Spruch:
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 12.500,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
Mit der vorliegenden Beschwerde ist ein Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Niederösterreich vom 4. September 1995 angefochten, mit welchem gegen die Beschwerdeführerin, eine tunesische Staatsbürgerin, gemäß § 17 Abs. 1 des Fremdengesetzes (FrG) die Ausweisung ausgesprochen wurde. Diese Entscheidung wurde im wesentlichen damit begründet, daß sich die Beschwerdeführerin - den Feststellungen der Bundespolizeidirektion St. Pölten zufolge - bereits vom 19. August 1982 (dem Tag ihrer Geburt) bis zum 7. Oktober 1988 rechtmäßig in Österreich aufgehalten habe und danach seit dem 24. Oktober 1989 in Tunesien aufhältig gewesen und am 6. September 1994 neuerlich nach Österreich eingereist sei. Dem widersprechen allerdings die Ausführungen der belangten Behörde in der Gegenschrift. Die belangte Behörde stellte nämlich fest, daß die letzte Aufenthaltsberechtigung der Beschwerdeführerin am 29. Juli 1991 abgelaufen sei und die Beschwerdeführerin - ihren Angaben zufolge - am 6. September 1994 sichtvermerksfrei in das Bundesgebiet eingereist sei. Sie habe angegeben, sich seit ihrer Geburt im Bundesgebiet aufzuhalten und nur mit kurzen Unterbrechungen für diverse Urlaubsaufenthalte Österreich verlassen zu haben. Daher - so stellte die belangte Behörde fest - halte sich die Beschwerdeführerin bereits über vier Jahre rechtswidrig gemäß § 15 FrG im Bundesgebiet auf. Die Rechtsordnung messe der Beachtung der zwischenstaatlichen Regelungen über die Einhaltung paßrechtlicher (nunmehr fremdengesetzlicher) Vorschriften ein solches Gewicht bei, daß selbst bei Einmaligkeit von Verfehlungen gegen diese Normen ein schwerwiegender Verstoß gegen erhebliche öffentliche Interessen des österreichischen Staates vorliege. Die Beschwerdeführerin habe am 22. September 1994 einen Antrag auf Erteilung einer Bewilligung nach dem Aufenthaltsgesetz (AufG) eingebracht, welcher Antrag "vom Amt der NÖ. Landesregierung mit Bescheid vom 7.6.1995" gemäß § 6 Abs. 2 AufG zurückgewiesen worden sei. Die Beschwerdeführerin halte sich jedoch seit dem 7. Dezember 1994 illegal im Bundesgebiet auf; es liege somit ein Sichtvermerksversagungsgrund vor.
Die belangte Behörde begründet den angefochtenen Bescheid weiters damit, daß sie nicht verkenne, daß durch die Ausweisung der - zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides 13-jährigen - Beschwerdeführerin "zumindest ein vorübergehender Eingriff in Ihr Familienleben stattfindet, zumal sich der erziehungsberechtigte Vater und ihre Mutter im Bundesgebiet aufhalten". Durch die Ausweisung werde der Beschwerdeführerin jedoch eine neuerliche rechtmäßige Einreise in das Bundesgebiet nicht verwehrt. Sie habe aber "das Bundesgebiet zu verlassen, um den Aufenthalt legalisieren zu können". In Anbetracht des langen rechtswidrigen Aufenthaltes komme die belangte Behörde zu dem Ergebnis, daß die Ausweisung der Beschwerdeführerin "zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 MRK genannten Ziele (Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung) dringend geboten" sei. Die österreichische Rechtsordnung messe einem geordneten Fremdenwesen eine hohe Bedeutung bei und ein Verstoß gegen diese Bestimmungen sei als erhebliche Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung anzusehen. Ein mehrjähriger illegaler Aufenthalt sei "jedenfalls geeignet, die den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften jeglichen Ordnungscharakter zu entziehen, sofern seitens der zuständigen Behörden keine entsprechenden Maßnahmen getroffen werden".
In der gegen diesen derart begründeten Bescheid gerichteten Beschwerde macht die Beschwerdeführerin inhaltliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides geltend und beantragt dessen Aufhebung.
Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor, erstattete eine Gegenschrift und beantragt die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Dem Schriftsatz des Vaters der Beschwerdeführerin, mit dem die Beschwerde zurückgezogen wird, kam im Hinblick darauf, daß dem Vater der Beschwerdeführerin mit Beschluß des Bezirksgerichts St. Pölten vom 5. August 1996 die Obsorge für die Beschwerdeführerin mit sofortiger Wirkung entzogen wurde, keine Rechtswirkung zu.
Gemäß § 17 Abs. 1 FrG sind Fremde mit Bescheid auszuweisen, wenn sie sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten; hiebei ist auf § 19 Bedacht zu nehmen. Nach letzterer Vorschrift ist die Erlassung einer Ausweisung nur zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten genannten Ziele "dringend geboten ist".
Die Beschwerdeführerin hält den angefochtenen Bescheid deswegen für rechtswidrig, weil sie seit ihrer Geburt am 4. August 1982, abgesehen von kurzen urlaubsbedingten Unterbrechungen, in Österreich lebe. Sie habe hier den Kindergarten und die Volksschule besucht und gehe derzeit in die Hauptschule. Ihre geschiedenen Eltern sowie ihre Geschwister lebten in Österreich; sie befinde sich in alleiniger Obsorge ihres Vaters. Sie bestreitet nicht, daß sie sich seit dem 7. Dezember 1994 unrechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, meint aber, daß ihre Ausweisung gemäß § 19 FrG zur Erreichung der in Art. 8 Abs. 2 MRK genannten Ziele nicht dringend geboten sei. Es sei kaum eine engere familiäre Bindung vorstellbar, als jene zwischen Eltern und Kindern. Sie sei aufgrund ihres Lebensalters und ihrer Ausbildung nicht in der Lage, sich in ihrem Heimatland Tunesien, das sie nur von Urlaubsaufenthalten her kenne, wirtschaftlich und menschlich durchzubringen; vielmehr wäre sie dort der Verwahrlosung preisgegeben. Der im angefochtenen Bescheid gegebene Hinweis, daß die Ausweisung eine neuerliche rechtmäßige Einreise in das Bundesgebiet nicht verwehre, gehe insoferne ins Leere, als die Beschwerdeführerin angesichts der für die Erteilung von Bewilligungen nach dem Aufenthaltsgesetz geltenden Quotenregelung mit einer Wartezeit von zumindest fünf Jahren rechnen müsse, wobei gerade die für die Familienzusammenführung bestehende Quote besonders schlechte Aussichten verheiße. Auch habe die bisherige Erfahrung gezeigt, "daß die Quotenplätze ohnedies nicht der Reihe nach vergeben werden, sondern aufgrund politischer Interventionen"; derartige Einflußmöglichkeiten stünden der Beschwerdeführerin nicht zur Verfügung. Die Beschwerdeführerin habe sich nichts zuschulden kommen lassen; dennoch sei aber im Fall eines vom Ausland aus gestellten Antrages auf Erteilung einer Bewilligung nach dem Aufenthaltsgesetz zu erwarten, daß ihr dabei ihr rechtswidriger Aufenthalt im Bundesgebiet entgegengehalten würde.
Die belangte Behörde führt in ihrer Gegenschrift aus, daß den Angaben der Beschwerdeführerin, sie habe sich ständig in Österreich aufgehalten und sei nur mit kurzen Unterbrechungen während der Urlaubsaufenthalte in Tunesien gewesen, nicht entgegengetreten werden könne; es sei offensichtlich, daß die Eltern bzw. nach der Scheidung der obsorgeberechtigte Vater der Beschwerdeführerin nicht rechtzeitig um die Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung der Beschwerdeführerin angesucht habe. Auch in ihrer Gegenschrift hält die belangte Behörde den angefochtenen Bescheid jedoch für rechtmäßig, weil die Beschwerdeführerin zum Entscheidungszeitpunkt über keine Aufenthaltsberechtigung verfüge und es nicht im Interesse eines geordneten Fremdenwesens liege, einen langen rechtswidrigen Aufenthalt, dessen Legalisierung aufgrund der derzeitigen Rechtslage im Inland nicht möglich sei, unter Berufung auf die familiären Bindungen auf unbestimmte Zeit pro futuro zur Kenntnis zu nehmen.
Die Beschwerde ist im Ergebnis berechtigt. Zwar ist es Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, daß ein unrechtmäßiger Aufenthalt eines Fremden in Österreich eine erhebliche Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung hinsichtlich der für die Einreise und den Aufenthalt von Fremden im Bundesgebiet regelnden Vorschriften ("das Fremdenwesen") darstellt. Gegenüber diesem öffentlichen Interesse haben verschiedentlich private und familiäre Interessen von Fremden mit rechtswidrigem Aufenthalt im Bundesgebiet gemäß § 19 FrG zurückzutreten und ist gemäß § 17 Abs. 1 FrG eine Ausweisung auszusprechen, zumal sich ansonsten bei Abstandnahme von der Erlassung einer Ausweisung Fremde mit unrechtmäßigem Aufenthalt durch die bloße Dauer eines unrechtmäßigen Aufenthaltes auch ein Recht dazu verschaffen könnten (vgl. dazu etwa das hg. Erkenntnis vom 28. September 1995, Zl. 95/18/1172). Dies bedeutet jedoch noch nicht, daß bei Anwendung des § 19 FrG das öffentliche Interesse an der Beendigung eines unrechtmäßigen Aufenthaltes stets höher zu bewerten sei als die privaten und familiären Interessen des betroffenen Fremden. Eine derartige Auslegung würde dem § 19 FrG jeden Anwendungsbereich entziehen, was dem Gesetzgeber jedoch nicht unterstellt werden kann. Wenn gemäß § 19 FrG die Erlassung einer Ausweisung nur zulässig ist, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 MRK genannten Ziele "dringend geboten ist", so bedeutet dies, daß die Ausweisung zur Erreichung zumindest eines dieser Ziele ein "zwingendes soziales Bedürfnis" im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte darstellen muß (vgl. die Hinweise bei Mayer, B-VG, 1994, 447). Dies ist vorliegend nicht der Fall. Vielmehr hat die belangte Behörde in Verkennung der Rechtslage den privaten und familiären Interessen der seit ihrer Geburt in Österreich lebenden und - angesichts ihres Lebensalters besonders schutzwürdigen - Beschwerdeführerin in Anwendung des § 19 FrG geringeres Gewicht beigemessen als den öffentlichen Interessen daran, daß sich die Beschwerdeführerin nicht rechtswidrig im Bundesgebiet aufhält. Angesichts des § 3 der Verordnung der Bundesregierung über die Anzahl der Bewilligungen nach dem Aufenthaltsgesetz für 1995, BGBl. Nr. 408, konnte sich die belangte Behörde im übrigen nicht einmal ohne weiteres darauf berufen, daß die Beschwerdeführerin einen Antrag auf Erteilung einer Bewilligung nach dem Aufenthaltsgesetz vom Ausland aus hätte stellen müssen.
Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG i. V.m. der Verordnung des Bundeskanzlers BGBl. Nr. 416/1994. Das Mehrbegehren war im Hinblick darauf abzuweisen, daß die Beschwerdeführerin von der Entrichtung von Stempelgebühren befreit gewesen ist.
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