2005, 2003/14/0105, und vom 20. Dezember 2006, 2003/13/0123) hat sich darauf zu erstrecken, ob der Beschwerdeführer wegen einer vor Vollendung seines 21. Lebensjahres oder während einer späteren Berufsausbildung, jedoch spätestens vor Vollendung des 27. Lebensjahres, eingetretenen körperlichen oder geistigen Behinderung voraussichtlich dauernd außer Stande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen.

Darüber gibt das vorliegende Gutachten, worauf der Beschwerdeführer im Vorlageantrag zutreffend hingewiesen hat, keine Auskunft. Das Gutachten spricht nämlich lediglich über den Zeitraum ab 1. Jänner 1999 ab. Die belangte Behörde hat das Gutachten nicht ergänzen lassen. Ihrer Auffassung nach spreche der Umstand, dass der Beschwerdeführer während seines Präsenzdienstes das 21. Lebensjahr vollendet habe und danach Beschäftigungszeiten im Versicherungsdatenauszug der österreichischen Sozialversicherung aufscheinen, eindeutig gegen eine bereits vor diesem Zeitpunkt eingetretene Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen. Diesen von der belangten Behörden ins Treffen geführten Umständen kommt aber nach dem klaren Wortlaut des § 8 Abs. 6 in der Fassung BGBl. I Nr. 105/2002 keine Beweiskraft zu. Die von der belangten Behörde ins Treffen geführte Judikatur, wonach eine mehrjährige berufliche Tätigkeit des Kindes die für den Anspruch auf Familienbeihilfe notwendige Annahme, das Kind sei infolge seiner Behinderung nicht in der Lage gewesen, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, widerlege, hat im Rahmen der durch das Bundesgesetz, BGBl. I Nr. 2002/105, geschaffenen neuen Rechtslage (ab 1. Jänner 2003) keinen Anwendungsbereich. Der Grad der Behinderung oder die voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, ist nämlich durch eine Bescheinigung des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen auf Grund eines ärztlichen Sachverständigengutachtens nachzuweisen. Das der belangten Behörde vorliegende Gutachten enthält keine Aussage über den Zustand und die Fähigkeit des Beschwerdeführers vor dem 1. Jänner 1999. Das eingeholte Gutachten bezeichnet als "relevante vorgelegte Befunde" das Gutachten aus dem Verfahren zur Bestellung eines Sachwalters vom 2. Juni 1999. Dieses verwiesene Gutachten referiert zwar unter dem Punkt "Angaben des Beschwerdeführers sowie seiner Mutter" zahlreiche Aufenthalte an der Landesnervenklinik Mauer, ohne aber Näheres dazu auszuführen. Das der belangten Behörde vom Bundessozialamt übermittelte Gutachten referiert ebenfalls lediglich in der Anamnese "zahlreiche Aufnahmen an der LNK Mauer unter der Diagnose chronifizierte Psychose". Unter Berücksichtigung der Krankengeschichte über diese Aufenthalte hätte die belangte Behörde das ihr vorliegende Sachverständigengutachten ergänzen lassen müssen. Da dies unterblieben ist, hat sie ihren Bescheid mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet; dieser war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 VwGG aufzuheben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG i. V.m. der Verordnung BGBl. II Nr. 333/2003.

Wien, am 18. November 2008

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