VwGH 97/03/0029

VwGH97/03/002918.6.1997

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Dorner und die Hofräte Dr. Gruber und Dr. Gall als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Gruber, über die Beschwerde des A in E, vertreten durch Dr. H, Rechtsanwalts-Partnerschaft in R, gegen den Bescheid des unabhängigen Verwaltungssenates in Tirol vom 12. November 1996, Zl. 17/117-2/1996, betreffend Übertretungen der Straßenverkehrsordnung 1960

Normen

StVO 1960 §16 Abs2 litb;
StVO 1960 §16 Abs2 litb;

 

Spruch:

I) den Beschluß gefaßt:

Die Behandlung der Beschwerde wird hinsichtlich der Bestrafung des Beschwerdeführers wegen Übertretung gemäß § 16 Abs. 1 lit. c StVO 1960 abgelehnt.

II) zu Recht erkannt:

Der angefochtene Bescheid wird, soweit der Beschwerdeführer wegen einer Übertretung gemäß § 16 Abs. 2 lit. b StVO 1960 schuldig erkannt und hiefür bestraft wurde, einschließlich des darauf bezüglichen Kostenausspruches, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Das Land Tirol ist schuldig, dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 12.920,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Mit Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Reutte vom 23. Mai 1996 wurde der Beschwerdeführer schuldig erkannt, er habe am 25. Mai 1995 um 19.09 Uhr auf der B 314 im Gemeindegebiet von Reutte einen nach dem Kennzeichen bestimmten Pkw in Fahrtrichtung Heiterwang gelenkt, wobei er 1) bei km 47,85 ein Wohnwagengespann, welches mit einer Geschwindigkeit von 65 km/h gefahren sei, vor einer unübersichtlichen Straßenstelle überholt habe; 2) den Überholvorgang durchgeführt habe, obwohl er nicht einwandfrei habe erkennen können, daß er sein Fahrzeug nach dem Überholvorgang in den Verkehr einordnen könne, ohne andere Straßenbenützer zu gefährden oder zu behindern. Er habe hiedurch Verwaltungsübertretungen zu 1) gemäß § 16 Abs. 2 lit. b StVO 1960 und zu 2) gemäß § 16 Abs. 1 lit. c StVO 1960 begangen, weshalb über ihn Geldstrafen in der Höhe von je S 2.000,-- (und Ersatzfreiheitsstrafen) verhängt wurden.

Mit dem nun angefochtenen Bescheid der belangten Behörde vom 12. November 1996 wurde der vom Beschwerdeführer dagegen erhobenen Berufung keine Folge gegeben.

Dagegen richtet sich die vorliegende Beschwerde, in der der Beschwerdeführer den Antrag stellt, den angefochtenen Bescheid kostenpflichtig aufzuheben.

Die belangte Behörde legte die Verwaltungsstrafakten vor und beantragte in ihrer Gegenschrift die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Zur Übertretung gemäß § 16 Abs. 1 lit. c StVO 1960

(Spruchpunkt 2):

Gemäß § 33a VwGG kann der Verwaltungsgerichtshof die Behandlung einer Beschwerde gegen einen Bescheid eines unabhängigen Verwaltungssenates in einer Verwaltungsstrafsache durch Beschluß ablehnen, wenn weder eine primäre Freiheitsstrafe noch eine S 10.000,-- übersteigende Geldstrafe verhängt wurde und die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil der unabhängige Verwaltungssenat von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Die Voraussetzungen für eine Ablehnung der vorliegenden Beschwerde nach dieser Gesetzesstelle sind in Hinsicht auf den Spruchpunkt 2 des angefochtenen Bescheides erfüllt. Es wurde weder eine primäre Freiheitsstrafe noch eine S 10.000,-- übersteigende Geldstrafe verhängt. Die Fällung einer Sachentscheidung über die Beschwerde in diesem Umfang hängt von keiner Rechtsfrage ab, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Die Behandlung der Beschwerde war daher in diesem Umfang abzulehnen.

Zur Verwaltungsübertretung gemäß § 16 Abs. 2 lit. b StVO 1960 (Spruchpunkt 1):

Die belangte Behörde ging in der Begründung des angefochtenen Bescheides diesbezüglich davon aus, daß vor dem Fahrzeug des Beschwerdeführers ein "Wohnwagengespann" mit einer Geschwindigkeit von 65 km/h gefahren sei. Vor dem Wohnwagengespann sei ein Pkw einer näher bezeichneten Marke und Type gefahren. Das Wohnwagengespann habe zu diesem Fahrzeug einen Abstand von etwa 8 m eingehalten. Der Beschwerdeführer habe beabsichtigt, beide Fahrzeuge zu überholen. Beim Beginn des Überholmanövers habe die Überholsichtweite ca. 270 m betragen. Die belangte Behörde nahm hiebei die Straßenstelle, an der der Beschwerdeführer den Überholvorgang einleitete, auf Grund eines zu diesem Faktum eingeholten Sachverständigengutachtens als unübersichtlich an. Der Sachverständige hatte unter anderem folgendes ausgeführt:

"Der Überholvorgang wurde mittels Realbeschleunigung errechnet, wobei Getriebeübersetzungen und max. Motordrehzahl aus der Datenbank entnommen wurden. Als Schaltzeit wurde 1 Sekunde angenommen, der Start des Überholmanövers wurde im

2. Gang angenommen, weiters wurde vorausgesetzt, daß der Beschuldigte zum Zeitpunkt des Überholvorganges das Gaspedal voll durchgedrückt hat und den Schaltzeitpunkt erst bei erreichen der maximalen Motorleistung (5600 U/min.) gesetzt hat. Die vorhandene Straßensteigung wurde auf Grund fehlender Meßmöglichkeit nicht berücksichtigt. Für den Einscherbogen wurde eine Zeit von 2 Sekunden angenommen, dies entspricht einer sportlichen Fahrweise und kann ohne Schleudergefahr nur von geübten Fahrern eingehalten werden. Weiters wurde für den Einschervorgang auf den rechten Fahrstreifen eine leichte Verzögerung angenommen, dies verkürzt die Strecke des Einscherbogens. Für die Länge des Wohnwagengespannes wurden 10 m angenommen, dies entspricht der Länge eines durchschnittlichen Wohnwagengespannes (Fahrzeuglänge ca. 4,2 m, Anhängerlänge 5,8 m).

Ausgehend von einer Fahrgeschwindigkeit des zu Überholenden von 65 km/h und von der Prämisse, daß der Beschuldigte sein Fahrzeug beim Überholen voll beschleunigt hat, errechnet sich ein Überholweg von ca. 139 m. Der gesamte Überholvorgang dauerte ca. 6 Sekunden, in dieser Zeit legt ein eventuell entgegenkommendes Fahrzeug, das eine Geschwindigkeit von 100 km/h fahren könnte 167 m zurück. Daraus folgt, daß die Überholsichtweite mindestens 306 m betragen hätte müssen. Die tatsächliche Überholsichtweite betrug ca. 270 m."

Den darauf beruhenden Ausführungen der belangten Behörde, es habe sich um eine unübersichtliche Straßenstelle im Sinne des § 16 Abs. 2 lit. b StVO 1960 gehandelt, setzt der Beschwerdeführer insbesondere entgegen, daß es bei diesem Delikt nicht darauf ankomme, ob im Zeitpunkt des Überholvorganges Gegenverkehr herrschte oder nicht, sowie ob allenfalls durch einen im Zuge des Überholmanövers - mit einer hypothetischen Geschwindigkeit - auftretenden Gegenverkehr andere Straßenbenützer gefährdet oder behindert werden könnten. Damit ist der Beschwerdeführer im Recht.

Gemäß § 16 Abs. 2 lit. b StVO 1960 darf der Lenker eines Fahrzeuges bei ungenügender Sicht und auf unübersichtlichen Straßenstellen, z.B. vor und in unübersichtlichen Kurven und vor Fahrbahnkuppen nicht überholen; es darf jedoch überholt werden, wenn die Fahrbahn durch eine Sperrlinie (§ 55 Abs. 2) geteilt ist und diese Linie vom überholenden Fahrzeug nicht überragt wird.

Es trifft zu, wie die belangte Behörde zunächst richtig erkannt hat, daß die Rechtsfrage, ob der vom Beschwerdeführer vorgenommene Überholvorgang im Sinne der genannten gesetzlichen Bestimmung unzulässig war, vom Beginn dieser Maßnahme aus zu beurteilen war. Ferner trifft es zu, daß es hiebei auch auf die Fahrgeschwindigkeit der an einem Überholvorgang beteiligten Fahrzeuge ankommt, wenn fraglich ist, ob die Überholstrecke, deren Länge unter anderem von den jeweiligen Fahrgeschwindigkeiten abhängig ist, im Bereich einer "unübersichtlichen Straßenstelle" gelegen ist oder nicht.

Es ist aber, wie der Verwaltungsgerichtshof bereits ausgeführt hat (vgl. das hg. Erkenntnis vom 3. Juli 1996, Zl. 95/03/0297, mit weiteren Judikaturhinweisen) nicht entscheidend, ob im Zeitpunkt des Überholvorganges Gegenverkehr herrschte oder nicht, sowie ob allenfalls durch einen im Zuge des Überholmanövers - möglicherweise, mit einer hypothetischen Geschwindigkeit - auftretenden Gegenverkehr andere Straßenbenützer gefährdet oder behindert werden könnten. Ist der überholende Kraftfahrzeuglenker in der Lage, das Straßenstück zu Beginn des Überholvorganges zur Gänze zu überblicken, das er für diese Maßnahme einschließlich des ordnungsgemäßen Wiedereinordnens seines Fahrzeuges auf den rechten Fahrstreifen benötigt, so kann von einer unübersichtlichen Straßenstelle nicht gesprochen werden, sodaß in einem derartigen Fall ein Überholverbot nach dieser Gesetzesstelle nicht besteht. Bezogen auf den vorliegenden Fall ergibt sich, daß die belangte Behörde, fußend auf den Ausführungen des Sachverständigengutachtens zu beurteilen hatte, daß der Beschwerdeführer einen Überholweg von ca. 139 m benötigte, wobei die tatsächliche Überholsichtweite ca. 270 m betrug. Daß während des Überholvorganges ein eventuell entgegenkommendes Fahrzeug, mit einer Geschwindigkeit von 100 km/h fahrend, etwa 167 m zurücklege, war bei der Beurteilung des Verhaltens des Beschwerdeführers nach dem Tatbild des § 16 Abs. 2 lit. b StVO 1960 - was die belangte Behörde offensichtlich auch bei ihren Ausführungen in der Gegenschrift übersieht - nicht zu prüfen.

Der angefochtene Bescheid erweist sich daher im bezeichneten Umfang als mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet, weshalb er diesbezüglich gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben war.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994. Die Abweisung des Mehrbegehrens betrifft überhöht verzeichneten Stempelgebührenaufwand.

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