VwGH 95/21/1162

VwGH95/21/11629.9.1999

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zeizinger und die Hofräte Dr. Rosenmayr und Dr. Enzenhofer als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Ferchenbauer, über die Beschwerde des (am 15. April 1960 geborenen) M in Ebreichsdorf, vertreten durch Dr. Josef Lachmann, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Museumstraße 3, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien vom 10. August 1995, Zl. UVS-03/P/43/02934/95, betreffend Bestrafung wegen Übertretung des Fremdengesetzes, zu Recht erkannt:

Normen

FrG 1993 §82 Abs1 Z1;
FrG 1993 §82 Abs1 Z4;
FrG 1993 §82 Abs2;
FrG 1993 §82 Abs1 Z1;
FrG 1993 §82 Abs1 Z4;
FrG 1993 §82 Abs2;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit der belangten Behörde aufgehoben.

Die Bundeshauptstadt Wien hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 12.500,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Mit Straferkenntnis der Bundespolizeidirektion Wien vom 29. Mai 1995 wurde der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsbürger, gemäß § 82 Abs. 1 des Fremdengesetzes - FrG, BGBl. Nr. 838/1992, wegen Übertretung des § 15 Abs. 1 iVm § 82 Abs. 1 Z. 4 FrG mit einer Geldstrafe von S 1.700,--, im Nichteinbringungsfall einer Ersatzfreiheitsstrafe von drei Tagen bestraft, weil er sich im Zeitraum vom 15. April 1994 bis zum 28. Oktober 1994 in 1230 Wien, Krätzergasse 3/3/30+31, als Fremder, ohne im Besitz eines gültigen Sichtvermerkes, einer Aufenthaltsbewilligung nach dem Asylgesetz oder einer gültigen Bewilligung gemäß § 1 des Aufenthaltsgesetzes zu sein, somit nicht rechtmäßig, im Bundesgebiet aufgehalten habe. Weiters wurden dem Beschwerdeführer Kosten des Verwaltungsstrafverfahrens in der Höhe von S 170,-- auferlegt. Gegen den genannten Bescheid erhob der Beschwerdeführer Berufung, in welcher er im Wesentlichen ausführte, es drohten ihm in seinem Heimatstaat Gefahren im Sinne des § 37 Abs. 1 und 2 FrG und es sei ihm auch nicht möglich, Österreich legal zu verlassen.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien (der belangten Behörde) vom 10. August 1995 wurde der Berufung des Beschwerdeführers gemäß § 66 Abs. 4 mit der Maßgabe, "dass der Tatzeitraum mit 'vom 15.4.1994 bis 29.5.1995' festgelegt wird", keine Folge gegeben und das angefochtene Straferkenntnis bestätigt. Weiters wurde der Beschwerdeführer auch zur Bezahlung von Kosten des Berufungsverfahrens in der Höhe von S 340,-- verpflichtet.

Diese Entscheidung wurde im Wesentlichen damit begründet, dass für die Strafbarkeit des dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Verhaltens im Grunde des § 5 Abs. 1 VStG fahrlässiges Verhalten genüge. Der Beschwerdeführer habe nicht einmal versucht, sich von der türkischen Botschaft einen Reisepass ausstellen zu lassen. Die Gefahr einer Verfolgung in einer in Österreich etablierten ausländischen Vertretungsbehörde - wie sie der Beschwerdeführer zu erkennen vermeine -, könne nicht gesehen werden. Der Beschwerdeführer könne sich nicht auf Notstand im Sinn des § 6 VStG berufen. Die von ihm aufgrund von Zeitungsartikeln behauptete notstandsähnliche Situation in seinem Heimatland könne aufgrund dieser Artikel nicht erkannt werden. So habe auch der Bundesminister für Inneres in einem im Instanzenzug ergangenen Bescheid im Zuge eines Asylverfahrens das Vorliegen einer konkreten Gefahr für das Leben des Beschwerdeführers verneint. Die gegen diesen Bescheid eingebrachte Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof sei noch nicht erledigt, dem gleichzeitig dazu eingebrachten Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung sei vom Verwaltungsgerichtshof jedoch keine Folge gegeben worden. Das Ausmaß des Verschuldens des Beschwerdeführers könne nicht als gering gewertet werden.

Die Korrektur des Spruches des Straferkenntnisses der Behörde erster Instanz hinsichtlich des Tatzeitraumes sei deswegen nötig gewesen, weil es sich bei der gegenständlichen Übertretung um ein Dauerdelikt handle. Ein solches werde nicht etwa in jedem Augenblick neu begangen. Tatbestandsgemäße Einzelhandlungen bis zur Erlassung des Straferkenntnisses der Behörde erster Instanz am 29. Mai 1995 seien nur als eine Verwaltungsübertretung anzusehen und dementsprechend auch nur mit einer Strafe zu bedenken, solange der Täter nicht nach außen hin erkennbar seine deliktische Tätigkeit aufgegeben habe.

In der gegen diesen Bescheid gerichteten Beschwerde wird die Aufhebung des angefochtenen Bescheides wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit sowie Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften beantragt.

Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor, erstattete eine Gegenschrift und beantragte die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Die von der belangten Behörde in der Gegenschrift behauptete Verspätung der Beschwerde liegt deswegen nicht vor, weil der Bescheid des Ausschusses der Rechtsanwaltskammer Wien vom 5. Oktober 1995, mit dem der Vertreter des Beschwerdeführers als Verfahrenshelfer bestellt wurde, diesem nach der Aktenlage am 13. Oktober 1995 zugestellt worden und die Beschwerde am 24. November 1995, somit innerhalb der Frist gemäß § 26 Abs. 1 iVm Abs. 3 VwGG zur Post gegeben worden ist.

Gemäß § 82 Abs. 1 Z. 4 FrG begeht eine Verwaltungsübertretung, wer sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält (§ 15). Gemäß der letztgenannten Bestimmung halten sich Fremde rechtmäßig im Bundesgebiet auf, wenn sie unter Einhaltung der Bestimmungen des zweiten Teiles und ohne die Grenzkontrolle zu umgehen eingereist sind (Z. 1), oder wenn ihnen eine Bewilligung gemäß § 1 des Aufenthaltsgesetzes oder von einer Sicherheitsbehörde ein Sichtvermerk erteilt wurde (Z. 2), oder solange ihnen Aufenthaltsberechtigung nach dem Asylgesetz 1991 zukommt (Z. 3).

Gemäß dem - nach § 24 VStG auch im Verwaltungsstrafverfahren geltenden - § 66 Abs. 4 AVG hat die Berufungsbehörde, sofern die Berufung nicht als unzulässig oder verspätet zurückzuweisen ist, immer in der Sache selbst zu entscheiden. Die Befugnis der Berufungsbehörde, in der Sache selbst zu entscheiden, erstreckt sich jedoch nur auf den Gegenstand des Verfahrens in der Vorinstanz, soweit der darüber ergangene Bescheid mit Berufung angefochten wurde (vgl. etwa die hg. Erkenntnisse vom 27. Juni 1980, Slg. Nr. 10.186/A, und vom 25. November 1980, Slg. Nr. 10.305/A, sowie die bei Hauer/Leukauf, Handbuch des österreichischen Verwaltungsverfahrens5 (1996), 568 ff, wiedergegebene hg. Rechtsprechung). Dies hat die belangte Behörde verkannt, indem sie über den Beschwerdeführer eine Strafe wegen rechtswidrigen Aufenthaltes auch in einem Zeitraum verhängte, der nicht Gegenstand des Bescheides der Behörde erster Instanz gewesen ist. Sie hat damit den Rahmen ihrer funktionellen Zuständigkeit als Berufungsbehörde überschritten und den angefochtenen Bescheid mit Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit der belangten Behörde belastet (vgl. das hg. Erkenntnis vom 10. Juni 1999, Zl. 96/21/0308). Er war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 2 VwGG aufzuheben.

Im Übrigen sieht sich der Gerichtshof noch zu folgendem Hinweis veranlasst:

Gemäß § 82 Abs. 2 FrG liegt eine Verwaltungsübertretung gemäß Abs. 1 Z. 1 leg. cit. nicht vor, wenn die Ausreise nur in ein Land möglich wäre, in das eine Abschiebung unzulässig (§§ 37 und 54 Abs. 4) ist, oder wenn dem Fremden ein Abschiebungsaufschub erteilt worden ist. Dieser gesetzliche Rechtfertigungsgrund gilt auch hinsichtlich des Tatbestandes des § 82 Abs. 1 Z. 4 FrG (vgl. das hg. Erkenntnis vom 29. Jänner 1997, Zl. 95/21/0318). Im Hinblick darauf hätte die belangte Behörde bei der nach § 82 Abs. 2 FrG gebotenen Beurteilung einer Gefahr gemäß § 37 Abs. 1 und 2 FrG nicht bloß auf den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 10. August 1994 (mit dem der Asylantrag des Beschwerdeführers insbesondere wegen Verfolgungssicherheit in der Schweiz abgewiesen worden war) verweisen dürfen, sondern hätte sich konkret mit den vom Beschwerdeführer behaupteten Gefahren gemäß § 37 Abs. 1 und 2 FrG auseinander setzen müssen. Immerhin hat der Beschwerdeführer im Verwaltungsstrafverfahren (insbesondere in seinem Einspruch vom 25. November 1994) ausführlich und konkret auf sein politisches Eintreten für die Rechte der Kurden hingewiesen und ausgeführt, dass er seit dem 10. November 1989 Obmann eines diesen Zielen gewidmeten Vereines und als solcher auch in der Öffentlichkeit in Erscheinung getreten sei, weshalb er in die Türkei infolge einer Gefahr im Sinne des § 37 Abs. 1 und 2 FrG nicht zurückkehren könne; auch die Ausreise in einen anderen Staat sei ihm nicht möglich. Der Beschwerdeführer hatte auch konkrete Einzelfälle der Bestrafung und Ermordung von Journalisten und Politikern, die in der Türkei für die Rechte der Kurden eintreten, angeführt. Von der belangten Behörde wäre angesichts dieses Vorbringens in Betracht zu ziehen gewesen, dass bei der Beurteilung des Vorliegens einer Gefahr gemäß § 37 Abs. 1 und 2 FrG die konkrete Einzelsituation in ihrer Gesamtheit, gegebenenfalls vor dem Hintergrund der allgemeinen Verhältnisse in Form einer Prognose für den gedachten Fall der Abschiebung des Betroffenen in diesen Staat zu beurteilen und dafür nicht unmaßgeblich ist, ob allenfalls gehäufte Verstöße der in § 37 Abs. 1 FrG umschriebenen Art durch den genannten Staat bekannt geworden sind (vgl. das hg. Erkenntnis vom 27. Februar 1998, Zl. 95/21/0399, mwN).

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung des Bundeskanzlers BGBl. Nr. 416/1994. Das Mehrbegehren war im Hinblick darauf abzuweisen, dass die geltend gemachten Portospesen vom pauschalierten Schriftsatzaufwand im Sinn des § 59 Abs. 2 Z. 1 VwGG umfasst sind.

Wien, am 9. September 1999

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte