VwGH 95/18/0379

VwGH95/18/037921.12.1998

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zeizinger und die Hofräte Dr. Rigler, Dr. Handstanger, Dr. Bayjones und Dr. Enzenhofer als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Hofbauer, über die Beschwerde des S Y (geboren am 21. Jänner 1967), vertreten durch Dr. Peter Pullez, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Bäckerstraße 1, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Burgenland vom 18. Oktober 1994, Zl. Fr-140/94, betreffend Abweisung eines Antrages auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Erhebung einer Berufung gegen eine Ausweisung, zu Recht erkannt:

Normen

AVG §71 Abs1 Z1;
FrG 1993 §17;
FrG 1993 §41;
AVG §71 Abs1 Z1;
FrG 1993 §17;
FrG 1993 §41;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 12.500,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

I.

1. Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Burgenland (der belangten Behörde) vom 18. Oktober 1994 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Erhebung einer Berufung gegen den Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Oberpullendorf vom 14. Februar 1994, mit dem gegen den Beschwerdeführer die Ausweisung verfügt worden war, gemäß § 71 Abs. 1 AVG abgewiesen.

In seiner Berufung habe der Beschwerdeführer ausgeführt, er wäre durch seine Anhaltung in Schubhaft gehindert gewesen, gegen den Ausweisungsbescheid ein Rechtsmittel zu ergreifen; zu diesem Zweck wäre dem Beschwerdeführer keinerlei rechtlich und sprachlich kompetente Beratung zur Verfügung gestanden. Dem Beschwerdeführer sei zwar die Wirkung des Ausweisungsbescheides auf seinen Aufenthalt in Österreich klar gewesen, um eine Berufung dagegen einzubringen, hätte er jedoch selbst rechtskundig sein müssen bzw. eines rechtskundigen Helfers bedurft, da in der Berufung die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides darzulegen wäre. Es wäre dem Beschwerdeführer nicht "besonders sinnig erschienen", die bescheiderlassende Behörde um eine Auskunft über allfällige Mängel des von ihr erlassenen Bescheides zu ersuchen. Folgte man der in der Berufung vertretenen Auffassung, würde dies die Zustellung von Bescheiden an in Schubhaft befindliche Fremde "ad absurdum führen". Wie dem Akteninhalt zweifelsfrei zu entnehmen sei, sei die Ausfolgung des Ausweisungsbescheides im Beisein eines Dolmetschers erfolgt. Obzwar nach der geltenden Rechtslage keine Verpflichtung der Behörde bestehe, einen Bescheid in die Sprache des Bescheidadressaten zu übersetzen, habe für den Beschwerdeführer somit die Möglichkeit bestanden, sich über den Inhalt dieses Bescheides zu informieren; der Beschwerdeführer jedoch habe sogar die Bestätigung der Bescheidübernahme durch Unterschrift verweigert. Entgegen der Meinung des Beschwerdeführers hätte es zur Erhebung einer Berufung auch nicht der Rechtskundigkeit des Beschwerdeführers bzw. eines rechtskundigen Helfers bedurft. Der in Rede stehende Ausweisungsbescheid sei auf die Bestimmung des § 17 Abs. 2 Z. 6 FrG gestützt worden; diese gesetzliche Bestimmung normiere aber lediglich zwei Tatbestandselemente, die Einreise unter Umgehung der Grenzkontrolle und das Betretenwerden binnen einem Monat. Die belangte Behörde vertrete somit die Ansicht, daß die Schubhaft nicht als unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis gewertet werden könne, durch welches der Beschwerdeführer verhindert gewesen sei, die Rechtsmittelfrist einzuhalten.

2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde mit dem Begehren, ihn wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, in eventu wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

3. Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie die Abweisung der Beschwerde beantragt.

II.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

1. Der Beschwerdeführer vertritt die Auffassung, die Schubhaft in Verbindung mit seiner mangelnden Kenntnis der deutschen Sprache habe für ihn ein unvorhergesehenes und unabwendbares Ereignis dargestellt, das ihn daran gehindert habe, fristgerecht Berufung gegen den Ausweisungsbescheid zu erheben.

Es sei für den als Asylwerber eingereisten Beschwerdeführer nicht vorhersehbar gewesen, daß nach seiner Einreise die Schubhaft verhängt und ihm dadurch jede weitere Möglichkeit auf effiziente Verfolgung seiner Interessen genommen würde. Als unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis im Sinn des § 71 Abs. 1 Z. 1 AVG komme aber grundsätzlich jegliches Geschehen, "somit also selbst innere psychologische Vorgänge" in Betracht. Dabei sei zu bedenken, daß dem Beschwerdeführer der Ausweisungsbescheid lediglich einmal in einer ihm verständlichen Weise, und zwar in der Situation der Schubhaft, die eine Streßsituation für den Beschwerdeführer dargestellt habe, zur Kenntnis gebracht worden sei. Die ihm dadurch verbliebene bloße Erinnerung, daß die Entscheidung negative Auswirkungen auf seinen Aufenthalt in Österreich haben würde, könne kein ausreichendes, einer Bekämpfung zugängliches Substrat darstellen; die Ausführung einer begründeten Berufung erfordere die Kenntnis der zu bekämpfenden Entscheidung zumindest in groben Zügen; dieses Wissen habe der Beschwerdeführer jedoch niemals erlangt.

Während der Berufungsfrist sei dem Beschwerdeführer in der Schubhaft jegliche tatsächliche Möglichkeit genommen gewesen, den Bescheid effektiv zu bekämpfen bzw. die Rechtsmittelfrist zu nutzen. Der Beschwerdeführer sei während der Schubhaft ernstlich bemüht gewesen, seine rechtlichen Interessen wahrzunehmen, es sei ihm aber unmöglich gewesen, für einen Beistand zu sorgen, weshalb ihm die Abfassung eines begründeten Berufungsantrages "grundsätzlich nicht möglich" gewesen sei, zumal ihm - wie schon erwähnt - Kenntnisse der deutschen Sprache fehlten. Der Beschwerdeführer habe in der Schubhaft versucht, sowohl von den Wachebeamten als den einzigen deutschsprachigen Kontaktpersonen eine genaue und somit einer punktuellen Bekämpfung zugängliche Übersetzung des Bescheides zu erhalten, als auch im Rahmen der selten möglichen und jeweils auf kurze Zeit beschränken Telefongelegenheiten zum Zweck der fristgerechten Bescheidbekämpfung mit dritten Personen Kontakt aufzunehmen; seine diesbezüglichen Versuche bei einer Bürostelle von amnesty international seien jedoch erfolglos geblieben, da es nicht einmal zu einem Besuch eines Flüchtlingsberaters gekommen sei. Auch sei für den Beschwerdeführer kein Adressenverzeichnis oder öffentliches Telefonbuch zugänglich gewesen, sodaß er auch von daher keine Möglichkeit zur Beiziehung eines Dolmetschers oder einer sonstigen geeigneten mehrsprachigen Person gehabt habe, und er somit die - seltenen - Möglichkeiten der Benutzung eines Telefons nicht zur Beauftragung eines Vertreters oder Helfers habe nutzen können; dies gelte insbesondere auch für die Möglichkeit der Beiziehung eines Anwaltes. Trotz intensiver Versuche, gegen den erlassenen Bescheid fristgerechte Maßnahmen zu ergreifen, sei dem Beschwerdeführer die Ausführung eines Rechtsmittels tatsächlich erst nach Ende seiner Schubhaft möglich gewesen.

Die mündliche Übersetzung des Ausweisungsbescheides bei seiner Zustellung in der Schubhaft alleine sei daher nicht geeignet, das Recht des Beschwerdeführers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu schmälern, wenn ihm im Anschluß an die Übersetzung des Bescheides jede tatsächliche Gelegenheit genommen gewesen sei, von dem ihm mitgeteilten Recht auf Berufung auch in gesetzlich vorgeschriebener Weise Gebrauch zu machen.

Die belangte Behörde habe über die tatsächlichen Umstände seiner Anhaltung in Schubhaft und deren Eignung als Wiedereinsetzungsgrund keinerlei Erhebungen durchgeführt, weshalb (auch) das von der belangten Behörde geführte Verfahren mangelhaft geblieben sei.

2.1. Gemäß § 71 Abs. 1 Z. 1 AVG ist einer Partei, die dadurch einen Rechtsnachteil erleidet, gegen die Versäumung einer Frist auf Antrag die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen, wenn die Partei glaubhaft macht, daß sie durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis verhindert war, die Frist einzuhalten und sie kein Verschulden oder nur ein minderer Grad des Versehens trifft.

2.2. Zunächst ist festzuhalten, daß der Umstand, daß sich der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Erlassung des in Rede stehenden Ausweisungsbescheides in (Schub-)Haft befand, für sich allein genommen kein unvorhersehbares oder unabwendbares, die Einhaltung der vorliegend maßgeblichen Berufungsfrist verhinderndes Ereignis im Sinn des § 71 Abs. 1 Z. 1 AVG darstellt.

Für die Beurteilung der Frage, ob der Beschwerdeführer durch die (für ihn behauptetermaßen unvorhersehbare) Schubhaft an der fristgerechten Erhebung einer Berufung gegen die besagte Ausweisung gehindert war, kommt es vielmehr darauf an, ob die näheren Umstände dieser Haft tatsächlich der Erhebung des Rechtsmittels entgegenstanden.

Der Beschwerdeführer hat diesbezüglich bereits in seiner Berufung gegen den Erstbescheid vorgebracht, daß während seiner Schubhaft im Polizeigefangenenhaus "Telefonnummern von Rechtsbeiständen" nicht aufgelegen seien und den Häftlingen kein Telefonbuch zugänglich gewesen sei; auch Anrufe im "Wiener a. i.-Büro" wären dort lediglich "protokolliert" worden, eine Rechtsberatung seitens amnesty international hätte aber erst stattgefunden, wenn ein ehrenamtlicher Betreuer einen "Schubhaftbesuch" - ein solcher sei im Fall des Beschwerdeführers nicht erfolgt - durchgeführt hätte; überhaupt seien Telefonanrufe für Schubhäftlinge nur sehr selten, und dann auf wenige Minuten begrenzt, möglich gewesen. Zu diesem Berufungsvorbringen stellte der Beschwerdeführer entsprechende Beweisanträge.

Diese Ausführungen hätten der Behörde Anlaß geben müssen, auf die vorgebrachten Haftumstände - unter Berücksichtigung der Beweisanträge - näher einzugehen, kann doch nicht ausgeschlossen werden, daß die belangte Behörde aufgrund der in dieser Hinsicht gewonnenen Ermittlungsergebnisse zu einem anderen, für den Beschwerdeführer günstigen, Ergebnis gekommen wäre.

3. Im Hinblick darauf war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b VwGG sowie - aufgrund der sich aus der mangelhaften Sachverhaltsfeststellung ergebenden unzureichenden Begründung - gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. c leg. cit. wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

4. Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich - im Rahmen des gestellten Begehrens - auf die §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.

Wien, am 21. Dezember 1998

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