VwGH 2006/19/0245

VwGH2006/19/024522.6.2006

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Höß sowie die Hofräte Dr. Nowakowski und Mag. Nedwed, die Hofrätin Dr. Pollak und den Hofrat Dr. N. Bachler als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Trefil, über die Beschwerde des R, geboren 1969, vertreten durch Dr. Gerhard Bock, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Parkring 2, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 9. September 2004, Zl. 245.945/0-XI/34/04, betreffend Zurückweisung eines Asylantrags wegen entschiedener Sache (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1997 §7;
AVG §68 Abs1;
VwRallg;
AsylG 1997 §7;
AVG §68 Abs1;
VwRallg;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Afghanistans, gelangte im Dezember 2001 erstmals in das Bundesgebiet und beantragte Asyl, wozu er - nach einer Rücküberstellung aus Großbritannien - am 19. Juni 2002 vor dem Bundesasylamt einvernommen wurde.

Das Bundesasylamt wies den Antrag mit Bescheid vom 7. November 2002 gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG) ab und erklärte die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan gemäß § 8 AsylG für zulässig. Es ging davon aus, das Vorbringen des Beschwerdeführers sei in den entscheidungswesentlichen Teilen - betreffend die vom Beschwerdeführer seinen Behauptungen zufolge befürchtete Verfolgung durch den Mudjaheddin-Kommandanten Abdullah Shah - nicht glaubwürdig.

Der Beschwerdeführer war inzwischen abermals ausgereist, ohne eine neue Zustelladresse bekannt zu geben, weshalb ihm der Bescheid nach Einholung einer Meldeauskunft, die keine Meldeadresse in Österreich ergab, gemäß § 8 Abs. 2 ZustG durch Hinterlegung "im Akt" zugestellt wurde und unangefochten blieb.

Nach abermaliger Rücküberstellung aus Großbritannien im Juni 2003 beantragte der Beschwerdeführer erneut Asyl. Im schriftlichen Asylantrag vom 28. August 2003 führte er dazu aus, die Situation habe sich nun dahingehend geändert, dass in Afghanistan einzelne Stammesfürsten bzw. ehemalige Mudjaheddin-Kommandanten die lokale Macht übernommen hätten. Als Sohn eines ehemaligen Nadjibullah-Offiziers und Mitglied einer von den Taliban geschützten Familie wäre er nunmehr bei einer Rückkehr nach Afghanistan akut gefährdet. Er habe auch keinen Kontakt mehr zu seiner Familie und wisse nicht, ob sie noch am Leben sei. Bei der Einvernahme dazu am 26. November 2003 gab der Beschwerdeführer an, sein Vater, seine Mutter und seine vier Geschwister in Paghman bei Kabul seien von Abdullah Shah getötet worden. Abdullah Shah habe sich damit für den von ihm behaupteten Verrat seines vermutlich von den Taliban getöteten Bruders durch die Familie des Beschwerdeführers rächen wollen. Er wohne jetzt in Kabul und habe viel Macht.

Zur zeitlichen Einordnung der Ermordung seiner Familie gab der Beschwerdeführer - der schon bei der Einvernahme im Erstverfahren "stark verlangsamt" gewirkt hatte und nunmehr erklärte, psychisch krank zu sein, ständig Medikamente zu nehmen und sich an kein Datum erinnern zu können - an, er habe durch ein "vor 1,5 Monaten" mit seiner Frau in Pakistan geführtes Telefongespräch davon erfahren. Seine Frau habe ihm kein Datum genannt: "Aber die Mudjahedin haben Kabul erobert. Dass muss entweder 5 oder 10 Tage nach der Eroberung von Kabul gewesen sein." Andererseits gab der Beschwerdeführer an, er habe noch von London aus (gemeint offenbar: nach der ersten Weiterreise aus Österreich) ein kurzes Telefongespräch mit seinem Bruder führen können und zu diesem Zeitpunkt sei die Familie noch am Leben gewesen ("Alle waren in Kabul").

Das Bundesasylamt wies den Zweitantrag mit Bescheid vom 5. Dezember 2003 wegen entschiedener Sache zurück. Es ging davon aus, der Beschwerdeführer habe sein im Erstverfahren erstattetes Vorbringen wiederholt und es "hinsichtlich der Bedrohung durch den Kommandanten Abdullah Shah ... erweitet". Dieser Kommandant sei inzwischen in Haft und zum Tode verurteilt worden, weshalb dem Beschwerdeführer "ungeachtet des Wahrheitsgehaltes" seines Vorbringens von dieser Seite her keine Gefahr mehr drohe. Die "afghanischen Behörden" gingen zum Schutz der Bevölkerung "aktiv" gegen "warlords" vor.

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung des Beschwerdeführers gegen den Bescheid des Bundesasylamtes gemäß § 68 Abs. 1 AVG ab. Sie wertete das Vorbringen des Beschwerdeführers zu seinem Zweitantrag an zwei Stellen ihrer Bescheidbegründung (Seite 3 oben und Seite 4 unten des angefochtenen Bescheides) als im Wesentlichen bloß wiederholend. In einer dazwischen liegenden Bezugnahme auf die nunmehr behauptete Ermordung der Familie des Beschwerdeführers (Seite 4 Mitte des angefochtenen Bescheides) sprach die belangte Behörde diesem - ihrer nicht näher begründeten Ansicht nach "im Übrigen wenig glaubwürdigen" - Vorbringen die Eignung, zu einem anderen Verfahrensergebnis zu führen, deshalb ab, weil das geltend gemachte Motiv für das "gewaltsame Vorgehen" gegen die Familie des Beschwerdeführers in dem schon im Erstverfahren behaupteten Verratsvorwurf bestanden habe.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

1. In der Beschwerde wird davon ausgegangen, die Ermordung der Familie des Beschwerdeführers habe sich erst nach dem rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens über seinen ersten Asylantrag ereignet. Die belangte Behörde hat Feststellungen darüber, wann dieser behauptete Vorfall spätestens stattgefunden haben müsste, nicht getroffen und das Vorbringen des Beschwerdeführers über diesen Vorfall auf Grund der dargestellten Erwägung für unwesentlich gehalten.

Dieser Überlegung kann nicht gefolgt werden. Träfe es zu, dass die Person, vor deren Rache der Beschwerdeführer seinen Angaben im Erstverfahren zufolge geflohen sein will, in weiterer Folge seine Familie ermordete, so wäre dies gegenüber dem im Erstverfahren angenommenen Sachverhalt auch dann eine wesentliche Änderung, wenn der Mord eine Verwirklichung der im Erstverfahren behaupteten, damals aber nicht geglaubten Gefahr für die ganze Familie gewesen wäre. Im Einzelnen kann zu den dafür maßgebenden rechtlichen Gesichtspunkten gemäß § 43 Abs. 2 VwGG auf das hg. Erkenntnis vom 4. November 2004, Zl. 2002/20/0391, verwiesen werden (vgl. dazu insbesondere auch die Erkenntnisse vom 26. Juli 2005, Zl. 2005/20/0343, vom 27. September 2005, Zl. 2005/01/0363, vom 29. September 2005, Zl. 2005/20/0365, und vom 22. Dezember 2005, Zl. 2005/20/0556).

Ob es wirklich zutreffen kann, dass der behauptete Mord - wenn er sich ereignet hat - erst nach Abschluss des Erstverfahrens vorgefallen ist, mag im Hinblick auf das vom Beschwerdeführer zumindest angedeutete zeitliche Naheverhältnis zur Vertreibung der Taliban aus der Region um Kabul (vgl. allerdings die Ausführungen des Beschwerdeführers über das von London aus geführte Telefonat) einerseits und allgemein zugängliche Berichte über den Zeitpunkt der Verhaftung Abdullah Shahs und dessen Lebensumstände in der Zeit unmittelbar davor andererseits fraglich erscheinen. Angesichts des dazu in der Beschwerde vertretenen Standpunktes kann es aber nicht Aufgabe des Verwaltungsgerichtshofes sein, sich an Stelle der belangten Behörde mit dieser Frage erstmals auseinander zu setzen und die dazu erforderlichen Feststellungen zu treffen.

2. Auf die Beseitigung der von Abdullah Shah den Behauptungen des Beschwerdeführers zufolge für ihn ausgehenden Gefahr durch die Verurteilung (und die im April 2004 erfolgte Hinrichtung) Shahs hat sich die belangte Behörde - im Gegensatz zum Bundesasylamt - nicht gestützt, sodass auf die Frage einer allfälligen doppelten Sachverhaltsänderung (vgl. dazu das hg. Erkenntnis vom 16. Juli 2003, Zl. 2000/01/0440) nicht eingegangen werden muss.

Hinzuzufügen ist jedoch, dass es - gemessen daran, dass dem Beschwerdeführer eine von Abdullah Shah ausgehende Bedrohung im Erstverfahren überhaupt nicht geglaubt wurde - für eine Beurteilung der im Zweitverfahren geltend gemachten Gefährdung auch dann, wenn sich die Ermordung der Familie des Beschwerdeführers schon vor dem Abschluss des Erstverfahrens ereignet haben sollte, auf Sachverhaltselemente ankommen könnte, die erst nach November 2002 eingetreten sind. Dazu gehören im Besonderen die für die Gefahrenprognose allenfalls relevanten Entwicklungen im Anschluss an den Prozess gegen Abdullah Shah, vor allem betreffend die Befürchtung nachträglicher Repressalien gegen die Belastungszeugen (vgl. u.a. dazu den Bericht der Sonderberichterstatterin Asma Jahangir an die UN-Menschenrechtskommission vom 3. Februar 2003) und den nunmehrigen Einfluss von Abdul Rabb al-Rasul Sayyaf (vgl. dazu den Bericht von Human Rights Watch vom Juli 2003, Killing You is a Very Easy Thing For Us), mit dem Abdullah Shah in der Zeit zwischen seinem Prozess und seiner Hinrichtung sowie nach letzterer wiederholt in Zusammenhang gebracht wurde (vgl. dazu die Berichte in der Los Angeles Times am 24. November 2002, Moujahedeen Faces Death in Slayings, und daran anknüpfend in der International Herald Tribune vom 6. Mai 2004, A Setback For Afghan Justice).

3. Der angefochtene Bescheid war aber schon deshalb, weil die belangte Behörde auf Grund ihrer vom Verwaltungsgerichtshof nicht geteilten Rechtsanschauung keine Feststellungen über den möglichen Zeitpunkt der behaupteten Ermordung der Familie des Beschwerdeführers für erforderlich hielt, gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

4. Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.

Wien, am 22. Juni 2006

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