VwGH 91/10/0233

VwGH91/10/023316.12.1991

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Kirschner und die Hofräte Mag. Onder und Dr. Puck als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Mandl, über den Antrag des M in K, vertreten durch Dr. F in Z, auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Einbringung der Beschwerde gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Niederösterreich vom 25. Juli 1991, Zl. VII/3-13/IX/197-91, betreffend eine Übertretung des Lebensmittelgesetzes 1975, den Beschluß gefaßt:

Normen

AVG §71 Abs1 lita;
VwGG §46 Abs1;
AVG §71 Abs1 lita;
VwGG §46 Abs1;

 

Spruch:

Gemäß § 46 Abs. 1 VwGG wird dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand stattgegeben.

Begründung

1.1. Mit Beschluß des Verwaltungsgerichtshofes vom 14. Oktober 1991, Zl. 91/10/0204-3, wurde die vom Vertreter des Beschwerdeführers am 12. September 1991 zur Post gegebene Beschwerde gegen den oben näher bezeichneten Bescheid gemäß § 34 Abs. 1 VwGG wegen Veräumung der Beschwerdefrist, die am 11. September 1991 geendet hatte, zurückgewiesen. Dieser Beschluß wurde dem Vertreter des Beschwerdeführers am 25. Oktober 1991 zugestellt.

1.2. Mit der am 6. November 1991 - also rechtzeitig - zur Post gegebenen Eingabe stellte der Beschwerdeführer den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 46 Abs. 1 VwGG und führte dazu im wesentlichen aus, daß "die Kanzleiorganisation des Vertreters des Beschwerdeführers dergestalt ist, daß sämtliche anfallenden Rechtsmittelfristen in einer speziellen Rubrik im Terminkalender der Kanzlei mit dem Vermerk: 'Rechtssache ...-Frist lezter Tag...' mit Rotstift ausgeworfen sind. Die gegenständliche Frist war am 11.9.1991 eingetragen. Wenn nun das diesbezügliche Rechtsmittel verfaßt wird, wird dessen Ausgang zur Post von der Kanzleileiterin deutlich sichtbar abgehakt und mit dem Vermerk: 'Abgefertigt am...' versehen, um kund zu tun, daß und mit welchem Datum das Rechtsmittel erledigt wurde."

Im gegenständlichen Fall war der letzte Tag der Beschwerdefrist mit 11.9.1991 im Kalender eingetragen und wurde dessen Abfertigung auch per 11.9.1991 mit dem üblichen Abfertigungsvermerk von der Kanzleileiterin verzeichnet, welche auch den Auftrag hat, die Tagespost bis längstens 17.00 Uhr täglich beim Postamt aufzugeben. Auf Grund besonderer, in der Privatsphäre der seit langen Jahren in der Kanzlei beschäftigten und äußerst bewährten und verläßlichen Bediensteten gelegener Umstände, welche darin bestanden, daß die Kanzleileiterin auf Grund eines Telefonates ihrer Mutter wegen einer hochfieberhaften und ernsten Erkrankung ihres 20 Monate alten Sohnes nach Hause gerufen wurde, muß es auf Grund ihrer verständlichen Sorge zu einem Versehen gekommen sein, auf Grund welchen das bereits verfertigte und kuvertierte Rechtsmittel entweder in der Postmappe liegenblieb, oder in der Aktentasche, mit welchem die Post üblicherweise zum Postamt getragen wird, übersehen wurde, und somit erst am nächsten Tag mit der Vormittagspost überreicht wurde.

Auf Grund der gegebenen Umstände handelt es sich - speziell unter dem Gesichtspunkt der absoluten Verläßlichkeit dieser Bediensteten - um einen minderen Grad des Versehens und stellte sohin für den Vertreter des Beschwerdeführers insofern ein unvorhergesehenes und unabwendbares Ereignis dar, das ohne dessen Verschulden die Einhaltung der gegenständlichen Frist verhinderte. Zumal das gegenständliche Rechtsmittel im Kalender am 11.9.1991 den kanzleiüblichen Abfertigungsvermerk aufwies, und auch im Handakt mit diesem Tag als abgefertigt vermerkt wurde, und diese Vermerke täglich vom Vertreter des Beschwerdeführers zwecks Einhaltung der Termine und Fristen kontrolliert werden, ist der Vertreter der ihm zumutbaren und nach der Sachlage gebotenen Überwachungspflicht gegenüber der Kanzleileiterin nachgekommen.

Das Aufhören des Hinternisses gemäß § 46 Abs. 3 VwGG ist für den Vertreter des Beschwerdeführers am 25.10.1991, also mit dme Datum des Einlangens des zurückweisenden Beschlusses des VwGG eingetreten. Dies deshalb, weil auf Grund der Abfertigungsvermerke angenommen werden mußte, daß das Rechtsmittel per 11.9.1991 zur Post gegeben worden war, und andererseits, weil das entsprechende Postaufgaberezipis selbst nicht im Akt erliegt, sondern in einem beim Postamt am Schalter aufbewahrten auf die Kanzlei des Anwaltsbüros ausgestellten 'Postaufgabebuches' eingelegt wird, welches als Barauslagenvermerk für die Buchhaltung herangezogen wird".

2.0. Der Verwaltungsgerichtshof hat in dem gemäß § 12 Abs. 1 Z. 1 lit. e VwGG gebildeten Dreiersenat erwogen:

2.1. § 46 Abs. 1 VwGG in der Fassung BGBl. Nr. 564/1985 lautet:

"Wenn eine Partei durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis - so dadurch, daß sie von einer Zustellung ohne ihr Verschulden keine Kenntnis erlangt hat - eine Frist versäumt und dadurch einen Rechtsnachteil erleidet, so ist dieser Partei auf Antrag die Wiedereinsatzung in den vorigen Stand zu bewilligen. Daß der Partei ein Verschulden an der Versäumung zur Last liegt, hindert die Bewilligung der Wiedereinsetzung nicht, wenn es sich nur um einen minderen Grad des Versehens handelt."

2.2.1. Die Wiedereinsetzung ist gemäß § 46 Abs. 1 VwGG auch zu bewilligen, wenn eine Frist durch ein Verhalten von Angestellten des Bevollmächtigten der Partei versäumt wurde, es sei denn, es läge ein Verschulden der Partei vor (vgl. den hg. Beschluß eines verstärkten Senates vom 25. März 1976, Slg. N.F. Nr. 9024/A = ZfVB 1976/3/521). Dem Verschulden der Partei selbst ist das Verschulden ihres Vertreters gleichzustellen (vgl. zu dieser im eben genannten Beschluß nicht beantworteten Frage den hg. Beschluß eines verstärkten Senates vom 19. Jänner 1977, Slg. N.F. Nr. 9226/A = ZfVB 1977/4/1535).

Ein Versehen einer Kanzleibediensteten stellt jedoch für einen Rechtsanwalt und damit für die von diesem vertretene Partei nur dann ein unvorhergesehenes und unabwendbares Ereignis dar, wenn der Rechtsanwalt der ihm zumutbaren und nach der Sachlage gebotenen Überwachungspflicht gegenüber seinen Angestellten hinreichend nachgekommen ist (vgl. den ebenzitierten hg. Beschluß).

2.2.2. An dieser Aufsichts- und Kontrollpflicht eines Rechtsanwaltes hat sich auch durch die Neufassung des § 46 Abs. 1 VwGG auf Grund des Bundesgesetzes BGBl. Nr. 564/1985 nichts geändert. Es ist daher in derartigen Fällen weiterhin ausschlaggebend, ob der Rechtsanwalt der genannten Verpflichtung entsprochen hat, wobei der Unterschied zur früheren Rechtslage lediglich darin besteht, daß dann, wenn ein Verschulden des Rechtsanwaltes hervorkommt, nunmehr noch zusätzlich zu klären ist, ob es sich hiebei nicht um einen minderen Grad des Versehens handelte. Der - aus der Zivilprozeßordnung in der Fassung der Zivilverfahrensnovelle 1983 übernommene - Begriff des minderen Grades des Versehens wird im Bereich der Zivilprozeßordnung, z. B. von Fasching im Lehrbuch des österreichischen Zivilprozesses, Randzahl 580, als leichte Fahrlässigkeit im Sinne des § 1332 ABGB verstanden. Der Wiedereinsetzungswerber oder sein Vertreter darf also nicht auffallend sorglos gehandelt haben, somit die im Verkehr mit Gerichten und für die Einhaltung von Terminen und Fristen erforderliche und ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten zumutbare Sorgfalt außer acht gelassen haben.

Im Wiedereinsetzungsantrag ist auch im Falle einer behaupteten Fehlleistung eines Kanzleiangestellten darzutun, daß die dem Rechtsanwalt obliegenden Aufsichts- und Kontrollpflichten eingehalten wurden (vgl. den hg. Beschluß vom 22. Oktober 1987, Zl. 87/08/0256 = ZfVB 1988/3/1081).

2.2.3. Der Verwaltungsgerichtshof hat es in seiner bisherigen Rechtsprechung nicht als zweckmäßige und zumutbare Kontrollmaßnahme angesehen, daß sich der Rechtsanwalt nach Übergabe sämtlicher Schriftstücke an die bisher bewährte Kanzleikraft in jedem Fall noch von der tatsächlichen Durchführung der Expedierung der Sendung überzeugt, zumal auch eine solche Maßnahme in vielen Fällen nicht zielführend erschiene, z.B. bei der durchaus zulässigen Erledigung am letzten Tag der Frist oder beim Vertauschen von Schriftstücken oder Beilagen mehrerer Postsendungen (vgl. die hg. Beschlüsse vom 27. Jänner 1983, Zl. 82/08/0205 = ZfVB 1983/6/2792, und vom 22. September 1983, Zl. 83/08/0108 =ZfVB 1984/3/1184).

2.2.4. Der Verwaltungsgerichtshof hält an dieser Rechtsprechung fest - allein, dem vorliegenden Wiedereinsetzungsantrag liegt ein anderer Sachverhalt zugrunde. Nach der Darstellung des Sachverhaltes im Wiedereinsetzungsantrag erfolgte der Auftrag des einschreitenden Rechtsanwaltes an die Kanzleikraft zur Postaufgabe am 11. September 1991 bis 17.00 Uhr.

Wie sich aus dem Wiedereinsetzungsantrag ergibt, wurde die bis dahin bewährte Kanzleikraft wegen plötzliche Erkrankung ihres Sohnes nach Hause gerufen.

Es gehört nun einerseits zweifellos zu den selbstverständlichen organisatorischen Vorkehrungen in einer Rechtsanwaltskanzlei, sicherzustellen, daß die einem Kanzleiangestellten übertragenen (insbesondere fristgebundenen) Arbeiten im Falle einer Dienstverhinderung oder einem sonstigen Fernbleiben desselben vom Dienst fortgeführt werden, zumindest aber daß der Stand der Erledigung geprüft wird. Wäre diese Kontrollmaßnahme am 11. September 1991 erfolgt, hätte die Versäumung der Frist vermieden werden können. Da jedoch ein Rechtsanwalt grundsätzlich darauf vertrauen darf, daß der einem Kanzleiangestellten für einen bestimmten Tag angeordnete, bloß manipulative Vorgang der Postaufgabe eines Schriftstückes tatsächlich erfolgt ist, ohne daß es nach der Rechtsprechung zunächst einer weiteren Kontrolle bedürfte, beurteilt der Gerichtshof dieses Versäumnis aber im gegebenen Zusammenhang als ein Versehen minderen Grades, das auch einem sorgfältigen Anwalt in einer außergewöhnlichen Situation einmal unterlaufen kann.

Dem Wiedereinsetzungsantrag war somit stattzugeben.

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