Normen
AsylG 1997 §24b Abs1 idF 2003/I/101;
AVG §52;
AsylG 1997 §24b Abs1 idF 2003/I/101;
AVG §52;
Spruch:
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Die Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige der Russischen Föderation tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit, reiste gemeinsam mit ihrer Mutter und ihren minderjährigen Geschwistern im Juli 2005 in das Gebiet der Mitgliedstaaten der Europäischen Union ein und stellte am 26. Juli 2005 in Polen einen Asylantrag. Ohne die Entscheidung über diesen Antrag abzuwarten, reiste die Beschwerdeführerin mit ihrer Familie am 30. September 2005 in das Bundesgebiet ein und brachte noch am selben Tag einen (weiteren) Asylantrag ein.
Mit Beschluss des Bezirksgerichtes Baden vom 8. November 2005 wurde die Mutter der Beschwerdeführerin zu deren einstweiliger Sachwalterin bestellt und mit der Vertretung insbesondere im Asylverfahren betraut, weil die Beschwerdeführerin nach dem Ergebnis der bezirksgerichtlichen Erstanhörung nicht in der Lage schien, ihre Angelegenheiten ohne Gefahr eines Nachteiles für sich selbst zu besorgen.
Mit Bescheid vom 21. November 2005 wies das Bundesasylamt den Asylantrag der Beschwerdeführerin - nach Konsultationen mit den zuständigen polnischen Behörden - gemäß § 5 Abs. 1 Asylgesetz 1997 (AsylG) als unzulässig zurück. Es stellte fest, für die Prüfung des Antrages sei gemäß Art. 13 iVm Art. 16 Abs. 1 lit c der "Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates" (im Folgenden: Dublin-Verordnung) Polen zuständig, und wies die Beschwerdeführerin gemäß § 5a Abs. 1 iVm § 5a Abs. 4 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen aus.
Dagegen erhob die Beschwerdeführerin Berufung, in der sie u. a. auf einen aktenkundigen Bericht der Ärztin Dr. Ilse Hruby vom 12. Oktober 2005 über eine Untersuchung der Beschwerdeführerin im Zulassungsverfahren Bezug nahm, in dem eine Traumatisierung als Ursache der bei der Beschwerdeführerin diagnostizierten Entwicklungsverzögerung nicht ausgeschlossen worden sei. Vor diesem Hintergrund wäre die Asylbehörde - so die Berufung - verpflichtet gewesen, das Gutachten eines medizinischen Sachverständigen zur Frage einer Traumatisierung der Beschwerdeführerin einzuholen. Ein entsprechender Beweisantrag wurde in der Berufung gestellt.
Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung - ohne weitere Ermittlungen - "gemäß §§ 5 Abs. 1 und 5a Abs. 1 AsylG" ab. Dem oben wiedergegebenen Berufungsvorbringen erwiderte sie in der Bescheidbegründung, die Behörde erster Instanz sei dem durch § 24b Abs. 1 AsylG normierten Erfordernis der Einholung eines Gutachtens eines medizinischen Sachverständigen im Hinblick auf eine vorliegende Traumatisierung durch die von ihr veranlasste ärztliche Untersuchung am 12. Oktober 2005 seitens der Ärztin für Psychotherapeutische Medizin Dr. Hruby nachgekommen. Die untersuchende Ärztin sei zu dem Schluss gelangt, dass keine krankheitswerte psychische Störung, sondern, wenn überhaupt, eine geistige Retardierung der Beschwerdeführerin vorliege. Folglich sei das Bundesasylamt nicht verpflichtet gewesen, ein zweites diesbezügliches Gutachten in Auftrag zu geben. Zusammenfassend erweise sich die Berufung daher als nicht berechtigt. Die Prüfung des Asylantrages falle gemäß Art. 13 und Art. 16 Abs. 1 lit c Dublin-Verordnung in die Zuständigkeit der polnischen Republik und es bestünde keine Veranlassung, von dem in Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung vorgesehenen Selbsteintrittsrecht durch Österreich Gebrauch zu machen.
Dagegen richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:
Die Beschwerde wendet sich gegen die Annahme der Asylbehörden, die Voraussetzungen für die Zulassung des Verfahrens gemäß § 24b Abs. 1 AsylG (und damit für die Ausübung des Selbsteintrittsrechtes gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung durch Österreich) seien im vorliegenden Fall nicht gegeben.
§ 24 b Abs. 1 AsylG (in der hier maßgeblichen Fassung der AsylG-Novelle 2003, BGBl. I Nr. 101) lautet:
"Ergeben sich in der Ersteinvernahme oder einer weiteren Einvernahme im Zulassungsverfahren (§ 24a) medizinisch belegbare Tatsachen, die die Annahme rechtfertigen, dass der Asylwerber Opfer von Folter oder durch die Geschehnisse im Zusammenhang mit dem die Flucht auslösenden Ereignis traumatisiert sein könnte, ist das Verfahren zuzulassen und der Asylwerber kann einer Betreuungseinrichtung zugewiesen werden. In dieser und im weiteren Verlauf des Asylverfahrens ist auf die besonderen Bedürfnisse des Asylwerbers Bedacht zu nehmen."
Dazu wurde in den Erläuterungen zur Regierungsvorlage (120 BlgNR 22. GP 17) Folgendes festgehalten:
"Da Folteropfer und Traumatisierte eine besonders schützenswerte Gruppe von Asylwerbern sind, ist es erforderlich, für diese Menschen im Verfahren besondere Sicherheitsmechanismen einzubauen (§24b). Daher wird in diesem Kontext vorgesehen, dass die Verfahren solcher Menschen zuzulassen sind, wenn im Zulassungsverfahren in der Ersteinvernahme oder in einer weiteren Einvernahme medizinisch belegbare Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie Opfer von Traumatisierung oder Folteropfer sein könnten. Wesentlich ist hiebei, dass es sich um Geschehnisse handelt, die im Zusammenhang mit dem die Flucht auslösenden Ereignis vorgefallen sind und der Asylwerber durch diese traumatisiert wurde. Zur Belegbarkeit der Traumatisierung können Sachverständige aus allen notwendigen Fachrichtungen beigezogen werden ..."
Im vorliegenden Fall hielt das Bundesasylamt (Anm.: noch vor Einleitung eines Verfahrens zur Bestellung eines Sachwalters) in einem aktenkundigen e-mail vom 11. Oktober 2005 an "aerzte@euhomecare.com " bezogen auf die Beschwerdeführerin fest, diese leide nach den Angaben ihrer Mutter "an einer geistigen Benachteiligung", weshalb das Ersuchen ergehe, "den geistigen Zustand der Asylwerberin zu beurteilen bzw. ob sich diese in der Lage befindet grundsätzlich für sich selbst zu sprechen, oder ob eine Sachwalterschaft von Vorteil wäre."
Im Folgenden findet sich im erstinstanzlichen Asylakt ein Bericht über eine "Ärztliche Untersuchung im Zulassungsverfahren" vom 12. Oktober 2005, unterfertigt von Dr. med. Ilse Hruby, Ärztin für Psychotherapeutische Medizin, in dem nach Aufnahme der persönlichen Daten der Beschwerdeführerin wörtlich Folgendes festgehalten wurde:
"Medizinische Vorgeschichte: Die Mutter berichtet, dass die Tochter mit 1 Jahr und 2 Monaten gehen und mit ca. 2 Jahren sprechen hätte können. In weiterer Folge keine Auffälligkeiten. Als Kinderkrankheiten mit ev. Beteiligung des ZNS nur Masern zu erheben. Verlauf wird nicht genau erinnert. Bei der Einschulung hätte die Lehrerin gemeint, dass der Besuch einer Sonderschule nötig wäre, das hätte die Mutter aber nicht wollen. Daher ist die AW Analphabetin, keinerlei Schulbildung. Die Jahre davor hätte bei dem Mädchen für 5 Jahre ein "Ekzem" (unklare Genese) bestanden, eine Klimaveränderung nach dem Umzug nach Russland hätte diese Hautkrankheit geheilt. Dort wären sie ein Jahr geblieben. Im Alter von 5 Monaten wäre das Kind aus dem Kinderwagen gefallen, diesbezüglich ist jedoch anzumerken, dass die Sprachentwicklung und der freie Gang davon unbeeinträchtigend geblieben sind. Die Mutter gibt an, dass die Tochter nur unter Aufsicht gewisse Arbeiten erledigen könne, z.B. Gemüse schneiden, etc. Angeblich bestehen keine ausgesprochenen Talente, einzig und allein tanze die AW gerne tschetschenische Tänze. Lt. Mutter sei sie gel. zornig und würde dann auch tätlich werden. Sie sähe nachts männliche Figuren an der Wand. Sie würde dann getröstet werden müssen. Derzeitige subjektive Beschwerden: Die AW selbst - bei sehr einschränkten Untersuchungsbedingungen, da die Mutter als Subdolmetscherin fungiert und eine gewisse Scheu, überhaupt zu antworten, besteht - gibt an, dass sie sich hier wohlfühle. Auf die Gestalten an der Wand bejaht die AW glaubhaft, weint ein bisschen. Sie würden ihr Angst machen, aber dann wieder von selbst verschwinden. Diese Erscheinungen würden nur selten auftauchen, wie oft könne sie nicht sagen. Insgesamt wirkt die AW etwas retardiert, wieweit diese Retardierung reicht, kann ohne dazugehörige Testung der Intelligenz nicht beantwortet werden. Einige gestellte Fragen, welche das Verständnis prüfen sollen, werden teilweise gewusst, andere richtig beantwortet, inwieweit dies aber ausreicht, die Interessen im Verfahren eigenständig wahrzunehmen, ist allein davon nicht ableitbar. Die AW wirkt schüchtern, gehemmt, leicht verlangsamt, spricht leise, versteht aber sehr gut Russisch, insgesamt ist das Verständnis für allgemeine Fragen gut. Aufgrund der besonderen Situation können Ductus bzw. Denkstörungen nicht festgestellt werden. Antrieb leicht gemindert, Stimmung überwiegend im pos. Skalenbereich. Liveevents sind nicht auszumachen, schon gar nicht welche, die eine Traumatisierung als Ursache der Entwicklungsverzögerung/stillstand erklären könnten, können aber auch nicht ausgeschlossen werden, da sich das Kind während der Kriegszeiten auch vorübergehend bei der Großmutter aufgehalten habe. V.a. optische Halluzinationen/illusionäre Verkennungen, oder aber Träumen entsprechend. Vorliegen von möglichen Folterspuren und Angaben zu ihrer Entstehung: keine
3. Schlussfolgerungen:
Liegt aus aktueller Sicht eine krankheitswerte psychische Störung vor?
Nein, Zusatz: Wenn überhaupt, liegt eine geistige Retardierung vor, inwieweit kann ohne Intelligenztest nicht gesagt werden, insbesondere nicht, ob dadurch die Interessen im Verfahren eigenständig wahrgenommen werden können, bzw. auch für das spätere Leben eine Sachwalterschaft angezeigt/günstig für die AW wäre."
Auf diesen ärztlichen Bericht - zu dem der Beschwerdeführerin nach der Aktenlage seitens des Bundesasylamtes kein Parteiengehör eingeräumt wurde - bezogen sich sowohl die Beschwerdeführerin in ihrer Berufung gegen den erstinstanzlichen Bescheid (zur Untermauerung ihrer Behauptung, die Voraussetzungen für die Zulassung des Verfahrens gemäß § 24b Abs. 1 AsylG wären gegeben) als auch die belangte Behörde, die darin ein "Gutachten eines medizinischen Sachverständigen" erblickte, welches dem "durch § 24b normierten Erfordernis" der Einholung eines solchen entsprochen habe und dem "keine krankheitswerte psychische Störung" entnommen werden könne.
Dazu ist zunächst klarzustellen, dass § 24b Abs. 1 AsylG eine medizinische Begutachtung des Asylwerbers im Zulassungsverfahren nicht vorschreibt, sondern lediglich vorsieht, dass sein Asylverfahren zuzulassen ist, wenn "medizinisch belegbare Tatsachen" die Annahme rechtfertigen, er "könnte" Opfer von Folter oder durch die Geschehnisse im Zusammenhang mit dem die Flucht auslösenden Ereignis traumatisiert sein. Daraus folgt (in Bezug auf die hier zu behandelnde Frage der Traumatisierung), dass zum Zwecke der Zulassung des Verfahrens die (durch die fluchtauslösenden Ereignisse bedingte) Traumatisierung nicht feststehen, sondern eine solche nur möglich sein muss. Die Klärung, ob der Asylwerber tatsächlich traumatisiert ist, hat daher unter dem Blickwinkel des § 24b Abs. 1 AsylG nicht stattzufinden. Allerdings reicht - wie der Gesetzeswortlaut erkennen lässt - die bloße Behauptung einer Traumatisierung durch den Asylwerber nicht aus, sondern es bedarf für die Zulassung des Verfahrens der Feststellung von Tatsachen, die für eine Traumatisierung des Asylwerbers sprechen könnten, und die sich medizinisch belegen lassen (vgl. dazu auch das Erkenntnis vom heutigen Tag, Zl. 2006/19/0442).
Im gegenständlichen Fall hat das Bundesasylamt eine ärztliche Fachmeinung (Bericht Dris. Hruby vom 12. Oktober 2005) eingeholt, aufgrund derer die Asylbehörden die Voraussetzungen des § 24b Abs. 1 AsylG verneinten. Dabei wird allerdings übersehen, dass die Frage einer Traumatisierung der Beschwerdeführerin - dem Inhalt des erwähnten e-mails vom 11. Oktober 2005 zufolge - gar nicht im Blickfeld des Ersuchens um ärztliche Untersuchung stand. Vielmehr wurde um eine Beurteilung des Geisteszustandes der Beschwerdeführerin im Allgemeinen und der Notwendigkeit einer Vertretung durch einen Sachwalter im Besonderen gebeten. Dementsprechend beschäftigte sich die untersuchende Ärztin in ihren "Schlussfolgerungen" auch vorrangig mit dieser Frage. Im Übrigen verneinte sie zwar das Vorliegen einer "krankheitswerten psychischen Störung", gab dafür aber keine Begründung, die eine Überprüfung dieser Einschätzung auf ihre Schlüssigkeit hin zugelassen hätte. Letzteres ist aber ein wesentliches und unverzichtbares Element eines - über einen ärztlichen Befund hinausgehenden - Sachverständigengutachtens (vgl. dazu etwa die in Walter/Thienel, Verwaltungsverfahrensgesetze I2 (1998), E 151 bis 153 zu § 52 AVG referierte ständige höchstgerichtliche Rechtsprechung). Der vorliegende Bericht ist daher - entgegen der Ansicht der belangten Behörde - kein Gutachten, aufgrund dessen das mögliche Vorliegen einer Traumatisierung der Beschwerdeführerin nachvollziehbar verneint werden könnte.
Es bleibt zu prüfen, ob die den Asylbehörden bekannten Tatsachen ausreichten, das Verfahren der Beschwerdeführerin im Sinne des § 24b Abs. 1 AsylG zuzulassen oder zumindest weitere Ermittlungsschritte zur Prüfung der dafür erforderlichen Voraussetzungen in die Wege zu leiten.
Die belangte Behörde folgt den Ausführungen der Ärztin Dr. Hruby in ihrem Bericht dahingehend, dass die Beschwerdeführerin an einer "geistigen Retardierung" leiden könnte (arg.: "Wenn überhaupt, liegt eine geistige Retardierung vor"). Ob eine "geistige Retardierung" bei der Beschwerdeführerin gegeben ist, lässt der angefochtene Bescheid - wie auch die untersuchende Ärztin - offen. Wäre diese Frage aber zu bejahen, so ließe sich - den Ausführungen von Dr. Hruby folgend - nicht ausschließen, dass eine derartige Störung ihre Ursache in einer Traumatisierung der Beschwerdeführerin im Herkunftsstaat haben könnte. Bei dieser Beweissituation hätten die Asylbehörden dem Umstand Rechnung zu tragen gehabt, dass die ärztliche Untersuchung vom 12. Oktober 2005 - wie im Bericht Dris. Hruby auch betont wurde - "bei sehr eingeschränkten Untersuchungsbedingungen" und deshalb "in einer besonderen Situation" stattgefunden hatte. Ausgehend davon hätte es - auch von Amts wegen - weiterer Ermittlungen zur Klärung jener Tatsachen, die für eine Traumatisierung der Beschwerdeführerin sprechen könnten, bedurft.
Das erstinstanzliche Verfahren litt somit an einem (relevanten) Verfahrensmangel, den die belangte Behörde - in Verkennung der Rechtslage - auch im Berufungsverfahren nicht behoben hat.
Der angefochtene Bescheid war deshalb wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003, BGBl. II Nr. 333.
Wien, am 17. April 2007
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