VwGH 2005/20/0646

VwGH2005/20/06462.3.2006

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Giendl sowie die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Sulzbacher und Dr. Berger und die Hofrätin Dr. Pollak als Richter, im Beisein des Schriftführers Dr. Trefil, über die Beschwerde des S (auch K) in B, geboren 1968, vertreten durch Dr. Alexander Knotek, Rechtsanwalt in 2500 Baden, Pergerstraße 12, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 20. September 2005, Zl. 263.840/0-IX/25/05, betreffend Abweisung eines Wiedereinsetzungsantrages und Zurückweisung einer Berufung in einer Asylsache (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

ABGB §1332;
AVG §63 Abs5;
AVG §71 Abs1 Z1;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGG §46 Abs1;
ABGB §1332;
AVG §63 Abs5;
AVG §71 Abs1 Z1;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGG §46 Abs1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein staatenloser Kurde aus Syrien, gelangte im Dezember 2004 in das Bundesgebiet und beantragte Asyl. Bei Einvernahmen am 16. Dezember 2004 und am 23. Mai 2005 begründete er seinen Antrag im Wesentlichen damit, er habe unter näher beschriebenen Umständen mit einer Holzstange auf einen Polizisten eingeschlagen und diesen verletzt. Hätte er sich der Strafverfolgung gestellt, so wäre er zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt, vielleicht aber auch zu Tode gefoltert worden. Nach den Unruhen im März 2004 sei er schon mehrere Monate lang inhaftiert gewesen und dabei gefoltert worden.

Das Bundesasylamt wies mit Bescheid vom 20. Juni 2005 den Asylantrag gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG) ab (Spruchpunkt I), erklärte die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Syrien gemäß § 8 Abs. 1 AsylG für zulässig (Spruchpunkt II) und wies den Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet aus (Spruchpunkt III). Es stellte u. a. fest, jeder Syrer, der in Polizeigewahrsam gerate, müsse "grundsätzlich mit Folter rechnen" und die Haftbedingungen in Syrien könnten "zu einem frühen Tod" führen, vertrat aber - ausgehend von den Behauptungen des Beschwerdeführers - zu Spruchpunkt II die Ansicht, dem Vorbringen sei "nichts zu entnehmen" gewesen, was "nachvollziehbar auf eine konkrete, vom Staat geduldete Gefährdung im Sinne des § 57 FrG" hingewiesen hätte. Dieser Bescheid wurde dem Beschwerdeführer am 23. Juni 2005 durch Hinterlegung zugestellt, sodass die Berufungsfrist am 7. Juli 2005 endete.

Mit Schriftsatz vom 27. Juli 2005 beantragte Mag.a G., eine am 29. Juni 2005 vom Beschwerdeführer bevollmächtigte Mitarbeiterin der Deserteurs- und Flüchtlingsberatung in Wien, unter gleichzeitiger Erhebung der Berufung gegen den Bescheid des Bundesasylamtes die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist. Zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrages wurde in dem Schriftsatz ausgeführt, die Deserteurs- und Flüchtlingsberatung führe jeden Mittwoch Abend "offene Rechtsberatung" durch. Im Zuge des Erstberatungsgespräches mit dem Beschwerdeführer am 29. Juni 2005 habe Mag.a G. die Angaben des Beschwerdeführers aufgenommen, die Unterlagen kopiert und einen Akt angelegt. Es sei vereinbart worden, dass Mag. L., ein anderer - im Vollmachtsformular gleichfalls angeführter - ehrenamtlicher Mitarbeiter der Deserteurs- und Flüchtlingsberatung, die Berufung schreiben und einbringen werde und sich der Beschwerdeführer am Mittwoch, den 13. Juli 2005, eine Kopie des Schriftsatzes abholen könne.

Mag.a G. habe den Akt samt ihren Aufzeichnungen zur Bearbeitung durch Mag. L. an den dafür vorgesehenen Arbeitsplatz gelegt, wie dies auch bis dahin immer gehandhabt worden sei, und danach einen Urlaub angetreten. Bei seinem Eintreffen am Freitag, den 1. Juli 2005, habe Mag. L. den Akt des Beschwerdeführers nicht unter den zu bearbeitenden Akten vorgefunden, weil der Akt in der Zwischenzeit bei einer nicht mehr feststellbaren Gelegenheit offenbar durch eine Unachtsamkeit vom Schreibtisch gestoßen und zwischen der Rückseite des Tisches und der Wand zu liegen gekommen sei. Als der Beschwerdeführer am 13. Juli 2005 wie vereinbart vorgesprochen habe, um sich eine Kopie der Berufung abzuholen, sei sein Akt nach intensivem Suchen hinter dem Schreibtisch gefunden worden.

Das Bundesasylamt wies den Wiedereinsetzungsantrag mit Bescheid vom 24. August 2005 ab, erkannte ihm jedoch gemäß § 71 Abs. 6 AVG die aufschiebende Wirkung zu.

Gegen die Abweisung des Wiedereinsetzungsantrages erhob der Beschwerdeführer, vertreten durch Mag.a G., Berufung. Er wandte sich gegen das Argument des Bundesasylamtes, er hätte nicht auf die Einbringung der Berufung durch seine Bevollmächtigten vertrauen dürfen, und kritisierte die Beurteilung des Verschuldens von Mag.a G. durch das Bundesasylamt. Im Besonderen habe Mag.a G. den Akt nicht, wie vom Bundesasylamt formuliert, "verlegt", sondern er sei durch eine "indirektes, nicht willentliches, nicht auf diesen Gegenstand gerichtetes Manipulieren" in Verstoß geraten. Das "Verrutschen" des Aktes sei unvorhergesehen gewesen, weil Derartiges in der Deserteurs- und Flüchtlingsberatung zuvor nie vorgefallen sei.

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung gegen die Abweisung des Wiedereinsetzungsantrages gemäß § 71 Abs. 1 AVG ab (Spruchpunkt I) und die Berufung gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 20. Juni 2005 gemäß § 63 Abs. 5 AVG als verspätet zurück (Spruchpunkt II).

Dagegen richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

1.) Zum Wiedereinsetzungsantrag:

Die belangte Behörde hat ihrer Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag das darin erstattete Vorbringen zugrunde gelegt und den Sachverhalt - im Anschluss an längere allgemein gehaltene Rechtsausführungen - nach dem "strengeren Maßstab" beurteilt, der nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes "an berufliche rechtskundige Parteienvertreter anzulegen" sei:

"Bei der Deserteurs- und Flüchtlingsberatung handelt es sich um rechtskundige Parteienvertreter und ist nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes für diese ein strengerer Maßstab als bei rechtsunkundigen Personen anzulegen.

...

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt der Organisation eines Kanzleibetriebes eine besondere Bedeutung zu. Die Rechtsprechung wurde zwar vorwiegend für die Pflichten des Kanzleibetriebes eines Rechtsanwaltes entwickelt, ist jedoch zweifellos auf andere Parteienvertreter, die regelmäßig Parteien vertreten, wie dies insbesondere für die gegenständliche Deserteurs- und Flüchtlingsberatung gilt, analog anzuwenden. Diese Vertreter haben für eine solche Organisation in ihrer Kanzlei zu sorgen, die nach menschlichem Ermessen die Versäumung von Fristen ausschließt. Besonderes Augenmerk ist dabei dem Fristen-Vormerk zuzuwenden ..."

Davon ausgehend sah die belangte Behörde im Fehlen eines Fristenkalenders bei der Deserteurs- und Flüchtlingsberatung - unter Hinweis auf vier Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes zur Postbearbeitung in einem Stadtamt und zu Sorgfaltspflichten von Rechtsanwälten - einen groben Organisationsmangel, der über einen minderen, der Wiedereinsetzung gemäß § 71 Abs. 1 Z 1 AVG nicht entgegen stehenden Grad des Versehens hinausgehe.

Dieser rechtlichen Beurteilung ist insofern beizupflichten, als sie - im Gegensatz zur erstinstanzlichen Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag - an das Sachverhaltselement anknüpft, welches das Vorliegen der Voraussetzungen für die Bewilligung der Wiedereinsetzung tatsächlich in Frage stellt und ihr jedenfalls entgegenstünde, wenn Vergleichbares bei einem Rechtsanwalt geschehen wäre. Mit Recht geht die belangte Behörde auch davon aus, dass Sorgfaltsverstöße von Mag.a G. in Bezug auf die Einhaltung der Berufungsfrist dem Beschwerdeführer wie Sorgfaltsverstöße eines anwaltlichen Vertreters zuzurechnen sind (vgl. zu Begründung und Voraussetzungen der Verschuldenszurechnung das hg. Erkenntnis vom 7. Mai 1998, Zl. 97/20/0693).

In der "analogen" Anwendung der Anforderungen an die Kanzleiorganisation eines Rechtsanwaltes auf die Deserteurs- und Flüchtlingsberatung kann der belangten Behörde aber nicht zur Gänze gefolgt werden. Zwar trifft es auch zu, dass jemand, der - wenngleich ehrenamtlich - professionelle Vertretungshandlungen vornimmt, die erforderlichen organisatorischen Vorkehrungen zu treffen hat (vgl. - jeweils das Unterstützungskomitee für politisch verfolgte Ausländerinnen und Ausländer betreffend - die hg. Erkenntnisse vom 12. September 1996, Zl. 95/20/0126, und vom 10. Oktober 1996, Zl. 95/20/0659). An das Ausmaß der Professionalität können bei Einrichtungen wie der hier betroffenen aber nicht die gleichen Anforderungen gestellt werden wie bei einem Rechtsanwalt. Würde man die ehrenamtlichen Mitarbeiter einer solchen Einrichtung an einem Maßstab messen, dem sie - ungeachtet eines allenfalls abgeschlossenen Jusstudiums - mangels Berufsausbildung zum Rechtsanwalt und ohne die damit verbundenen Kenntnisse und Erfahrungen nicht gerecht werden können, so würde ihre Tätigkeit von vornherein als sorgfaltswidrig eingestuft.

Für den vorliegenden Fall folgt daraus nicht, dass Mag.a G. - um deren persönliches, dem Beschwerdeführer zurechenbares Verschulden es nur gehen kann - kein Sorgfaltsverstoß zur Last liegen würde. In der Gewichtung des Umstandes, dass sie die Gefährlichkeit der in der Beratungseinrichtung bis dahin eingehaltenen Vorgangsweise bis zu dem Vorfall mit dem Akt des Beschwerdeführers nicht erkannt hatte, ergibt sich aus der Abstandnahme von einer vollständigen Übertragung der Anforderungen an die Organisation des Kanzleibetriebes durch einen Rechtsanwalt aber ein das Ausmaß der Abweichung von der geschuldeten Sorgfalt betreffender Unterschied, der die Annahme eines minderen Grades des Versehens zulässt.

Spruchpunkt I des angefochtenen Bescheides war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben.

2.) Zur Zurückweisung der Berufung:

Das Bundesasylamt hat dem Wiedereinsetzungsantrag - dessen letztinstanzliche Abweisung durch das vorliegende Erkenntnis rückwirkend aus dem Rechtsbestand beseitigt wird - aufschiebende Wirkung zuerkannt (vgl. in diesem Zusammenhang das hg. Erkenntnis vom 3. Juli 2003, Zl. 2002/20/0078). Die Zurückweisung der verspäteten Berufung vor der Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag durch die belangte Behörde entspricht unter diesen Umständen auch nach dem Erkenntnis eines verstärkten Senates vom 23. Oktober 1986, Slg. Nr. 12.275/A, nicht dem Gesetz.

Auch Spruchpunkt II des angefochtenen Bescheides war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.

Wien, am 2. März 2006

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