VwGH 99/18/0459

VwGH99/18/04593.3.2004

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zeizinger und die Hofräte Dr. Rigler, Dr. Handstanger, Dr. Enzenhofer und Dr. Strohmayer als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Stummer, über die Beschwerde des G, geboren 1975, vertreten durch Dr. Gottfried Lindner und Mag. Thomas Fragner, Rechtsanwälte in 4020 Linz, Landstraße 35B, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Oberösterreich vom 10. November 1999, Zl. St 182/99, betreffend Aufhebung eines unbefristeten Aufenthaltsverbotes, zu Recht erkannt:

Normen

FrG 1993 §18 Abs1;
FrG 1993 §18 Abs2 Z1;
FrG 1993 §18 Abs2 Z2;
FrG 1997 §114 Abs3;
FrG 1997 §38 Abs1 Z4;
FrG 1997 §44;
StGB §142 Abs1;
StGB §83 Abs1;
VwRallg;
FrG 1993 §18 Abs1;
FrG 1993 §18 Abs2 Z1;
FrG 1993 §18 Abs2 Z2;
FrG 1997 §114 Abs3;
FrG 1997 §38 Abs1 Z4;
FrG 1997 §44;
StGB §142 Abs1;
StGB §83 Abs1;
VwRallg;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer den Aufwand in Höhe von EUR 908,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

I.

1. Mit in Rechtskraft erwachsenem Bescheid der Bundespolizeidirektion Linz (der Erstbehörde) vom 15. Dezember 1994 war gegen den Beschwerdeführer, einen Staatsangehörigen von Serbien und Montenegro, gemäß § 18 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z. 1 und 2 des Fremdengesetzes, BGBl. Nr. 838/1992, ein unbefristetes Aufenthaltsverbot erlassen worden.

Der Beschwerdeführer sei zweimal rechtskräftig verurteilt worden, und zwar am 22. Dezember 1992 vom Bezirksgericht Linz wegen § 83 Abs. 1 StGB zu einer Geldstrafe und am 12. Juli 1993 vom Landesgericht Linz wegen § 142 Abs. 1 StGB zu einem Jahr Freiheitsstrafe bedingt auf drei Jahre. Der Beschwerdeführer sei in Linz geboren, habe die Volksschule in Jugoslawien und die Hauptsowie die Berufschule in Linz besucht. Er lebe in Linz im gemeinsamen Haushalt mit seinen Eltern, die auch für seinen Unterhalt sorgen würden.

2. Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Oberösterreich (der belangten Behörde) vom 10. November 1999 wurde der Antrag des Beschwerdeführers vom 20. April 1999 auf Aufhebung des gegen ihn mit dem vorgenannten Bescheid erlassenen unbefristeten Aufenthaltsverbotes gemäß § 44 des Fremdengesetzes 1997 - FrG, BGBl. I Nr. 75, abgewiesen.

Zur Begründung des Antrages habe der Beschwerdeführer ausgeführt, seine Familie würde bereits seit 27 Jahren in Österreich leben. Er wäre in Linz geboren und hätte bis zu seinem siebten Lebensjahr in Österreich gelebt. Die Volksschule und auch noch die erste Klasse Hauptschule hätte er in Jugoslawien absolviert. Danach wäre er nach Österreich zurückgekehrt und hätte die restlichen Klassen Hauptschule und das Polytechnikum in Linz abgeschlossen. Bis zur Erlassung des Aufenthaltsverbotes hätte er -

mit Ausnahme von fünf Jahren - seine gesamte Lebenszeit in Österreich verbracht. Er hätte die deutsche Sprache wie seine Muttersprache erlernt und wäre im Bildungssystem und in der Gesellschaft vollständig integriert gewesen. Sein Lebensmittelpunkt wäre stets in Österreich gewesen. Sämtliche seiner Verwandten würden sich im Bundesgebiet befinden. Im Zeitpunkt der Erlassung des Aufenthaltsverbotes wäre er gerade 19 Jahre alt gewesen. Die Verhaltensweisen, welche zur Erlassung des Aufenthaltsverbotes geführt hätten, seien damals bereits mehrere Jahre zurückgelegen. Sein damaliges Verhalten wäre auf seine jugendliche Unreife zurückzuführen gewesen. Er hätte sich seither wohl verhalten. Das Aufenthaltsverbot hätte unter Zugrundelegung der nunmehr gültigen Bestimmungen (ua § 38 Abs. 1 Z. 4 FrG) nicht erlassen werden dürfen. Er sei von klein auf im Inland aufgewachsen.

Die belangte Behörde führte weiter aus, in Anbetracht der Schwere der Verfehlungen des Beschwerdeführers sei der seit der Erlassung des Aufenthaltsverbotes verstrichene Zeitraum zu kurz, um abschätzen zu können, ob die Gründe, die zur Erlassung des Aufenthaltsverbotes geführt hätten, weggefallen seien. Der Beschwerdeführer werde noch über einen längeren Zeitraum beweisen müssen, dass er die von ihm nunmehr präsentierte positive Einstellung auch in Zukunft beibehalten werde.

Das auf der Grundlage des § 18 des Fremdengesetzes aus 1992 erlassene Aufenthaltsverbot hätte auch nach dem FrG erlassen werden können. Zum Problemkreis "von klein auf im Inland aufgewachsen" werde angemerkt, dass es sich um einen lückenlosen Lebensweg des Fremden von klein auf im Inland handeln müsse. Der Fremde müsse im Inland die wesentlichsten Stationen in seinem Entwicklungs- und Lebensweg durchlaufen. Dies sei beim Beschwerdeführer nicht der Fall, weil er die Volksschule bzw. die erste Klasse Hauptschule nicht in Österreich besucht habe. Nach den Feststellungen der Erstbehörde ist er im Zeitraum von 1983 bis 1987 45 Monate nicht in Österreich (sondern in Jugoslawien) aufhältig gewesen.

3. Gegen diesen Bescheid vom 10. November 1999 richtet sich die vorliegende Beschwerde mit dem Begehren, ihn wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

4. Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor, nahm jedoch von der Erstattung einer Gegenschrift wegen "Arbeitsüberlastung" Abstand.

II.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

1. Nach der Übergangsbestimmung des § 114 Abs. 3 FrG sind (auf der Grundlage früher geltender Bestimmungen erlassene) Aufenthaltsverbote, deren Gültigkeitsdauer bei Inkrafttreten dieses Bundesgesetzes (mit 1. Jänner 1998) noch nicht abgelaufen sind, auf Antrag oder - wenn sich aus anderen Gründen ein Anlass für die Behörde ergibt, sich mit der Angelegenheit zu befassen - von Amts wegen aufzuheben, wenn sie nach den Bestimmungen dieses Bundesgesetzes nicht hätten erlassen werden können. Aufenthaltsverbote sind somit dann aufzuheben, wenn sie bei fiktiver Geltung des FrG im Zeitpunkt ihrer Verhängung nicht hätten erlassen werden dürfen (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 7. November 2003, Zl. 2000/18/0234, mwN).

2.1. Der Beschwerdeführer macht geltend, dass dem Aufenthaltsverbot die mit dem FrG neu eingeführte Bestimmung des § 38 Abs. 1 Z. 4 FrG entgegengestanden wäre. Er bringt vor, seine Familie befinde sich zur Gänze seit 27 Jahren in Österreich. Er sei in Österreich geboren, habe einen österreichischen Kindergarten besucht und dort die deutsche Sprache wie seine Muttersprache erlernt. Er habe die erste bis fünfte Schulstufe der Pflichtschule in Jugoslawien absolviert. Die restlichen Klassen der Hauptschule sowie das Polytechnikum habe er sodann in Österreich absolviert. Bis zu seiner freiwilligen Ausreise aus Österreich im 19. Lebensjahr habe er lediglich etwa fünf Jahre nicht in Österreich zugebracht, wobei er auch während dieser Zeit ständigen Kontakt zu seinen Eltern und zu den übrigen in Österreich befindlichen Verwandten gepflogen habe, indem er sämtliche Ferien (jährlich drei bis vier Monate) hier verbracht habe. Er sei "von klein auf im Inland aufgewachsen" und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen, weshalb ein Aufenthaltsverbot gemäß § 38 FrG nicht hätte erlassen werden dürfen.

2.2.1. Gemäß § 38 Abs. 1 Z. 4 FrG darf ein Aufenthaltsverbot nicht erlassen werden, wenn der Fremde von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen ist, wobei Fremde gemäß Abs. 2 dieser Bestimmung jedenfalls langjährig im Bundesgebiet niedergelassen sind, wenn sie die Hälfte ihres Lebens im Bundesgebiet verbracht haben und zuletzt seit mindestens drei Jahren hier niedergelassen sind.

Strittig ist nur, ob der Beschwerdeführer iS der genannten Gesetzesbestimmung von klein auf im Inland aufgewachsen ist. Die Einübung in soziale Verhältnisse außerhalb des engen Familienkreises, wie sie für die vom Schutzzweck des § 38 Abs. 1 Z. 4 FrG in diesem Zusammenhang geforderte Vertrautheit mit dem sozialen Gefüge eines Staates maßgeblich ist, beginnt aus dem Blickwinkel der Sozialisation des Kindes etwa nach Vollendung des dritten Lebensjahres, wobei jedoch die Abgrenzung zum vorangehenden Lebensabschnitt fließend ist. Die genannte altersmäßige Abgrenzung ist auch aus entwicklungspsychologischer Sicht von Bedeutung, wird doch die "Phase der ersten Verselbstständigung" - das ist das Stadium, in dem Kinder auch familienfremde Erzieher akzeptieren, mit anderen Kindern Freundschaften anbahnen, Spiele spielen, sich im Gruppenleben integrieren und somit ihren Lebensbereich über ihre unmittelbare familiäre Sphäre hinaus ausdehnen können - mit etwa drei Jahren erreicht. Vor diesem Hintergrund ist die Wendung "von klein auf" so zu deuten, dass sie jedenfalls für eine Person, die erst im Alter von vier Jahren oder später nach Österreich eingereist ist, nicht zum Tragen kommen kann (vgl. das hg. Erkenntnis vom 5. April 2002, Zl. 2001/18/0176). Aber auch eine Person, die zwar vor Vollendung ihres 4. Lebensjahres nach Österreich einreiste bzw. - wie der Beschwerdeführer - in Österreich geboren ist, sich aber danach wieder für längere Zeit ins Ausland begeben hat und somit nicht schon im Kleinkindalter sozial in Österreich integriert wurde, wird man von dieser Regelung - weil eine solche Person nicht in Österreich "aufgewachsen" ist - nicht als erfasst ansehen können. Bei derartigen Heimaufenthalten des Fremden kommt es darauf an, ob sie in ihrer Gesamtheit dazu geführt haben, dass der Fremde mit diesem Land ähnlich wie ein dort Lebender vertraut ist, es somit tatsächlich als seine Heimat angesehen werden kann. Dabei kommt es jedenfalls primär auf die Dauer dieser Aufenthalte (in Relation zum Lebensalter des Fremden) an; nicht unwesentlich ist aber auch, in welchen Lebensabschnitt diese Aufenthalte jeweils fallen (vgl. nochmals das Erkenntnis Zl. 2001/18/0176).

2.2.2. Der Beschwerdeführer ist im Bundesgebiet geboren und hat Österreich - abgesehen von früheren Ferienaufenthalten in Jugoslawien - nach Ausweis des Verwaltungsaktes im Oktober 1982 (somit nach Vollendung seines siebten Lebensjahres) verlassen, um in Jugoslawien bis Sommer 1987 vier Klassen Volksschule und eine Klasse Hauptschule zu besuchen, wobei auch dieser Aufenthalt in Jugoslawien kein kontinuierlicher war, sondern alljährlich durch mehrmonatige Aufenthalte in Österreich unterbrochen war (vgl. die zusammenfassende Feststellung, wonach der Beschwerdeführer von 1983 bis 1987 45 Monate nicht in Österreich, sondern in Jugoslawien war). Ab Juli 1987 hielt sich der Beschwerdeführer im Wesentlichen in Österreich auf. Der Beschwerdeführer hat Österreich im Oktober 1982 und somit in einem Zeitpunkt (vorübergehend) verlassen, in der die "Phase der ersten Verselbstständigung" und die Einübung in soziale Verhältnisse außerhalb des engen Familienkreises bereits beträchtlich fortgeschritten war. Wenn er auch im damaligen Jugoslawien die Volksschule und die erste Klasse Hauptschule absolviert hat, so muss in Anbetracht des im Vergleich zu der dort verbrachten Zeit lang dauernden Aufenthaltes in Österreich während einer für die Entwicklung eines heranwachsenden Menschen besonders wichtigen Lebensphase doch davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer mit den Gegebenheiten in Jugoslawien nicht so vertraut ist wie ein dort Lebender. Somit kann der Auffassung der belangten Behörde, der Beschwerdeführer sei nicht als von klein auf im Inland aufgewachsen anzusehen und erfülle daher nicht die (erste) Tatbestandsvoraussetzung des § 38 Abs. 1 Z. 4 FrG, nicht beigepflichtet werden. Dass die belangte Behörde die Ansicht vertrete, der Beschwerdeführer sei im Bundesgebiet nicht langjährig rechtmäßig niedergelassen (zweites Tatbestandselement der vorzitierten Gesetzesbestimmung), kann dem angefochtenen Bescheid nicht entnommen werden.

3. Der angefochtene Bescheid war, ohne dass noch auf das weitere Beschwerdevorbringen eingegangen zu werden brauchte, gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

4. Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. II Nr. 333/2003. Wien, am 3. März 2004

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