VwGH 98/08/0086

VwGH98/08/008619.3.2003

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bernard und die Hofräte Dr. Müller, Dr. Sulyok, Dr. Strohmayer und Dr. Köller als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Müller, über die Beschwerde der E in S, vertreten durch Dr. Alfred Steinbuch, Rechtsanwalt in 2620 Neunkirchen, Seebensteiner Straße 4, gegen den auf Grund eines Beschlusses des Ausschusses für Leistungsangelegenheiten ausgefertigten Bescheid der Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Niederösterreich vom 5. November 1997, Zl. LGS NÖ/JUR/12181/1997, betreffend Verlust des Anspruches auf Notstandshilfe, zu Recht erkannt:

Normen

AlVG 1977 §10 Abs1;
AlVG 1977 §9 Abs3;
AlVG 1977 §9;
AlVG 1977 §10 Abs1;
AlVG 1977 §9 Abs3;
AlVG 1977 §9;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit) hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 908,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Kostenmehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Die Beschwerdeführerin bezieht nach Lage der Verwaltungsakten seit März 1990 Arbeitslosengeld bzw. Notstandhilfe. Der hier maßgebende Bezug der Notstandshilfe beruht auf einem Antrag der Beschwerdeführerin vom 6. November 1996. Am 17. Februar 1997 wurde vor der regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Neunkirchen (in der Folge AMS) mit ihr eine Niederschrift über die "Ermittlung gemäß § 10 AlVG-Nichtzustandekommen oder Vereitelung des Erfolges einer Nach(Um)schulung bzw. Wiedereingliederungsmaßnahme" aufgenommen, die (zum Teil in Ergänzung des formularmäßigen Vordrucks) folgenden Text enthält:

"Mir wurde am 15.1.97 folgende Nach(Um)schulung/Wiedereingliederungsmaßnahme, mit Beginn 17.3.97 angeboten: NH 93-Betreuungsmaßnahme für Frauen. (...) Stellungnahme zur Nichtannahme der Nach(Um)schulung - der Beendigung der Nach(Um)schulung, der Wiedereingliederungsmaßnahme:

Ich kann den Info-Tag und den Kurs nicht besuchen, da ich mein Kind von der Schule abholen muß und habe auch kein Fahrzeug."

Mit Bescheid des AMS vom 10. April 1997 wurde ausgesprochen, dass die Beschwerdeführerin den Anspruch auf Notstandshilfe gemäß § 38 in Verbindung mit § 10 des Arbeitslosenversicherungsgesetzes 1977, BGBl. Nr. 609/1977 in geltender Fassung, für den Zeitraum vom 18. Februar 1997 bis zum 31. März 1997 verloren habe. Der angeführte Zeitraum verlängere sich um die in ihm liegenden Zeiträume, während derer Krankengeld bezogen worden sei. Abgesehen von Hinweisen auf den Inhalt der §§ 10 und 38 AlVG enthält dieser Bescheid die Begründung, dass die Beschwerdeführerin die Teilnahme an einer Maßnahme zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt verweigert habe. Nachsichtsgründe lägen nicht vor.

Die Beschwerdeführerin erhob Berufung, worin sie ausführte, nicht in der Lage gewesen zu sein, an dem vorgeschlagenen Kurs teilzunehmen. Die Schule ihres Sohnes sei 6 km entfernt und es gehe kein Bus. Ihr sei es - aus näher dargestellten Gründen - nicht gelungen, eine Betreuung für ihren volksschulpflichtigen Sohn zu bekommen. Aus einem im Berufungsakt befindlichen Ausdruck eines elektronischen Aktenvermerks vom 9. Mai 1997 über die Erreichbarkeit des der Beschwerdeführerin vorgeschlagenen Kursortes geht hervor, dass die Kurszeiten von Montag bis Donnerstag von 9 bis 16 Uhr und Freitag von 9 bis 14 Uhr dauerten. Ein Bus fahre von Schwarzau um 6 Uhr 10 ab und treffe nach zweieinhalb Stunden in Neunkirchen ein. Eine Rückfahrmöglichkeit bestehe am Abend ab 18 Uhr 10 (wiederum mit einer Fahrzeit von zweieinhalb Stunden).

Mit dem angefochtenen Bescheid hat die belangte Behörde die Berufung der Beschwerdeführerin abgewiesen und den erstinstanzlichen Bescheid bestätigt. Begründend führte sie aus, die Beschwerdeführerin sei zuletzt im Jahr 1990 beschäftigt gewesen und beziehe seither Leistungen der Arbeitslosenversicherung. Sie wohne in Schwarzau/Gebirge und habe drei Kinder, welche 1977, 1979 und 1990 geboren seien. Am 15. Jänner 1997 sei der Beschwerdeführerin infolge ihrer langen Arbeitslosigkeit eine Wiedereingliederungsmaßnahme für Frauen in der Frauenberatungsstelle Frauenkirchen (richtig: Neunkirchen) angeboten worden. Trotz der ungünstigen öffentliche Verkehrsverbindungen von Schwarzau/Gebirge nach Neunkirchen erscheine es unverständlich, weshalb die Beschwerdeführerin nach langer Arbeitslosigkeit eine Chance zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt nicht wahrnehmen wolle, zumal sich dieser Kurs unter anderem mit den Möglichkeiten der Vereinbarkeit von Beruf und Familie beschäftige. Da die Leistungen der Arbeitslosenversicherung dem Zweck der Überbrückung der Arbeitslosigkeit dienten, könne dem "familienpolitischen Anliegen" der Beschwerdeführerin (ihr Kind zu betreuen) auf dem Boden der geltenden Rechtslage nicht mit den Mitteln der Arbeitslosenversicherung begegnet werden, weshalb die Ausschlussfrist gemäß § 10 AlVG zu Recht verhängt worden sei. Berücksichtigungswürdige Gründe für eine Nachsicht im Sinne des § 10 Abs. 2 AlVG hätten nicht gefunden werden können.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend machende Beschwerde.

Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Gemäß § 9 Abs. 1 AlVG ist arbeitswillig, wer (unter anderem) bereit ist, an einer Maßnahme zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt teilzunehmen.

Nach § 10 Abs. 1 AIVG verliert ein Arbeitsloser, der ohne wichtigen Grund die Teilnahme an einer Maßnahme zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt verweigert oder den Erfolg der Maßnahme vereitelt, für die Dauer der Weigerung, jedenfalls aber für die Dauer der auf die Weigerung folgenden sechs (unter näher umschriebenen Voraussetzungen: acht) Wochen den Anspruch auf Arbeitslosengeld.

Diese Bestimmungen sind gemäß § 38 AIVG auf die Notstandshilfe sinngemäß anzuwenden.

§ 9 Abs. 2 und 3 AlVG in der hier zeitraumbezogen anzuwendenden Fassung BGBl. Nr. 314/1994 lauten:

"(2) Zumutbar ist eine Beschäftigung, die den körperlichen Fähigkeiten des Arbeitslosen angemessen ist, seine Gesundheit und Sittlichkeit nicht gefährdet, angemessen entlohnt ist und dem Arbeitslosen eine künftige Verwendung in seinem Beruf nicht wesentlich erschwert. Die letzte Voraussetzung bleibt bei der Beurteilung, ob die Beschäftigung zumutbar ist, außer Betracht, wenn der Anspruch auf den Bezug des Arbeitslosengeldes erschöpft ist und keine Aussicht besteht, daß der Arbeitslose in absehbarer Zeit in seinem Beruf eine Beschäftigung findet.

(3) Eine Beschäftigung außerhalb des Wohn- oder Aufenthaltsortes des Arbeitslosen ist zumutbar, wenn hiedurch die Versorgung seiner Familienangehörigen, zu deren Unterhalt er verpflichtet ist, nicht gefährdet wird und am Orte der Beschäftigung, wenn eine tägliche Rückkehr an den Wohnort nicht möglich ist, entsprechende Unterkunftsmöglichkeiten bestehen."

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind für die Beurteilung der Zumutbarkeit einer Beschäftigung innerhalb des Wohnortes oder Aufenthaltsortes des Arbeitslosen ausschließlich die Kriterien des § 9 Abs. 2 AlVG maßgebend (vgl. das hg. Erkenntnis vom 24. November 2000, Zl. 2000/19/0062). Hingegen kommt es bei der Prüfung der Zumutbarkeit einer Beschäftigung außerhalb des Wohnortes oder Aufenthaltsortes des Arbeitslosen nach § 9 Abs. 3 AlVG unter anderem auch darauf an, dass "hiedurch" (also durch die Beschäftigung außerhalb des Wohnortes oder Aufenthaltsortes und nicht im Wohnort oder Aufenthaltsort) die Versorgung seiner Familienangehörigen, zu deren Unterhalt er verpflichtet ist, nicht gefährdet wird. Voraussetzung hiefür ist demnach, dass deshalb, weil der Arbeitlose wegen dieser Beschäftigung nicht täglich an seinen Wohnort oder Aufenthaltsort zurückkehren kann oder weil ihm zwar eine solche Rückkehr möglich ist, er aber wegen der längeren Anfahrt(Anmarsch)zeiten - im Verhältnis zu einer Beschäftigung im Wohnort oder Aufenthaltsort - in der Versorgung der genannten Familienangehörigen beeinträchtigt ist, die Versorgung dieser Angehörigen gefährdet wird (vgl. das hg. Erkenntnis vom 5. September 1995, Zl. 94/08/0252).

Ein wichtiger Grund, die Teilnahme an einer Maßnahme zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt i.S. des § 10 Abs. 1 AlVG zu verweigern, kann insbesondere darin liegen, dass diese Teilnahme nach den in § 9 AlVG für die Aufnahme einer Beschäftigung normierten, wegen der gleichgelagerten Wertungsgesichtspunkte auch für die Teilnahme an der Maßnahme heranzuziehenden Kriterien unzumutbar ist. Eine solche Unzumutbarkeit i.S. des § 9 Abs. 3 AlVG liegt hier vor. Die "NH 93- Betreuungsmaßnahme für Frauen" sollte in Neunkirchen außerhalb des Wohnortes der Beschwerdeführerin statt finden. Nach ihrem nicht in Zweifel gezogenen Vorbringen konnte die Beschwerdeführerin keine Betreuung für ihren volksschulpflichtigen Sohn bekommen. Bedingt durch die äußerst ungünstigen Verkehrsverbindungen (tägliche Fahrzeit insgesamt fünf Stunden und tägliche Abwesenheit vom Wohnort von 6 Uhr früh bis 20 Uhr 30 abends) könnte ihr Sohn nicht mehr zur Schule gebracht werden und wäre ganztägig unbetreut. Dies stellte für die Beschwerdeführerin somit einen wichtigen Weigerungsgrund i.S. des § 10 Abs. 1 AlVG dar.

Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. II Nr. 501/2001. Gebühren waren von der Beschwerdeführerin im verwaltungsgerichtlichen Verfahren im Hinblick auf die bewilligte Verfahrenshilfe nicht zu entrichten.

Wien, am 19. März 2003

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