Normen
31971R1408 WanderarbeitnehmerV;
FamLAG 1967 §4 Abs2;
FamLAG 1967 §5 Abs4;
31971R1408 WanderarbeitnehmerV;
FamLAG 1967 §4 Abs2;
FamLAG 1967 §5 Abs4;
Spruch:
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.171,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Die Beschwerdeführerin, eine syrische Staatsangehörige, ist mit einem österreichischen Staatsbürger verheiratet. Per 1. Dezember 2003 beantragte sie für das gemeinsame, am 29. Juni 2001 geborene Kind die Gewährung der Familienbeihilfe, was vom Finanzamt mit Bescheid vom 27. Jänner 2004 abgewiesen wurde, weil ihr Ehemann in Deutschland beschäftigt sei.
Die Beschwerdeführerin erhob Berufung. Das Finanzamt führte in der Folge Ermittlungen durch, wobei es insbesondere an die deutschen Behörden herantrat und um Mitteilung ersuchte, ob der Ehemann der Beschwerdeführerin einen Anspruch auf Kindergeld habe. Mit Schreiben vom 15. März 2005 beantwortete die Bundesagentur für Arbeit, Agentur für Arbeit Deggendorf, Familienkasse, die Anfrage des Finanzamtes dergestalt, dass an den Ehemann der Beschwerdeführerin Antragsunterlagen gesendet, dass diese jedoch trotz Erinnerung nicht eingereicht worden seien; ob ein Anspruch auf Kindergeld bestehe, könne demnach nicht geklärt werden. Dieser Anfragebeantwortung angeschlossen war die Ausfertigung eines "Ablehnungsbescheides" vom 15. März 2005, wonach der Antrag des Ehemannes der Beschwerdeführerin vom 30. November 2004 auf Kindergeld abgelehnt werde. Die Begründung dieses Bescheides lautet wie folgt:
"Zur Feststellung des Kindergeldanspruchs wurde mit Schreiben vom 19.01.2005 darum gebeten, den Antrag auszufüllen, die Familienstandsbescheinigung und den Vordruck E 411 ausgefüllt und bestätigt zurückzusenden.
Die für die Entscheidung über den Kindergeldanspruch notwendigen Unterlagen wurden bisher nicht eingereicht. Es kann deshalb nicht festgestellt werden, ob ein Anspruch auf Kindergeld besteht."
Im Wesentlichen unter Bezugnahme auf die deutsche Anfragebeantwortung bzw. auf den eben zitierten "Ablehnungsbescheid" vom 15. März 2005 wies das Finanzamt die Berufung mit Berufungsvorentscheidung vom 22. März 2005 als unbegründet ab. Da nicht geklärt sei, ob beim Ehemann der Beschwerdeführerin, der seit 1. März 2001 bei der "Firma/Siemens" in Deutschland beschäftigt sei und seine Abgaben in Deutschland leiste, eine Anspruchsvoraussetzung gegeben wäre, könne derzeit auch der Kindesmutter (= Beschwerdeführerin) keine Beihilfe gewährt werden.
Die Beschwerdeführerin beantragte die Entscheidung über die Berufung durch die Abgabenbehörde zweiter Instanz. In einem Ergänzungsschriftsatz führte sie aus, sie lebe mit ihrem Ehemann und der gemeinsamen Tochter in Wien im gemeinsamen Haushalt. Ihr Ehemann habe in Deutschland keinen ordentlichen Wohnsitz. Er sei bei "Siemens Deutschland" beschäftigt, arbeite jedoch als "Expatriot" ausschließlich in Saudi-Arabien, Jordanien und Libyen und halte sich aus beruflichen Gründen nahezu das ganze Jahr über in diesen Ländern auf. Dennoch habe er in der Wiener Wohnung seinen ordentlichen Wohnsitz, zumal er wirtschaftliche und gesellschaftliche Lebensbeziehungen ausschließlich in Österreich unterhalte. In Deutschland habe er keinen Anspruch auf Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz, weil ihm dort der gewöhnliche Aufenthalt oder Wohnsitz fehle, er in München lediglich eine Postadresse habe und während tageweiser Aufenthalte etwa alle zwei Monate in München in Hotels nächtige.
Die belangte Behörde wies diese Berufung als unbegründet ab. Die Beschwerdeführerin wohne mit ihrer Tochter in Österreich und übe keine Tätigkeit aus. Ihr Ehemann arbeite bei "Siemens Deutschland" und sei in Österreich nicht versichert. Laut den Ausführungen der Beschwerdeführerin befinde er sich den überwiegenden Teil des Jahres im Ausland und wohne, wenn er in Wien sei, bei der Beschwerdeführerin und ihrer Tochter. Im Zentralen Melderegister sei (jedoch) kein Wohnsitz in Wien gemeldet. Bei den Regelungen im Bereich der Sozialen Sicherheit bilde - so die belangte Behörde rechtlich - die Übernahme zweier EU-Verordnungen den Schwerpunkt. Dies seien die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der Sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, sowie die Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 . Der Ehemann der Beschwerdeführerin unterstehe der Verordnung Nr. 1408/71 . Diese besage, dass der Anspruch auf Familienbeihilfe im Beschäftigungsland bestehe. Im gegenständlichen Fall sei der Arbeitgeber des Ehemannes der Beschwerdeführerin in Deutschland; nach dem Prinzip des Beschäftigungslandes sei Deutschland hinsichtlich der Gewährung von Kindergeld zuständig. Dass es nicht zur Auszahlung des Kindergeldes gekommen sei, müsse, wie sich aus dem Schreiben der Bundesagentur für Arbeit ergebe, der Vorgangsweise des Ehemannes zugerechnet werden.
Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof - nach Aktenvorlage und Erstattung einer Gegenschrift seitens der belangten Behörde - erwogen:
Im vorliegenden Fall wird von der belangten Behörde nicht in Zweifel gezogen, dass die Beschwerdeführerin grundsätzlich die Voraussetzungen der §§ 2 und 3 des Familienlastenausgleichsgesetzes 1967 (FLAG) für den Bezug von Familienbeihilfe für ihre mj. Tochter erfüllt. Sie vertritt allerdings die Auffassung, dass Deutschland hinsichtlich der Gewährung von Kindergeld zuständig sei, weshalb der Beschwerdeführerin kein Anspruch auf die beantragte Familienbeihilfe zukomme.
Richtig ist, dass es gegenständlich darauf ankommt, ob für die Tochter der Beschwerdeführerin ausländische (konkret: deutsche) Ansprüche bestehen. Das ergibt sich aus § 5 Abs. 4 FLAG, wonach kein Anspruch auf Familienbeihilfe für Kinder besteht, für die Anspruch auf eine gleichartige ausländische Beihilfe besteht. Nach dem zweiten Satz der eben genannten Bestimmung wird die Gewährung einer Ausgleichszahlung (§ 4 Abs. 2) - das ist jener Differenzbetrag, um den die ausländische Beihilfe hinter der österreichischen Familienbeihilfe zurückbleibt - dadurch nicht ausgeschlossen.
Ob Ansprüche in Deutschland in Betracht kommen, ist nach der auch im angefochtenen Bescheid angesprochenen Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 (im Folgenden: VO) zu beurteilen. Dazu ist im gegebenen Zusammenhang einleitend festzuhalten, dass der Ehemann der Beschwerdeführerin nach ihrem eigenen Vorbringen bei "Siemens Deutschland" beschäftigt ist, weshalb er unzweifelhaft dem persönlichen Geltungsbereich dieser VO (Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 lit. a) unterfällt.
Unter Titel II ("Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften") bestimmt Art. 13 Abs. 1 der VO, dass - vorbehaltlich hier nicht in Betracht kommender Sonderbestimmungen - Personen, für die diese VO gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats unterliegen. Welche Rechtsvorschriften diese sind, bestimmt sich nach diesem Titel.
Damit wird auf Art. 13 Abs. 2 der VO sowie auf die nachfolgenden Art. 14 bis 17a verwiesen, welche Vorschriften sich insoweit als Kollisionsnormen darstellen und die mit der Anwendbarkeit der Rechtsordnung eines Mitgliedstaates zugleich auch dessen (internationale) Zuständigkeit zur Vollziehung festlegen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 20. September 2006, 2004/08/0087). Fallbezogen ist, dem unwidersprochenen Vorbringen der Beschwerdeführerin folgend, davon auszugehen, dass ihr bei "Siemens Deutschland" beschäftigter Ehemann ausschließlich in Saudi-Arabien, Jordanien und Libyen arbeitet. Wie der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) in seinem Urteil vom 29. Juni 1994 in der Rs C-60/93 (Aldewereld) ausgesprochen hat, enthalten die erwähnten Kollisionsnormen keine unmittelbare Regelung für den Fall, dass eine Person zwar von einem Unternehmen aus der Gemeinschaft eingestellt wurde, aber nicht im Gebiet der Gemeinschaft tätig ist (Randnr. 11). Insofern wird in der vorliegenden Beschwerde mit Recht geltend gemacht, dass Art. 13 Abs. 2 der VO, der das von der belangten Behörde ins Treffen geführte Prinzip des Beschäftigungslandes normiert, hier keine Anwendung findet. Der EuGH hat im genannten Urteil allerdings weiter ausgeführt, dass in einem derartigen Fall eine solche Person nach dem System der VO den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats unterliegt, in dem der Arbeitgeber ansässig ist (Randnr. 25). Von daher gelangt man letztlich doch zur Maßgeblichkeit der deutschen Rechtsvorschriften bzw. zur Zuständigkeit Deutschlands, was bedeutet, dass der Ehemann der Beschwerdeführerin nach dem hier einschlägigen, im 7. Kapitel ("Familienleistungen") des Titels III enthaltenen Art. 73 der VO - gemäß dieser Bestimmung hat ein Arbeitnehmer, der den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegt (vorbehaltlich der hier nicht in Betracht kommenden Bestimmungen in Anhang VI), für seine Familienangehörigen, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des ersten Staates, als ob diese Familienangehörigen im Gebiet dieses Staates wohnten - für die gemeinsame Tochter mit der Beschwerdeführerin in der Weise Anspruch auf Familienleistungen nach deutschen Rechtsvorschriften hat, als ob sie (die Tochter) in Deutschland wohnen würde. Da derartige Ansprüche, wie oben dargestellt, einen österreichischen Familienbeihilfenanspruch ausschließen, bedarf es keiner näheren Beschäftigung mit den im Urteil des EuGH vom 7. Juni 2005 in der Rs C-543/03 (Christine Dodl und Petra Oberhollenzer) unter Randnr. 35 ff. erörterten Antikumulierungsregeln des Art. 76 der VO und des Art. 10 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 . Der dem genannten Urteil zu Grunde liegende Fall ist insofern zum hier vorliegenden gegenteilig gelagert, als dort österreichische (und nicht wie hier deutsche) Leistungen nach Art. 73 der VO zur Debatte standen.
Ist nach dem bisher Gesagten nachgewiesen, dass der Auffassung der belangten Behörde entsprechend an die deutsche Rechtslage anzuknüpfen ist, so ist in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob es gemäß dieser Rechtslage in der konkreten Situation des hier zu beurteilenden Falles auch tatsächlich zu äquivalenten deutschen Leistungen kommen kann. Die belangte Behörde hat dies offenkundig unterstellt und im Ergebnis die Auffassung vertreten, die tatsächliche Nichtgewährung entsprechender Leistungen sei allein darauf zurückzuführen, dass der Ehemann der Beschwerdeführerin im deutschen Verfahren zur Geltendmachung des Kindergeldes die notwendigen Unterlagen nicht vorgelegt habe. Träfe diese Auffassung zu, so könnte dem erkennbaren Standpunkt der belangten Behörde, eine derartige Obliegenheitsverletzung sei unbeachtlich, nicht widersprochen werden, weil der Fall dann nicht anders zu beurteilen wäre als hätte der Ehemann die Antragstellung in Deutschland überhaupt unterlassen (vgl. sinngemäß das hg. Erkenntnis vom 9. Juni 1978, 1019/77). Demgegenüber brachte die Beschwerdeführerin jedoch vor, dass ihrem Ehemann von vornherein kein Anspruch auf Kindergeld nach den deutschen Vorschriften zukomme, weil er in Deutschland weder Wohnsitz noch gewöhnlichen Aufenthalt habe. Dieser Standpunkt wird von ihr auch in der gegenständlichen Beschwerde aufrechterhalten. Damit hat sich die belangte Behörde unter Hinweis auf das oben erwähnte Schreiben der Bundesagentur für Arbeit nicht näher auseinander gesetzt. In dem besagten Schreiben (bzw. in dem angeschlossenen Bescheid selben Datums) ist zwar davon die Rede, dass der Ehemann der Beschwerdeführerin die Antragsunterlagen nicht eingereicht habe bzw. dass die für die Entscheidung über den Kindergeldanspruch notwendigen Unterlagen nicht eingereicht worden seien. Es wird aber auch darauf hingewiesen, dass (demnach) nicht geklärt bzw. nicht festgestellt werden könne, ob ein Anspruch auf Kindergeld bestehe. Diese Formulierung lässt die Möglichkeit offen, die deutschen Rechtsvorschriften würden in einer Konstellation wie der vorliegenden ungeachtet der sich aus Art. 73 der VO ergebenden Fiktion eines Wohnsitzes der Familienangehörigen (konkret der Tochter der Beschwerdeführerin) in Deutschland einen Anspruch auf Kindergeld nicht einräumen (vgl. dazu auch die - freilich nur partielle - Darstellung der deutschen Rechtslage im Urteil des EuGH vom 7. Juli 2005 in der Rs C-153/03 (Weide), Randnr. 11). Die belangte Behörde hätte daher ergänzende Ermittlungen zur deutschen Rechtslage - der Grundsatz "iura novit curia" gilt in Bezug auf ausländisches Recht nicht (vgl. zuletzt etwa das hg. Erkenntnis vom 12. September 2006, 2003/03/0035) - anstellen und klären müssen, inwieweit dem Ehemann der Beschwerdeführerin ausgehend von der zu Grunde gelegten konkreten Situation des Beschwerdefalles und unter Außerachtlassung allfälliger "Antragsformalitäten" äquivalente deutsche Leistungen zustehen. Diese Ermittlungspflicht besteht vor dem Hintergrund des zweiten Satzes des § 5 Abs. 4 FLAG insbesondere auch bezüglich der Höhe dieser Leistungen, zumal der Umstand, dass die Gewährung der dort genannten Ausgleichszahlung gemäß § 4 Abs. 2 FLAG an die österreichische Staatsbürgerschaft geknüpft ist, jedenfalls im Anwendungsbereich der VO zufolge deren Vorrangs nicht als Ausschlussgrund zum Tragen kommen kann (zur Ausgleichspflicht vor dem Hintergrund der VO unter Bedachtnahme auf das oben genannte Urteil des EuGH vom 7. Juni 2005 vgl. Freudhofmeier, Das Kinderbetreuungsgeld im Lichte der aktuellen EuGH-Judikatur zur Gewährung von familienspezifischen Leistungen bei Auseinanderfallen von Beschäftigungs- und Wohnsitzstaat, ASoK 2005, 389).
Zusammenfassend ergibt sich damit, dass der Sachverhalt noch einer Ergänzung bedarf, weshalb der bekämpfte Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben war.
Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. II Nr. 333/2003.
Wien, am 23. Mai 2007
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