Spruch:
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Begründung
Der zu einem nicht feststellbaren Zeitpunkt über den Flughafen Schwechat angereiste Mitbeteiligte wurde von der Bundespolizeidirektion Schwechat, Grenzkontrollstelle, am 5. Oktober 1999 einer niederschriftlichen Einvernahme unterzogen, bei der er unter Vorlage einer entsprechenden Identitätskarte behauptete, den Namen John T. zu tragen und Staatsangehöriger von Sierra Leone zu sein. Er sei über einen Monat lang eingesperrt gewesen, weil man auf Grund der Namensgleichheit geglaubt habe, er sei der Sohn des Staatspräsidenten namens T. Die Rebellen, die gegen den Präsidenten seien, hätten ihn gefangen, um ihn zu einem Kämpfer auszubilden. Aus diesem Grund habe er seine Heimat verlassen.
Bei der Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 12. Oktober 1999 bekräftigte der Mitbeteiligte diese Angaben, wobei er über Vorhalt zwar einräumte, dass T. nur der zweite Vorname und nicht der Nachname des Präsidenten von Sierra Leone sei, aber auf der Echtheit der Identitätskarte beharrte. Bei der näheren Befragung zu seinen Fluchtgründen kam er auf seine zunächst behauptete Gefangennahme durch Rebellen nicht mehr zurück. Er gab im Wesentlichen wirtschaftliche Probleme und allgemeine Sicherheitsbedenken als Gründe dafür an, warum er nicht nach Sierra Leone zurückkehren könne.
Das Bundesasylamt wies mit Bescheid vom 27. Oktober 1999 - nach Einholung der Zustimmung des UNHCR - den Asylantrag des Mitbeteiligten gemäß § 6 Z 3 AsylG als offensichtlich unbegründet ab und stellte gemäß § 8 AsylG fest, die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Mitbeteiligten nach Sierra Leone sei zulässig. Zu dieser Entscheidung gelangte das Bundesasylamt im Wesentlichen deshalb, weil der Mitbeteiligte keine einzige seine angebliche Heimatstadt Freetown betreffende Frage richtig beantwortet habe, die von ihm vorgelegte Identitätskarte eine primitive Fälschung sei, die Behauptung über die Verfolgung auf Grund der teilweisen Namensgleichheit nicht den Tatsachen entsprechen könne, und der Mitbeteiligte darüber hinaus keine asylrelevanten Tatsachen behauptet habe.
In seiner Berufung gegen diese Entscheidung führte der Mitbeteiligte - vertreten durch eine Mitarbeiterin der Caritas - aus, er heiße Tosan I. und sei Staatsangehöriger von Nigeria. Seine bisherigen falschen Angaben seien darauf zurückzuführen, dass ihm sein Schlepper in Lagos, dem er Loyalität versprochen habe, "um nicht noch einen Feind mehr zu haben", befohlen habe, "jene Geschichte zu erzählen", widrigenfalls er dann, wenn er zurückgeschickt werden würde, wegen des "Verrats" mit Konsequenzen zu rechnen hätte. In Wahrheit sei der Mitbeteiligte als Angehöriger der Itsekiri in deren Auseinandersetzungen mit den Ijaws und den Urhobo verstrickt gewesen, obwohl er sich an diesen Auseinandersetzungen nicht habe beteiligen wollen. Die Itsekiri hätten versucht, ihn zum Kampf zu zwingen, und ihn unter dem Vorwurf mangelnder Loyalität gegenüber der eigenen Volksgruppe festgehalten. Die Polizei sei nicht in der Lage, den gewalttätigen Auseinandersetzungen Einhalt zu gebieten und verhafte ihrerseits ohne Rücksicht auf den Einzelfall Personen auf Grund ihrer Zugehörigkeit zu einer der beteiligten Volksgruppen. Zur "Freilassung" des Mitbeteiligten durch dessen eigene Volksgruppe sei es aus Anlass eines Kampfes im Mai 1999 gekommen, damit der Mitbeteiligte sich an der Verteidigung des Gebietes beteiligen könne. Die Situation sei völlig eskaliert, wobei das Haus der Familie des Mitbeteiligten völlig niedergebrannt und Mitglieder seiner Familie getötet worden seien. Danach sei die Situation für den Mitbeteiligten unerträglich geworden. Die Nahrungsmittelversorgung habe sich rapid verschlechtert und es sei täglich zur Verschleppung und Tötung von Einzelpersonen der verschiedensten in diesen Konflikt involvierten Gruppierungen gekommen. Der Mitbeteiligte sei von allen Seiten gefährdet gewesen, weil seine eigene Volksgruppe seine Weigerung, zu kämpfen, als Verrat gedeutet habe und er für Urhobo und Ijaws schon auf Grund seiner Volksgruppenzugehörigkeit ein Feindbild darstelle. Auch gegen allfällige Polizeieinsätze hätte er sich nicht wehren können.
Mit dem angefochtenen Bescheid gab die belangte Behörde der Berufung des Mitbeteiligten ohne Durchführung einer Berufungsverhandlung statt, behob den erstinstanzlichen Bescheid und verwies die Angelegenheit zur neuerlichen Durchführung des Verfahrens und Erlassung eines Bescheides an die Behörde erster Instanz zurück. Die belangte Behörde begründete dies im Wesentlichen damit, dass die Qualifikation des erstinstanzlichen Vorbringens durch das Bundesasylamt sich zwar als richtig erwiesen habe und der Behörde erster Instanz keine Fehler anzulasten seien, der Asylantrag aber auf Grund des völligen Austausches des Vorbringens und der Identität des Mitbeteiligten (wodurch, wie es in der Gegenschrift heißt, die Erwägungen des Bundesasylamtes "ins Leere" gegangen seien), "zum Zeitpunkt der Berufungsvorlage ... nicht mehr offensichtlich unbegründet" erscheine. Aus dem neuen Vorbringen ergebe sich die Notwendigkeit von Sachverhaltsermittlungen. Für die belangte Behörde bedeute dies das Erfordernis einer mündlichen Berufungsverhandlung, aus der sich die Notwendigkeit weiterer Ermittlungsschritte ergeben könnte. Müssten jedoch erst Ermittlungsergebnisse eingeholt werden, um die Flüchtlingseigenschaft beurteilen zu können, so liege keine offensichtliche Unbegründetheit mehr vor. Die belangte Behörde könne in einem Verfahren gemäß § 6 AsylG auch nicht verpflichtet sein, den auf Grund der Änderung des Vorbringens maßgeblichen Sachverhalt "zur Gänze erstmals in der zweiten Instanz zu ermitteln, um erst danach das (Nicht-)Vorliegen der offensichtlichen Unbegründetheit zu beurteilen".
Dagegen richtet sich die vorliegende Amtsbeschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:
In der Amtsbeschwerde wird geltend gemacht, die belangte Behörde habe ihren Bescheid durch die Abstandnahme von einer Berufungsverhandlung mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet. Auch in einem "Verfahren gemäß § 6 AsylG" sei "in beiden Instanzen ein vollständiges Ermittlungsverfahren zur Klärung der Frage der offensichtlichen Unbegründetheit" durchzuführen. Der Verwaltungsgerichtshof habe im Erkenntnis vom 21. Oktober 1999, Zl. 98/20/0196, die Meinung vertreten, dass die belangte Behörde dann, wenn das Vorbringen in der Berufung einer Erörterung mit dem Asylwerber bedürfe, zu diesem Zweck auch im abgekürzten Berufungsverfahren gemäß § 32 in Verbindung mit § 6 AsylG eine mündliche Verhandlung durchzuführen habe und das Erfordernis einer derartigen Erörterung nicht schon zum Anlass dafür nehmen dürfe, der Berufung stattzugeben.
Die belangte Behörde hält dem in der Gegenschrift entgegen, die "verfahrensrechtlichen Notwendigkeiten" gingen im vorliegenden Fall über eine bloße Erörterung letztendlich vielleicht nur einen für die Entscheidung nicht relevanten Nebenaspekt betreffender Neuerungen in der Berufung "bei Weitem hinaus" und im abgekürzten Berufungsverfahren erscheine es nur als sinnvoll, über Neuerungen zu verhandeln, die mit den erstinstanzlichen Angaben des Asylwerbers "wenigstens im weitesten Sinn in einem inhaltlichen Zusammenhang" stünden. Im vorliegenden Fall wären nach den Ausführungen in der Gegenschrift "auch Länderdokumentationen und eventuelle sonstige Beweismittel heranzuziehen" gewesen. In einem Verfahren, das nur die Offensichtlichkeit der Unbegründetheit des Asylantrages zum Gegenstand habe, könne es nicht Aufgabe der Berufungsbehörde sein, "einen Sachverhalt zur Gänze erstmals und völlig neu zu erheben". Dies "umso mehr, wenn sich - wie im gegenständlichen Falle - aus dem Berufungsvorbringen keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass der Asylantrag auch hinsichtlich des geänderten Vorbringens offensichtlich unbegründet sein könnte". Letztlich sei daher das Bundesasylamt mit dem Risiko belastet, "dass die vormals bestehende Offensichtlichkeit im Sinne des § 6 AsylG allein durch ein plausibles und glaubwürdiges Berufungsvorbringen wegfallen" könne.
Zu diesen Ausführungen ist zunächst auf das hg. Erkenntnis vom 26. April 2001, Zl. 2001/20/0161, zu verweisen. Der Verwaltungsgerichtshof hat in diesem Erkenntnis unter Bezugnahme auf Vorjudikatur näher dargelegt, dass es im Verfahren über die Berufung gegen einen auf § 6 AsylG gestützten Bescheid auch Aufgabe der belangten Behörde sei, in der Berufung erstmals vorgebrachte Fluchtgründe unter den Gesichtspunkten des § 6 AsylG inhaltlich zu prüfen. Die im vorliegenden Fall von der belangten Behörde vertretene Ansicht, dies gelte nur für Neuerungen, die mit dem erstinstanzlichen Vorbringen kombinierbar seien, hat keine Grundlage im Gesetz. Die belangte Behörde hätte daher eine mündliche Verhandlung anberaumen und sich durch Einvernahme des Mitbeteiligten zu seinem neuen Vorbringen vor allem ein Bild davon machen müssen, ob es nicht im Sinne des § 6 Z 3 AsylG offensichtlich tatsachenwidrig sei. Der Zweck des § 6 AsylG, Missbräuchen entgegenzuwirken, hätte dies im vorliegenden Fall (anders als in dem mit dem Erkenntnis vom heutigen Tag, Zl. 2000/20/0015, entschiedenen Fall) erfordert, wenngleich einzuräumen ist, dass eine erschöpfende Klärung des asylrelevanten Sachverhaltes im abgekürzten Berufungsverfahren nach § 32 in Verbindung mit § 6 AsylG nicht Aufgabe der belangten Behörde ist und sie zu weiterführenden Ermittlungen daher nicht verpflichtet gewesen wäre.
Der angefochtene Bescheid war aus den dargestellten Gründen gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Wien, am 26. Juli 2001
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