VwGH 2001/20/0663

VwGH2001/20/066326.11.2003

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Steiner und die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Sulzbacher, Dr. Grünstäudl und Dr. Berger als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Trefil, über die Beschwerde des E in L, geboren 1977, vertreten durch Dr. Gertraude Carli, Rechtsanwalt in 8230 Hartberg, Raimund-Obendrauf-Straße 9, gegen den am 20. Juni 2001 verkündeten und am 22. August 2001 schriftlich ausgefertigten Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates, Zl. 218.234/11-II/04/01, betreffend §§ 7 und 8 AsylG (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer ist ein aus Kabul stammender, der tadschikischen Volksgruppe zugehöriger Staatsangehöriger Afghanistans. Er reiste am 28. Februar 2000 in das Bundesgebiet ein und erklärte bei einer Einvernahme durch die Bundesgendarmerie am 29. Februar 2000, Asyl zu suchen. Bei der Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 9. März 2000 gab er als Fluchtgrund an, er sei von den Taliban drei Monate lang in einem Gefängnis angehalten und während dieser Zeit zu Zwangsarbeiten gezwungen, geschlagen und getreten worden. Verhaftet worden sei er im Zuge einer Waffensuche, die sich besonders gegen Tadschiken gerichtet habe. Nach der durch Bezahlung eines Geldbetrages erwirkten Freilassung aus der Haft habe er sich in einem Krankenhaus in Pakistan behandeln lassen. Von dort sei er wieder nach Kabul zurückgekehrt, wo er sich aber bis zu seiner Ausreise versteckt gehalten habe. Er habe befürchtet, wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit zwangsrekrutiert oder unter dem Vorwand, eine Waffe zu besitzen, erneut verhaftet zu werden.

Nach ergänzenden Einvernahmen des Beschwerdeführers insbesondere zu dem behaupteten Spitalsaufenthalt in Pakistan sowie Einholung einer Auskunft der Österreichischen Botschaft in Islamabad zu diesem Thema wies das Bundesasylamt mit Bescheid vom 21. Juli 2000 den Asylantrag des Beschwerdeführers gemäß § 7 AsylG ab und stellte gemäß § 8 AsylG fest, seine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Afghanistan sei zulässig.

Über die vom Beschwerdeführer dagegen erhobene Berufung verhandelte die belangte Behörde zunächst - in Verbindung mit den Verfahren zweier weiterer Asylwerber aus Afghanistan - am 12. Dezember 2000. Der Beschwerdeführer zählte nun mehrere Vorwürfe auf, die bei seiner Festnahme im Dezember 1998 gegen ihn erhoben worden seien. Man habe einerseits Waffen bei ihm vermutet, ihm andererseits aber auch vorgeworfen, seinen Ausbildungsplatz als Militärschüler in Kabul beim Einmarsch der Taliban unerlaubt verlassen und daran anschließend mit den Gegnern der Taliban gegen diese gekämpft zu haben. In Wahrheit sei er im September 1996 zusammen mit seiner Familie nach Jalalabad geflohen. Schließlich wiederholte er, er befürchte zwangsrekrutiert zu werden. Weiters widersprach er der Ansicht des beigezogenen Sachverständigen, nur Tadschiken aus bestimmten Gegenden würden von den Taliban pauschal verdächtigt, und machte geltend, die Gefahr einer Zwangsrekrutierung bestehe für ihn auch auf Grund seiner militärischen Ausbildung.

Zu Beginn der fortgesetzten Berufungsverhandlung am 20. Juni 2001 wurde eine schriftliche Berufungsergänzung des Beschwerdeführers übersetzt. Darin beschrieb der Beschwerdeführer, seine Vorgesetzten in der Militärakademie seien beim Einmarsch der Taliban unter Mitnahme der Waffen mit den Truppen Massuds geflüchtet, während der Beschwerdeführer zuerst nach Hause gegangen, anschließend in eine andere Provinz geflohen und zwei Jahre später zusammen mit seiner Familie nach Kabul zurückgekehrt sei. Dort sei er bald darauf unter Beteiligung eines paschtunischen Klassenkameraden aus der Akademie, der sich den Taliban angeschlossen habe, verhaftet worden. In der Haft sei er gefoltert und geschlagen worden. Er sei - abgesehen von der Frage nach Waffen sowie danach, "an welcher Front" er zuletzt gegen die Taliban gekämpft habe, auch gefragt worden, "für welche Agententätigkeit" er "nach Kabul geschickt worden" sei. Bei der von seinem Vater durch Bestechung erwirkten Freilassung aus dem Gefängnis im März 1999 sei er aufgefordert worden, das Land zu verlassen, widrigenfalls er wieder festgenommen werden würde. Seine Rückkehr aus Pakistan nach dem einmonatigen Spitalsaufenthalt in Peshawar sei durch Aktivitäten der Taliban in Pakistan erzwungen gewesen. In Kabul habe er sich mit Unterstützung der Familie bis zu seiner endgültigen Ausreise versteckt halten können.

Nach umfangreichen Erörterungen des Vorbringens des Beschwerdeführers mit dem Sachverständigen, der u.a. bestätigte, dass 1998 im ganzen Land eine Waffensuche der Taliban mit zehntausenden (aber in der Regel kurzfristigen) Verhaftungen stattgefunden habe, verkündete die belangte Behörde den angefochtenen, die Berufung des Beschwerdeführers gemäß §§ 7 und 8 AsylG abweisenden Bescheid.

Gegen diesen Bescheid richtet sich - ohne Bezugnahme auf die der damaligen Vertreterin des Beschwerdeführers am 28. August 2001 zugestellte schriftliche Ausfertigung - die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

1. Vorweg ist festzuhalten, dass der Verwaltungsgerichtshof den angefochtenen Bescheid anhand der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt seiner Erlassung zu überprüfen hat (vgl. in diesem Zusammenhang etwa die hg. Erkenntnisse vom 12. Mai 1999, Zl. 98/01/0455, und vom 20. Oktober 1999, Zl. 99/01/0117).

2. Die - abgesehen von umfangreichen Wiedergaben aus den Verwaltungsakten - kaum über die bei der Verkündung protokollierte Begründung hinausgehenden Erwägungen in der Bescheidausfertigung lauten in ihrem hier wesentlichen Abschnitt wie folgt:

"Auch das durchgeführte ergänzende Ermittlungsverfahren, d. h., das Ergebnis der Berufungsverhandlung, hat nämlich keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine asyl- bzw. refoulementschutzrelevante Gefährdung des Berufungswerbers in Afghanistan, und zwar auch nicht hinsichtlich des vom Berufungswerber einzig als gefährlich bezeichneten Talibangebietes, erbracht:

Vielmehr ist nach den - nachvollziehbaren und schlüssigen - Darlegungen des Sachverständigen, denen der Berufungswerber zuletzt nichts mehr entgegen gesetzt hat, für ihn jedenfalls nunmehr (anders als möglicherweise zum Zeitpunkt der Entlassung des Berufungswerbers aus der Haft im März 1999 bzw. kurze Zeit danach) weder eine zielgerichtete Verfolgung (mangels besonderen 'politisch-militärischen Bezuges' des nicht aus Nordafghanistan, insbesondere den Provinzen Parwan oder Kapisa, stammenden, dh nicht zu den - 'von den Taliban als potentielle Unterstützer von Ahmad Shah Massud beschuldigten' - Panjiris zählenden, mit keiner relevanten militärischen Funktion jemals ausgestattet gewesenen, im September 1996 <dh dem Zeitpunkt des Endes der - lediglich über die Militärakademie Kabul vermittelten, nicht über das für jeden damaligen Militärschüler geltende Maß hinausgehenden - dienstlichen und parteipolitischen Beziehung des Berufungswerbers zu Massud> 'noch nicht einmal 20 Jahre alt' gewesenen, auch nicht mit Massud zusammen geflohenen, sondern - wiederholt - in das von den Taliban beherrschte Kabul zurückgekehrten Berufungswerbers) noch eine willkürliche Misshandlung (auf Grund der sozialen Integration des Berufungswerbers in Kabul) noch eine wirtschaftliche Existenzgefährdung (auf Grund der dargelegten Vermögenssituation des Vaters des Berufungswerbers) mit maßgeblicher (dh überwiegender) Wahrscheinlichkeit zu erwarten."

Dem folgt noch eine Erörterung von Fragen eines allfälligen Einsatzes des Beschwerdeführers im Rahmen des "regulären Militärdienstes" der Taliban.

Den dargestellten Ausführungen lässt sich nicht klar entnehmen, inwieweit die belangte Behörde ihrer Entscheidung die Angaben des Beschwerdeführers über seine Erlebnisse insbesondere im Zusammenhang mit der behaupteten Inhaftierung zu Grunde gelegt hat. Der Einschub über die Entlassung aus der Haft scheint zu indizieren, dass das diesbezügliche Vorbringen zumindest hypothetisch unterstellt werden sollte. Das müsste dann - mangels jedweder Ausführungen zu einer im gegenteiligen Sinn differenzierenden Beweiswürdigung - aber auch für die Vorwürfe gelten, von denen der Beschwerdeführer behauptet hat, sie seien gegen ihn erhoben worden. Dazu gehört der vom Beschwerdeführer - seinen Angaben zufolge - erfolglos bestrittene Vorwurf, er habe während seiner zweijährigen Abwesenheit aus Kabul zusammen mit den Truppen Massuds gegen die Taliban gekämpft, und die Unterstellung, er sei für eine "Agententätigkeit" nach Kabul zurückgeschickt worden. Ginge man davon aus, dass die Taliban dem Beschwerdeführer ein solches Verhalten konkret unterstellt hätten, so könnte es aber entgegen den Überlegungen der belangten Behörde nicht darauf ankommen, ob er schon wegen der Herkunft seiner Familie als (bloß) "potentieller" Unterstützer Massuds angesehen wurde.

Die weitere Bezugnahme auf das Fehlen einer "relevanten militärischen Funktion" des Beschwerdeführers bezieht sich auf sein tatsächliches und nicht das ihm - seinen Behauptungen zufolge - ausdrücklich vorgeworfene Verhalten und würde daher letztlich darauf hinauslaufen, den Beschwerdeführer auf die Zumutbarkeit einer Verteidigung gegen die behaupteten Vorwürfe der Taliban zu verweisen. Diese Konsequenz hat die belangte Behörde nicht gezogen und wohl auch nicht ziehen wollen, zumal der Sachverständige u.a. dargelegt hatte, nach Bombenexplosionen in Kabul seien Tadschiken festgenommen und ohne Gerichtsverfahren aufgehängt worden.

Schließlich ist auch nicht klar, warum den Beschwerdeführer - bei Unterstellung der Verhaftung im Dezember 1998, der erwähnten Vorwürfe und auch der behaupteten Androhung einer neuerlichen Verhaftung - sein Alter von "nur" 19 Jahren im Zeitpunkt des Einmarsches der Taliban in Kabul oder - in Anbetracht des behaupteten Vorwurfes der "Agententätigkeit" - seine spätere, auch wiederholte Rückkehr nach Kabul geschützt haben würde.

Die Ausführungen des Sachverständigen, wonach dieser mangels "militärischen Hintergrundes" keine ins Gewicht fallende Gefährdung des Beschwerdeführers erkennen könne, gingen - abgesehen davon, dass es sich zum Teil um nicht weiter nachvollziehbare Einschätzungen ohne Darstellung empirischer Grundlagen handelte - ausdrücklich davon aus, dass der Beschwerdeführer nur "Militärschüler" und nicht in einer "kämpfenden" Funktion gewesen sei. Der Sachverständige erläuterte, offenbar auf der Grundlage unterstellter Aussageehrlichkeit des Beschwerdeführers, dass es für diesen gar nicht nötig gewesen wäre, sich in Kabul versteckt zu halten, dass er die Aufforderung bei seiner Freilassung, er solle "verschwinden" (eine nach Ansicht des Sachverständigen auch in Österreich übliche Form der Verabschiedung von Strafgefangenen), falsch verstanden habe usw. Dem vom Beschwerdeführer wiederholten Argument, ihm sei fälschlich vorgeworfen worden, während der zwei Jahre seiner Abwesenheit für Massud gekämpft zu haben, begegnete der Sachverständige aber mit dem Hinweis, gegen die Ableitung eines solchen Vorwurfs aus der "bloßen Stellung als Student an der Militärakademie" spreche schon das vom Beschwerdeführer "selbst erwähnte Faktum" der Beteiligung eines ehemaligen Kommilitonen an seiner Festnahme.

Dieser Gedankengang, der (abgesehen von der behaupteten Volksgruppenzugehörigkeit dieses ehemaligen Mitschülers) die zweijährige Abwesenheit des Beschwerdeführers außer Acht zu lassen scheint, richtet sich nicht gegen die Annahme, dass der Beschwerdeführer auf Grund der von ihm beschriebenen Vorwürfe gefährdet gewesen wäre, sondern gegen die Glaubwürdigkeit der Behauptung, dass diese Vorwürfe gegen ihn erhoben worden seien. Auch der an späterer Stelle im Protokoll fest gehaltenen Beantwortung der Frage des Verhandlungsleiters nach der gegenwärtigen Relevanz der "nunmehrigen ergänzenden Angaben" des Beschwerdeführers ist Gegenteiliges - nämlich das Fehlen einer aktuellen Gefährdung auch ausgehend von den beschriebenen Verdächtigungen - nicht nachvollziehbar zu entnehmen. Eine "frühere kämpfende Funktion" war vielmehr - unter bloß zusätzlicher Hervorhebung "insbesondere" einer kommandierenden Funktion - das ausdrückliche Beispiel des Sachverständigen für einen "militärischen Hintergrund", aus dem sich auch "gegenwärtig" noch ein "fortdauerndes Interesse" der Taliban ergeben würde.

Die belangte Behörde hat somit die Ausführungen des Sachverständigen mit einer seinen Einschätzungen in wesentlichen Punkten nicht erkennbar zu Grunde liegenden Wahrunterstellung des gesamten Vorbringens kombiniert, sodass die Begründung der Entscheidung in sich nicht schlüssig ist (vgl. zu ähnlichen Problemen in Bescheiden der belangten Behörde etwa die hg. Erkenntnisse vom 3. Juli 2003, Zl. 2000/20/0419 und Zl. 2000/20/0484 m.w.N.; seither etwa noch die Erkenntnisse vom 16. Juli 2003, Zl. 2001/01/0097, vom 17. September 2003, Zl. 2001/20/0086, und vom heutigen Tag, Zl. 2002/20/0090).

Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.

Wien, am 26. November 2003

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