VwGH 93/05/0018

VwGH93/05/001818.1.1994

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident DDr. Hauer und die Hofräte Dr. Degischer, Dr. Giendl, Dr. Kail und Dr. Bernegger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Kommissär Dr. Gritsch, über die Beschwerde der D. & Co KG in W, vertreten durch Dr. P, Rechtsanwalt in W, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Tirol vom 2. Dezember 1992, Zl. U-00005917/30, betreffend Feststellung gemäß § 4 Abfallwirtschaftsgesetz, zu Recht erkannt:

Normen

AWG 1990 §2 Abs2 Z1;
AWG 1990 §2 Abs2 Z2;
AWG 1990 §2 Abs2 Z1;
AWG 1990 §2 Abs2 Z2;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 11.540,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Mit dem angefochtenen Bescheid wies der Landeshauptmann von Tirol gemäß § 66 Abs. 4 AVG die Berufung der Beschwerdeführerin, einer Kommanditgesellschaft, gegen den Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Innsbruck vom 29. Dezember 1992 ab, mit dem gemäß § 4 des Abfallwirtschaftsgesetzes festgestellt worden war, daß die im Betrieb der Beschwerdeführerin anfallende Kieselfluorwasserstoffsäure Abfall im Sinne des Abfallwirtschaftsgesetzes darstellt.

Die Beschwerdeführerin hatte in der Berufung geltend gemacht, daß eine geordnete Erfassung und Behandlung im Sinne des Abfallwirtschaftsgesetzes solange nicht im öffentlichen Interesse gemäß § 2 Abs. 1 AWG geboten sei, als die Sache nach allgemeiner Verkehrsauffassung neu gemäß § 2 Abs. 2 Z. 1 Abfallwirtschaftsgesetz ist. Bei der im Betrieb der Beschwerdeführerin produzierten Kieselfluorwasserstoffsäure handle es sich um eine nach allgemeiner Verkehrsauffassung neue Sache. Dies zeige die Art der Erzeugung der Kieselfluorwasserstoffsäure im Betrieb der Beschwerdeführerin. Das bei der Glaserzeugung, nämlich beim Polieren bestimmter Teile des Glases, entstehende Siliciumtetrafluorid-Gas werde aus den geschlossenen Säurepolieranlagen abgesaugt und in einem System von mehreren hintereinander geschalteten Wäschern mit Wasser ausgewaschen. Dabei werde in den Wäschern Kieselfluorwasserstoffsäure gebildet. Dieses Produkt sei bis Ende 1984 an die Fertigung Chemie Linz für die Produktion von Aluminiumfluorid geliefert worden. Nachdem dort die Produktion eingestellt worden sei, liefere die Beschwerdeführerin die Kieselfluorwasserstoffsäure an Abnehmer in Deutschland. Ein Sachverständigengutachen hätte klären können, daß aufgrund der Art der Produktion der Kieselfluorwasserstoffsäure nach allgemeiner Verkehrsauffassung ein neues Produkt vorliege.

Die belangte Behörde wies die Berufung nach allgemeinen Ausführungen zum objektiven Abfallbegriff im wesentlichen mit der Begründung ab, daß die verfahrensgegenständliche Kieselfluorwasserstoffsäure im Hinblick auf die für zutreffend erachteten Feststellungen der erstinstanzlichen Behörde eindeutig als Abfall im Sinne des Abfallwirtschaftsgesetzes (objektiver Abfallbegriff) zu qualifizieren sei. Aus dem Sicherheitsdatenblatt ergebe sich weiters, daß sogar gefährlicher Abfall vorliege. Zur begehrten Einholung eines Sachverständigengutachtens wies die belangte Behörde darauf hin, daß es gemäß § 3 der Verordnung über die Festsetzung gefährlicher Abfälle, BGBl. Nr. 49/1991, dem Unternehmen obliege, mittels eines Gutachtens die Ungefährlichkeit des Stoffes nachzuweisen. Ein solches Gutachten habe die Beschwerdeführerin offensichtlich nicht beibringen können. Es könne nicht Sache der entscheidenden Behörde sein, zur Frage, ob eine Sache Abfall im Sinne des Abfallwirtschaftsgesetzes sei oder nicht, ein entsprechendes Sachverständigengutachten einzuholen. Es handle sich dabei um eine Rechtsfrage.

Zu dem Einwand, daß es sich bei der in Frage stehenden Sache um eine nach allgemeiner Verkehrsauffassung neue handelt, verwies die belangte Behörde darauf, daß der Tatbestand "neue Sache" auf alle Sachen und Waren zutreffe, die nach der allgemeinen Verkehrsauffassung neu sind und einer entsprechenden Verwendung zugeführt werden könnten. Die subjektive Beurteilung des Inhabers der Sache sei dabei nicht maßgeblich. Als neue Sachen seien z.B. originalverpackte Arzneimittel, Batterien, Lacke, Chemikalien usw. bzw. solche Waren anzusehen, die im Verkaufsregal angeboten würden. Die Kieselfluorwasserstoffsäure könne daher keinesfalls als eine Sache angesehen werden, die nach allgemeiner Verkehrsauffassung neu sei.

Gegen den angefochtenen Bescheid des Landeshauptmannes von Tirol wendet sich die vorliegende Beschwerde, in der Rechtswidrigkeit des Bescheides wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes und infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend gemacht wird.

Die belangte Behörde hat eine Gegenschrift erstattet, die Verwaltungsakten vorgelegt und die Abweisung der Beschwerde beantragt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Die im vorliegenden Fall maßgeblichen Bestimmungen des Abfallwirtschaftsgesetzes, BGBl. Nr. 325/1990 (im folgenden: AWG), lauten:

"§ 2. (1) Abfälle im Sinne dieses Bundesgesetzes sind bewegliche Sachen,

...

2. deren Erfassung und Behandlung als Abfall im öffentlichen Interesse (§ 1 Abs. 3) geboten ist.

Die Erfassung und Behandlung als Abfall im öffentlichen Interesse kann auch dann geboten sein, wenn für eine bewegliche Sache ein Entgelt erzielt werden kann.

(2) Eine geordnete Erfassung und Behandlung im Sinne dieses Bundesgesetzes ist jedenfalls so lange nicht im öffentlichen Interesse (§ 1 Abs. 3) geboten,

  1. 1. als eine Sache nach allgemeiner Verkehrsauffassung neu ist oder
  2. 2. solange sie in einer nach allgemeiner Verkehrsauffassung für sie bestimmungsgemäßen Verwendung steht oder ...

(3) Ist eine Sache Abfall und wird sie sodann einer Verwertung zugeführt (Altstoff), gilt sie so lange als Abfall, bis sie oder die aus ihr gewonnenen Stoffe einer zulässigen Verwendung oder Verwertung zugeführt werden. ...

...

(5) Gefährliche Abfälle im Sinne dieses Bundesgesetzes sind Abfälle, deren ordnungsgemäße Behandlung besondere Umsicht und besondere Vorkehrungen im Hinblick auf die öffentlichen Interessen (§ 1 Abs. 3) erfordert und deren ordnungsgemäße Behandlung jedenfalls weitergehender Vorkehrungen oder einer größeren Umsicht bedarf, als dies für die Behandlung von Hausmüll entsprechend den Grundsätzen des § 1 Abs. 3 erforderlich ist. ...

§ 4 (1) Bestehen begründete Zweifel, ob eine Sache Abfall oder Altöl im Sinne dieses Bundesgesetzes ist oder nicht sowie darüber, welcher Abfallart sie zuzuordnen ist, hat die Behörde dies 1. von Amts wegen oder

2. auf Antrag des Verfügungsberechtigten mit Bescheid festzustellen."

Die belangte Behörde hat die Frage, ob die verfahrensgegenständliche Kieselfluorwasserstoffsäure eine nach allgemeiner Verkehrsauffassung neue Sache im Sinne des § 2 Abs. 2 Z. 1 AWG ist, - nach dem allgemeinen Hinweis, daß eine solche nach allgemeiner Verkehrsauffassung neu sein und einer entsprechenden Verwendung zugeführt werden müsse - mit der Begründung verneint, daß die subjektive Beurteilung des Inhabers der Sache dabei nicht maßgeblich sei und als neue Sachen "z.B. originalverpackte Arzneimittel, Batterien, Lacke, Chemikalien, etc. bzw. solche Waren anzusehen" seien, "die im Verkaufsregal angeboten werden".

Die Beschwerdeführerin macht dagegen geltend, daß bei der Frage, ob eine neue Sache vorliege, nicht auf den Umstand der Originalverpackung abgestellt werden könne. Größere Mengen von Chemikalien, wie im vorliegenden Fall, würden nicht originalverpackt oder im Verkaufsregal angeboten, sondern von Betrieb zu Betrieb in den entsprechenden Transportmitteln befördert. Ihrer Auffassung nach handle es sich bei der im Rahmen ihrer Produktion anfallenden Kieselfluorwasserstoffsäure - wie schon in der Berufung vorgetragen - um eine nach allgemeiner Verkehrsauffassung neue Sache, die bei der Glasproduktion als Nebenprodukt anfalle, indem beim Polieren bestimmter Teile des Glases gasförmiges Siliciumtetrafluorid entsteht, das abgesaugt wird und in einem System von mehreren hintereinander geschalteten Wäschern mit Wasser ausgewaschen wird, wobei Kieselfluorwasserstoffsäure entsteht. Dieser chemische Vorgang zeige, daß die Kieselfluorwasserstoffsäure nicht Abfall, sondern ein neues Produkt sei. Aufgrund des Produktionsablaufes hätte die belangte Behörde zum Ergebnis gelangen müssen, daß der Produktablauf so eingerichtet sei, daß Kieselfluorwasserstoffsäure als ein neues chemisches Produkt, das für weitere Produktionsprozesse benötigt werde, erzeugt werde.

Von entscheidender Bedeutung ist im vorliegenden Fall die Frage, ob die verfahrensgegenständliche Kieselfluorwasserstoffsäure als eine nach allgemeiner Verkehrsauffassung neue Sache im Sinne des § 2 Abs. 2 Z. 1 AWG zu beurteilen ist. Ist diese Frage zu bejahen, dann stellt diese Sache keinen Abfall im Sinne des § 2 Abs. 1 Z. 2 AWG dar, auch wenn die Erfassung und Behandlung der Sachen im Sinne des AWG im öffentlichen Interesse (§ 1 Abs. 3 AWG) geboten wäre. Eine solche Sache kann dann auch nicht unter den Begriff "gefährliche Abfälle" gemäß § 2 Abs. 5 AWG fallen.

Zum Begriff der gemäß § 2 Abs. 2 Z. 1 AWG nach allgemeiner Verkehrsauffassung neuen Sache finden sich in den Erläuterungen zum AWG (1274 BlgNR. 17. GP) folgende Ausführungen:

"Abs. 2 dient einer Eingrenzung und Klarstellung des objektiven Abfallbegriffs. Bewegliche Sachen, deren geordnete Lagerung und dergleichen objektiv geboten sein kann (z.B. Benzin, Arzneimittel), sollen in Übereinstimmung mit dem üblichen Verständnis von Abfall jedenfalls dann nicht als Abfälle angesehen werden, wenn sie nach der allgemeinen Verkehrsauffassung - nicht jedoch nach der subjektiven Einschätzung des Inhabers - neu sind und dementsprechend erst ihrer bestimmungsgemäßen Verwendung (durch wen auch immer) harren."

Als ein maßgebliches Kriterium für den Begriff der nach (allgemeiner Verkehrsauffassung) NEUEN Sache ergibt sich daraus, daß es sich um eine Sache handeln muß, die erst ihrer bestimmungsgemäßen Verwendung (durch wen auch immer) harrt. Dies ergibt sich auch im Zusammenhalt mit Z. 2 des § 2 Abs. 2 AWG, die Sachen, deren Erfassung und Behandlung im öffentlichen Interesse geboten wäre, vom Abfallbegriff auch solange ausnimmt, als die Sache in einer nach allgemeiner Verkehrsauffassung bestimmungsgemäßen Verwendung steht. Gegenüber dem in Z. 2 des § 2 Abs. 2 AWG erfaßten Tatbestand der bestimmungsgemäßen Verwendung einer Sache meint Z. 1 des § 2 Abs. 2 AWG offensichtlich die noch nie bestimmungsgemäß verwendete neue Sache.

Um das Vorliegen einer neuen Sache im Sinne des § 2 Abs. 2 Z. 1 AWG bejahen zu können, muß sie weiters nach allgemeiner Verkehrsauffassung als neu zu beurteilen sein. In diesem Zusammenhang kommt es auf die durchschnittliche Auffassung der in Betracht kommenden Verkehrskreise (hier jener Personen am Markt, die mit Kieselfluorwasserstoffsäure befaßt sind) an.

Die belangte Behörde hat sich im vorliegenden Fall mit diesen beiden für § 2 Abs. 2 Z. 1 AWG maßgeblichen Kriterien nicht auseinandergesetzt und auch keinerlei nähere Sachverhaltsfeststellungen und Ermittlungen dazu vorgenommen. Im Hinblick auf die Beurteilung der im vorliegenden Fall maßgeblichen Frage des Vorliegens der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Z. 1 AWG bedarf der Sachverhalt somit in wesentlichen Punkten einer Ergänzung.

Der angefochtene Bescheid war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b VwGG aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 104/1991. Das Mehrbegehren war im Sinne der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. hg. Beschluß vom 30. Juni 1965, Zl. 773/65, Erkenntnis vom 22. November 1966, Zl. 392/66, und vom 6. September 1974, Zl. 1108/73, u.a.) abzuweisen, nach der der im § 49 Abs. 1 VwGG vorgesehene Pauschbetrag für den Schriftsatzaufwand auch die Kosten für die Umsatzsteuer umfaßt.

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