VwGH 94/20/0414

VwGH94/20/041421.12.1995

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Leukauf und die Hofräte Dr. Kremla, Dr. Händschke, Dr. Baur und Dr. Bachler als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Kopp, über die Beschwerde des F, derzeit Strafgefangener, vertreten durch Dr. M, Rechtsanwalt in W, gegen den Bundesminister für Justiz, wegen Verletzung der Entscheidungspflicht betreffend Handhabung der Briefzensur, zu Recht erkannt:

Normen

AVG §73 Abs2;
B-VG Art132;
StVG §120 Abs1;
StVG §121 Abs1;
StVG §122 Abs2;
StVG §90b idF 1993/799;
VerfGG 1953 §87 Abs2;
VwGG §27;
VwRallg;
AVG §73 Abs2;
B-VG Art132;
StVG §120 Abs1;
StVG §121 Abs1;
StVG §122 Abs2;
StVG §90b idF 1993/799;
VerfGG 1953 §87 Abs2;
VwGG §27;
VwRallg;

 

Spruch:

Gemäß § 42 Abs. 4 VwGG in Verbindung mit § 120 Abs. 1 und § 121 Abs. 1 StVG wird über die Beschwerde vom 15. September 1992 gegen die Entscheidung der Leiterin der Justizanstalt Mittersteig vom 3. September 1992, Zl. GefV.Nr. 50/1983 (62-1/92 D), wie folgt entschieden:

Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 11.480,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit Entscheidung vom 3. September 1992 gab die Leiterin der Justizanstalt Mittersteig dem Antrag des Beschwerdeführers, daß die eingehende und ausgehende Korrespondenz des Beschwerdeführers mit bevollmächtigten Rechtsanwälten von jeder wie immer gearteten Zensur frei bleibe, nicht statt. Die dagegen erhobene Beschwerde (die mit 15. September 1992 datiert ist und deren Eingang von der Justizanstalt am 17. September 1992 bestätigt wurde) wurde vom Bundesminister für Justiz mit Bescheid vom 20. November 1992 unter Berufung auf § 90 Abs. 1 vierter Satz Strafvollzugsgesetz, BGBl. Nr. 144/1969 (in der zum damaligen Zeitpunkt geltenden Fassung zuletzt geändert mit BGBl. Nr. 605/1987) abgewiesen.

Aufgrund der dagegen erhobenen Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof leitete dieser ein Gesetzesprüfungsverfahren betreffend § 90 Abs. 1 vierter Satz StVG ein und hob in der Folge mit Erkenntnis vom 2. Dezember 1993, G 134/93, die genannte Bestimmung auf. Mit Erkenntnis vom 2. Dezember 1993, B 1852/92, zugestellt am 27. Dezember 1993, hob der Verfassungsgerichtshof daraufhin auch den Bescheid des Bundesministers für Justiz vom 20. November 1992 auf.

Die vorliegende Säumnisbeschwerde richtet sich dagegen, daß über die Beschwerde vom 17. September 1992 nach der Aufhebung des Bescheides des Bundesministers für Justiz durch den Verfassungsgerichtshof nach wie vor nicht neuerlich entschieden worden sei und seit dem Tag der Zustellung sechs Monate verstrichen seien.

Der Beschwerdeführer beantragt, in Stattgebung der Beschwerde die angefochtene Entscheidung der Leiterin der Justizanstalt Mittersteig vom 3. September 1992,

GefVNr. 50/1983 (richtig: Zl. 62-1/92 D), dahingehend abzuändern, daß die eingehende und ausgehende Korrespondenz des Beschwerdeführers mit bevollmächtigten Rechtsanwälten von jeder wie immer gearteten Zensur freibleibe.

Die belangte Behörde, die gemäß § 36 Abs. 2 VwGG eine Gegenschrift erstattet hat, verweist darauf, daß durch die Strafvollzugsnovelle 1993, BGBl. Nr. 799/1993, mit 1. Jänner 1994 auch die neu gefaßten, die Überwachung des Briefverkehrs betreffenden Bestimmungen des § 90 Strafvollzugsgesetz und die auch insbesondere den Schriftverkehr mit Rechtsbeiständen regelnde Bestimmung des § 90b leg. cit. in Kraft getreten seien. Durch diese Rechtslage werde dem vom Beschwerdeführer im Jahre 1992 gestellten Begehren - wie er auch selbst in der Beschwerde zugestehe - materiell entsprochen. Daher läge eine Verletzung der Entscheidungspflicht nicht vor, da der Beschwerdeführer selbst durch ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes rechtlich nicht besser gestellt werden könne. Die Beschwerde wäre auch zu einem Zeitpunkt erhoben worden, als die neuen Bestimmungen bereits in Kraft standen. Die Beschwerde wäre daher als unzulässig zurückzuweisen.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

1. Strittig ist im Beschwerdefall, ob die mit der Zustellung des aufhebenden Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes vom 2. Dezember 1993 am 27. Dezember 1993 neuerlich eingetretene Entscheidungspflicht des Bundesministers für Justiz betreffend die Beschwerde gemäß §§ 120 und 121 StVG gegen die Entscheidung der Leiterin der Justizanstalt Mittersteig vom 3. September 1992 durch das Inkrafttreten der Novelle 1993 zum Strafvollzugsgesetz, BGBl. Nr. 799/1993, am 1. Jänner 1994 weggefallen ist.

§ 90b StVG in der Fassung der Strafvollzugsnovelle 1993, BGBl. Nr. 799/1993, lautet:

"§ 90b.(1) Schreiben, die ein Strafgefangener unter

zutreffender Angabe des Absenders an öffentliche Stellen (Abs. 4), RECHTSBEISTÄNDE (Abs. 5) oder Betreuungsstellen (Abs. 6) richtet, dürfen in einem verschlossenen Umschlag zur Absendung gegeben werden.

(2) Sind solche Schreiben an öffentliche Stellen (Abs. 4) gerichtet, so dürfen sie nur im Falle eines begründeten und nicht auf andere Weise überprüfbaren Verdachts einer unerlaubten Sendung von Geld oder Gegenständen und nur in Gegenwart des Strafgefangenen geöffnet werden.

(3) Sind solche Schreiben an RECHTSBEISTÄNDE (Abs. 5) oder Betreuungsstellen (Abs. 6) gerichtet oder handelt es sich um Schreiben dieser Personen und Stellen oder um Schreiben öffentlicher Stellen (Abs. 4) an einen Strafgefangenen, so dürfen sie nur in dessen Gegegenwart und nur

  1. 1. aus dem Grund des Abs. 2 oder
  2. 2. im Falle eines begründeten Verdachtes, daß

  1. a) auf dem Schreiben ein falscher Absender angegeben ist,

  1. b) der Inhalt des Schreibens eine Gefahr für die Sicherheit der Anstalt darstellt oder

  1. c) der Inhalt des Schreibens den Tatbestand einer gerichtlich strafbaren Handlung verwirklicht oder der Vorbereitung einer solchen Handlung dient,

geöffnet werden. Gelesen werden dürfen solche Schreiben nur in den Fällen der Z. 2 lit. b und c, soweit sich dabei der Verdacht bestätigt, sind die Schreiben zurückzuhalten.

(4) ......

(5) Als RECHTSBEISTÄNDE gelten Rechtsanwälte, Notare,

Verteidiger und Wirtschaftstreuhänder.

(6) ......"

2. Die Aufhebung des Bescheides des Bundesministers für Justiz vom 20. November 1992 durch den Verfassungsgerichtshof hat bewirkt, daß das zugrunde liegende Verfahren in jenes Stadium zurücktritt, in dem es sich vor Erlassung des Bescheides befunden hat, und daß der Bundesminister für Justiz verpflichtet ist, "den der Rechtsanschauung des Verfassungsgerichtshofes entsprechenden Rechtszustand herzustellen" (§ 87 Abs. 2 VfGG), d.h. im Beschwerdefall, einen dieser Rechtsauffassung entsprechenden Ersatzbescheid zu erlassen.

Daraus ergibt sich zunächst, daß über die vom Beschwerdeführer gegen die Erledigung der Leiterin der Justizanstalt Mittersteig vom 3. September 1992 erhobene Beschwerde (neuerlich) zu entscheiden war. Die Beantwortung der Frage, welche Auswirkung die Änderung der für diese Entscheidung maßgebenden generellen Rechtslage mit 1. Jänner 1994 im Beschwerdefall hat, hängt nun davon ab, welcher Art die Entscheidungsbefugnis (und damit die Entscheidungspflicht) des Bundesministers für Justiz aufgrund einer Beschwerde gemäß §§ 120 f StVG ist. Wenn der Bundesminister für Justiz in seiner Gegenschrift vermeint, daß dadurch, daß die neue Rechtslage dem Begehren des Beschwerdeführers materiell entspreche, eine Verletzung der Entscheidungspflicht nicht vorliege, übersieht er, daß Gegenstand des Verfahrens nach § 120 und § 121 StVG nicht die Erlassung eines Feststellungsbescheides ist (wobei im übrigen auch dann, wenn Gegenstand des Verfahrens tatsächlich ein Feststellungsbescheid wäre, der Beschwerdeführer gegebenenfalls einen Anspruch auf Zurückweisung des allenfalls unzulässigen Antrages hätte). Im Falle einer Beschwerde gemäß § 120 StVG liegt aber ein Rechtsmittel gegen eine Anordnung im Strafvollzug vor, die nicht in Bescheidform ergangen ist (vgl. insbesondere § 22 Abs. 3 StVG, dem zufolge die im Strafvollzug außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens ergehenden Anordnungen und Entscheidungen nur in den Fällen der §§ 115 und 121 StVG in Bescheidform zu erlassen sind; vgl. auch Kunst, StVG, Manz 1979, Anm. 2 zu § 15). Auch der Beschwerdeführer ist in seinem als "Beschwerde gemäß § 120 StVG" bezeichneten Antrag offensichtlich davon ausgegangen, hätte er doch sonst eine Berufung gegen die Entscheidung der Anstaltsleiterin erhoben. Es liegt daher im Beschwerdefall keine Berufung gegen einen erstinstanzlichen Bescheid vor; zu entscheiden ist vielmehr über eine Beschwerde gemäß § 120 iVm § 121 Abs. 1 StVG, wobei im vorliegenden Fall eine Zuständigkeit des Bundesministers für Justiz in erster Instanz zur Entscheidung über die Beschwerde gegeben ist. Die Entscheidungsbefugnis des Bundesministers könnte nur dadurch aufgehoben werden, daß der Anstaltsleiter, dessen Entscheidung oder Anordnung bekämpft ist, der Beschwerde selbst abhilft (§ 121 Abs. 1 StVG).

Im Beschwerdefall ist nicht hervorgekommen, daß die Leiterin der Justizanstalt Mittersteig ihre Anordnung vom 3. September 1992 mittlerweile aufgehoben hätte. Der Beschwerdeführer hat daher sein Rechtsschutzziel nach wie vor nicht erreicht. Den Bundesminister für Justiz traf somit ab der Zustellung des verfassungsgerichtlichen Erkenntnisses über die Aufhebung der ersten Entscheidung über die Beschwerde des Beschwerdeführers neuerlich die Entscheidungspflicht. Eine nachfolgende Änderung der Rechtslage könnte allenfalls eine Änderung hinsichtlich des Inhaltes der Entscheidung mit sich bringen (sofern sich durch die Änderung der Rechtslage Auswirkungen auf die Bindungswirkung des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshof ergeben sollten). Zu einem Wegfall der Entscheidungspflicht könnte es nur gekommen sein, wenn die bekämpfte Anordnung durch das Inkrafttreten der Gesetzesnovelle aufgehoben worden wäre. Dies ist jedoch nicht der Fall. Der Umstand, daß die für die Entscheidung des Bundesministers für Justiz maßgebliche Rechtslage seit 1. Jänner 1994 (ebenfalls) die Rechtswidrigkeit der bekämpften Entscheidung der Leiterin der Justizanstalt Mittersteig - ebenso wie das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 2. Dezember 1993 - bewirkt, bedeutet nicht, daß damit eine Entscheidung im Beschwerdeverfahren nach § 120 StVG entbehrlich würde. Es kann nicht davon ausgegangen werden, daß Anordnungen im Strafvollzug als Vollzugsakte unter der Gesetzesebene durch das Inkrafttreten von Gesetzen beseitigt werden könnten. Es kann vielmehr allenfalls eine Invalidation eintreten, sodaß die Vollzugsorgane gehalten wären, aufgrund der neuen Rechtslage die Rechtswidrigkeit des bekämpften Aktes festzustellen und diesen gegebenenfalls aufzuheben. Im Beschwerdefall ist im Hinblick auf das aufhebende Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes insofern mit 1. Jänner 1994 keine Änderung der Rechtslage eingetreten, als die Rechtswidrigkeit des bekämpften Aktes auch schon (vor dem 1. Jänner 1994) in Bindung an dieses Erkenntnis vorlag.

Das Inkraftreten der StVG-Novelle 1993 bedeutet lediglich, daß die für die Beurteilung der Beschwerde maßgebliche Rechtslage geändert wurde, wobei sich im Beschwerdefall jedoch keine inhaltliche Auswirkung auf die ausstehende Entscheidung ergibt. Somit ist durch das Inkrafttreten der StVG-Novelle mit 1. Jänner 1994 weder die Entscheidungspflicht des Bundesministers für Justiz aufgehoben worden, noch hat das Inkrafttreten der StVG-Novelle eine Änderung hinsichtlich des Inhaltes der zu treffenden Entscheidung gebracht. Diese Entscheidungspflicht ist aufgrund der vorliegenden Säumnisbeschwerde und das Verstreichenlassen der Frist zur Nachholung des versäumten Bescheids auf den Verwaltungsgerichtshof übergegangen. Die Entscheidung über eine Beschwerde gemäß § 120 Abs. 1 StVG hat aufgrund einer Kontrolle der Rechtmäßigkeit der bekämpften Anordnung oder Entscheidung eine allenfalls bestehende Verletzung von Rechten des Beschwerdeführers zu beseitigen, wofür insbesondere die Aufhebung von rechtswidrigen Anordnungen in Betracht kommt. Dies auch dann, wenn - wie im Beschwerdefall - die bekämpfte Anordnung lediglich in der Abweisung eines Antrages, eine positive Anordnung (hier betreffend die ungeöffnete Weiterleitung von Briefen) zu treffen, besteht (wird doch damit der von Gesetzes wegen bestehende Anspruch des Beschwerdeführers individuell im Einzelfall verneint; diese normative Wirkung kann durch die Aufhebung beseitigt werden). Das Beschwerderecht als Rechtsschutzeinrichtung eigener Art gegen formlose Verfügungen der Strafvollzugsorgane bewirkt hingegen nicht, daß den Bundesminister für Justiz die Pflicht zum bescheidmäßigen Ausspruch bestimmter Anordnungen (was der Erlassung eines Feststellungsbescheides gleichkäme) träfe (siehe unten, 3.).

Da eine Rechtsgrundlage für eine generelle Anordnung, daß der Briefverkehr des Beschwerdeführers geöffnet werden könne, sowohl auf Grund der Bindungswirkung des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes vom 2. Dezember 1993 als auch auf Grund der nachfolgend in Kraft getretenen Novelle zum StVG fehlt, erweist sich, daß der Beschwerdeführer mit seiner Beschwerde gegen die Entscheidung der Leiterin der Justizanstalt im Recht ist. Die bekämpfte Entscheidung war daher ersatzlos aufzuheben.

3. Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers dient jedoch das Beschwerderecht nach § 120 Abs. 1 StVG nicht dazu, einen Übergang der Zuständigkeit zur Erlassung genereller Anordnungen für den Vollzug (nach Art eines Feststellungsbescheides, wie ihn der Beschwerdeführer der Sache nach anstrebt) herbeizuführen. Das Beschwerderecht dient der Rechtmäßigkeitskontrolle bezüglich der im Strafvollzug getroffenen Anordnungen und Entscheidungen; eine Verpflichtung der nach § 121 Abs. 1 StVG zuständigen Organe zur Erlassung von einem Feststellungsbescheid gleichkommenden generellen Anordnungen für den Vollzug betreffend einzelne Strafgefangene läßt sich dem Gesetz nicht entnehmen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 3.10.1978, Zl. 1659/78 und 2653/78, in dem es um eine vom Beschwerdeführer vom Bundesminister für Justiz verlangte "Aufklärung" der Leitung der Strafvollzugsanstalt ging). Derartige Begehren können allenfalls als Anregung zur Handhabung des Aufsichtsrechtes gewertet werden, auf welche dem Einschreiter jedoch gemäß § 122 Satz 2 StVG kein Bescheid erteilt zu werden braucht.

Eine Entscheidung über den Antrag des Beschwerdeführers unter 4.2. der Beschwerde, die Entscheidung dahingehend abzuändern, daß die eingehende und ausgehende Korrespondenz des Beschwerdeführers mit bevollmächtigten Rechtsanwälten von jeder wie immer gearteten Zensur freibleibe, konnte daher - da mangels einer Verpflichtung des Bundesministers für Justiz, einen derartigen Ausspruch zu treffen, eine solche Verpflichtung auch nicht auf den Verwaltungsgerichtshof übergegangen ist - nicht getroffen werden.

4. Von der Durchführung der vom Beschwerdeführer beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z. 6 VwGG abgesehen werden.

5. Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich (im Rahmen des konkret gestellten Begehrens) auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.

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