Normen
FrG 1993 §36 Abs2;
MRK Art13;
MRK Art3;
VwGG §30 Abs2;
FrG 1993 §36 Abs2;
MRK Art13;
MRK Art3;
VwGG §30 Abs2;
Spruch:
Gemäß § 30 Abs. 2 VwGG wird dem Antrag mit der Wirkung stattgegeben, daß die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Algerien bis zur Beendigung des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens, höchstens aber bis zum 9. September 1998, unzulässig ist.
Begründung
Mit Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien vom 30. Oktober 1997 wurde der am 10. September 1997 gestellte Antrag des Beschwerdeführers, eines algerischen Staatsbürgers, auf Erlassung eines Abschiebungsaufschubes gemäß § 36 Abs. 2 des Fremdengesetzes (FrG) abgewiesen. Zugleich mit der dagegen an den Verwaltungsgerichtshof gerichteten Beschwerde stellt der Beschwerdeführer den Antrag, dieser die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen. Dieser Antrag wird damit begründet, daß der Asylantrag des Beschwerdeführers in erster Instanz in einem Zeitpunkt abgewiesen worden sei, als er sich in Schubhaft befunden habe. Seine nach der Entlassung aus der Schubhaft erstattete Berufung sei als verspätet zurückgewiesen worden; sein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Erstattung der Berufung im wesentlichen mit dem Hinweis auf die jedem Schubhäftling in der Gefängnisordnung gewährten Rechte abgewiesen worden. Im Falle der Nichtstattgebung des Antrages auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung wären Leben, Sicherheit und Freiheit des Beschwerdeführers in seinem Heimatland Algerien ernsthaft bedroht, öffentliche Interessen, welche gegen eine Erteilung der aufschiebenden Wirkung sprechen könnten, seien nicht gegeben.
Gemäß § 36 Abs. 2 FrG ist die Abschiebung eines Fremden auf Antrag oder von Amts wegen auf bestimmte, jeweils ein Jahr nicht übersteigende Zeit aufzuschieben, wenn sie gemäß § 37 FrG unzulässig ist oder aus tatsächlichen Gründen unmöglich scheint. Einer Beschwerde ist gemäß § 30 Abs. 2 VwGG die aufschiebende Wirkung mit Beschluß zuzuerkennen, insoweit dem nicht zwingende öffentliche Interessen entgegenstehen und nach Abwägung aller berührten Interessen mit dem Vollzug oder mit der Ausübung der mit Bescheid eingeräumten Berechtigung durch einen Dritten für den Beschwerdeführer ein unverhältnismäßiger Nachteil verbunden wäre.
Vorliegend ist also die Frage zu beantworten, ob der Bescheid, gegen welchen sich die Beschwerde richtet, einem "Vollzug" im Sinne des § 30 Abs. 2 VwGG zugänglich ist. Zu dieser Frage hat der Verwaltungsgerichtshof in einem verstärkten Senat ausgesprochen, daß das Rechtsinstitut der aufschiebenden Wirkung als ein die Funktionsfähigkeit jenes Rechtsschutzsystems stützendes Element anzusehen ist, im Rahmen dessen der Verwaltungsgerichtshof zur Prüfung der Rechtmäßigkeit von Bescheiden berufen ist. Diese in der Bescheidprüfung durch den Verwaltungsgerichtshof gegebene Rechtsschutzfunktion dürfe durch einen Vollzug des angefochtenen Bescheides während der Dauer des Beschwerdeverfahrens nicht ausgehöhlt werden. Unter "Vollzug" im Sinne des § 30 Abs. 2 VwGG sei daher die Umsetzung des Bescheides in die Wirklichkeit zu verstehen und eine Rücksichtnahme auf jene Folgen notwendig, die den Beschwerdeführer bei einer Umsetzung des Bescheides in die Wirklichkeit treffen würden (hg. Beschluß eines verstärkten Senates vom 25. Februar 1981, Slg. Nr. 10.381/A). Diese am Rechtsschutzgedanken orientierte Auslegung des § 30 Abs. 2 VwGG findet ihre Bestätigung in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes, derzufolge Einschränkungen des Grundsatzes der faktischen Effizienz eines Rechtsbehelfes nur aus sachlich gebotenen, triftigen Gründen zulässig sind (vgl. etwa das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 1. Dezember 1995, Slg. Nr. 14.374, m.w.N.). Diese Aussage trifft auch für den Rechtsbehelf der aufschiebenden Wirkung gemäß § 30 Abs. 2 VwGG zu.
Sowohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als auch der Verfassungsgerichtshof gehen in ständiger Rechtsprechung davon aus, daß die Entscheidung betreffend die Außerlandesschaffung eines Fremden unter dem Blickwinkel des Art. 3 EMRK erheblich werden und eine Verantwortlichkeit des betreffenden Staates nach sich ziehen - und somit eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellen kann, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme sprechen, daß der Fremde konkret Gefahr liefe, in dem Land, in das er ausgewiesen werden soll, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen zu werden (Refoulement-Verbot; vgl. etwa das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 30. Oktober 1991 im Falle Vilvarajah u.a., ÖJZ 1992, 309 ff, sowie das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 16. Juni 1994, Slg. Nr. 13.776, jeweils mit weiteren Nachweisen). Unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 EMRK besteht für die Fremdenbehörden diesbezüglich eine besondere Sorgfaltspflicht. Das in Art. 13 EMRK gewährleistete Recht auf eine wirksame Beschwerde gegen die vertretbar behauptete Verletzung eines in der EMRK gewährleisteten Rechts ist auch auf den behaupteten Fall der Außerlandesschaffung eines Fremden und die damit verbundene Gefahr einer Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe anzuwenden. Von einer wirksamen Beschwerde kann nur dann gesprochen werden, wenn mit diesem Rechtsmittel auch eine aufschiebende Wirkung verbunden ist (vgl. das genannte Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte).
Im vorliegenden Fall hat die belangte Behörde durch die Erlassung des angefochtenen Bescheides nicht nur den Antrag des Beschwerdeführers auf Gewährung eines Abschiebungsaufschubes gemäß § 36 Abs. 2 FrG abgewiesen, sondern damit auch ihre Auffassung zum Ausdruck gebracht, daß die Voraussetzungen für die Erteilung des Abschiebungsaufschubes nicht gegeben sind, weil die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Algerien im Lichte des § 37 FrG zulässig sei. Würde der Verwaltungsgerichtshof den angefochtenen Bescheid mit der Begründung aufheben, daß die belangte Behörde die Frage des Vorliegens des Refoulement-Verbotes bezüglich Algerien unrichtig beurteilt habe, so wäre die belangte Behörde gemäß § 63 Abs. 1 VwGG verpflichtet, mit den ihr zu Gebote stehenden Mitteln unverzüglich den der Rechtsanschauung des Verwaltungsgerichtshofes entsprechenden Rechtszustand herzustellen, vorliegend also von einer Abschiebung des Beschwerdeführers nach Algerien Abstand zu nehmen. Den Bestimmungen der § 30 Abs. 2 und § 63 Abs. 1 VwGG kann im Lichte des Rechtsschutzprinzips nicht die Bedeutung unterstellt werden, die Behörde könnte durch die vorzeitige Abschiebung eines Fremden diese allenfalls durch die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes bewirkte Verpflichtung gemäß § 63 Abs. 1 VwGG unterlaufen.
Im vorliegenden Fall hat der Beschwerdeführer nicht unglaubwürdig behauptet, sich nach Erlassung des Bescheides betreffend seine Ausweisung in Schubhaft befunden zu haben, wodurch ihm die Möglichkeit zur Erhebung von Rechtsmitteln
- somit auch auf Verwirklichung seines Rechts auf Feststellung der Unzulässigkeit der Abschiebung nach Algerien gemäß § 54 FrG - faktisch nicht gegeben gewesen sei. Der vom Beschwerdeführer - soweit ersichtlich nicht offenkundig mißbräuchlich - gestellte Antrag gemäß § 36 Abs. 2 FrG erscheint für ihn daher das einzig verbleibende Mittel, das Refoulement-Verbot durchzusetzen, zumal er es auch im Rahmen einer Schubhaftbeschwerde nicht aufwerfen können dürfte, weil grundsätzlich die Möglichkeit einer Antragstellung gemäß § 54 FrG bestand (vgl. etwa das bereits genannte Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 16. Juni 1994, Slg. Nr. 13.776). Der angefochtene Bescheid ist daher einem "Vollzug" im Sinne des § 30 Abs. 2 VwGG zugänglich (vgl. zur Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung einer gegen die Versagung eines Abschiebungsaufschubes gerichteten Beschwerde durch den Verfassungsgerichtshof aufgrund des - mit § 30 Abs. 2 VwGG gleichlautenden - § 85 Abs. 2 VerfGG, den Beschluß des Verfassungsgerichtshofes vom 28. März 1995, B 474/95-3).
Im vorliegenden Fall ist - auch im Hinblick auf eine mögliche Änderung der Verhältnisse in Algerien - offensichtlich, daß die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Algerien bei Zutreffen der im verwaltungsgerichtlichen Verfahren noch zu prüfenden Beschwerdebehauptungen - für ihn bestehe in diesem Staat eine unmittelbare Gefährdung für Leib und Leben - einen unverhältnismäßigen Nachteil im Sinne des § 30 Abs. 2 VwGG bedeuten würde. Zwingende öffentliche Interessen im Sinne des § 30 Abs. 2 VwGG kommen nicht zum Tragen. Dem Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung war daher für jenen Zeitraum von einem Jahr beginnend mit der
- letztmaligen - Stellung des Antrages auf Erteilung eines Abschiebungsaufschubes stattzugeben, für den gemäß § 36 Abs. 2 FrG ein solcher höchstens erlassen werden darf (vgl. den Beschluß eines verstärkten Senates des Verwaltungsgerichtshofes vom 27. Juni 1997, Zl. 96/21/0377, hinsichtlich der Praxis des Verwaltungsgerichtshofes den Beginn dieser Frist mit der Stellung des Antrages anzunehmen).
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