Normen
AVG §39a;
AVG §63 Abs4;
AVG §71 Abs1 lita;
B-VG Art8;
VwGG §46 Abs1;
VwRallg;
AVG §39a;
AVG §63 Abs4;
AVG §71 Abs1 lita;
B-VG Art8;
VwGG §46 Abs1;
VwRallg;
Spruch:
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 10.470,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Das Kostenmehrbehren wird abgewiesen.
Begründung
Mit Bescheid vom 14. Februar 1984 stellte die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien fest, daß der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger, nicht Flüchtling sei. Dieser Bescheid wurde dem sich zu diesem Zeitpunkt in Schubhaft befindlichen Beschwerdeführer am selben Tag in einem Raum der Überprüfungsstation der Bundespolizeidirektion Wien persönlich ausgefolgt. Die in den Verwaltungsakten enthaltene Ausfertigung dieses Bescheides weist den mit der Unterschrift des Beschwerdeführers versehenen handschriftlichen Vermerk "Ich verzichte auf Berufung" auf.
Mit Eingabe vom 4. April 1984 stellte der Beschwerdeführer bei der genannten Behörde gemäß § 71 AVG 1950 den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist gegen den angeführten Bescheid. Zur Begründung führte der Beschwerdeführer aus, obwohl er kaum Deutsch verstehe oder gar spreche, sei bei der Ausfolgung des Bescheides an ihn kein Dolmetscher anwesend gewesen. Der Beschwerdeführer sei auch in keiner Weise auf die Bedeutung des Bescheides aufmerksam gemacht worden. Vielmehr sei ihm nicht einmal hinreichend Zeit zum Lesen und Verstehen der Vorderseite des Bescheides gewährt worden. Bei der Übergabe des Bescheides seien etwa fünf Beamte anwesend gewesen, die allesamt den Beschwerdeführer aufgefordert hätten "den Bescheid zu unterfertigen", da er sonst noch längere Zeit in Haft zubringen müßte. Dem Beschwerdeführer sei von einem Beamten ein Zettel mit dem für den Beschwerdeführer nicht verständlichen angeführten Text des Berufungsverzichtes mit der Aufforderung zugeschoben worden, diesen Text unter den Bescheid zu setzen. Nach seiner Enthaftung am 29. März 1984 sei der Beschwerdeführer im Zuge einer Vorsprache bei seinem Rechtsvertreter am 3. April 1984 von diesem über die Rechtswirkung des Rechtsmittelverzichtes informiert worden. Die Schubhaft und die unterlassene Aufklärung über die Bedeutung des vom Beschwerdeführer unterfertigten Schriftstückes stelle für ihn ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis im Sinne des § 71 Abs. 1 lit. a AVG 1950 dar. Die Unterlassung der Beiziehung eines Dolmetschers verstoße darüber hinaus auch gegen § 39 a AVG 1950 und gegen Art. 5 MRK. Gleichzeitig erhob der Beschwerdeführer Berufung gegen den angeführten Bescheid vom 14. Februar 1984.
Mit Bescheid vom 12. April 1984 wies die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien den Antrag des Beschwerdeführers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ab. Zur Begründung führte die Behörde aus, nach dem Eindruck der bei der Bescheidausfolgung anwesend gewesenen Beamten hätten die Deutschkenntnisse des Beschwerdeführers ausgereicht, um den Bescheidinhalt zu verstehen. Aus diesem Grund sei auch kein Dolmetscher beigezogen worden. Es entspreche wohl den Tatsachen, daß dem Beschwerdeführer ein Zettel mit dem Wortlaut des Berufungsverzichtes vorgelegt worden sei, dies sei aber deswegen erfolgt, weil der Beschwerdeführer gefragt habe, wie er den Berufungsverzicht formulieren solle. Es sei auch richtig, daß einer der Beamten dem Beschwerdeführer gesagt habe, der Beschwerdeführer könne durch die Abgabe eines Berufungsverzichtes die Dauer seiner Schubhaft verkürzen.
In der gegen diesen Bescheid erhobenen Berufung machte der Beschwerdeführer über sein bisheriges Vorbringen hinaus im wesentlichen geltend, das Gebot, einen Dolmetscher beizuziehen, könne nicht durch den Eindruck von Beamten über die Deutschkenntnisse des Beschwerdeführers umgangen werden, wobei eine "spezifische Ausbildung der Beamten in dieser Hinsicht" nicht erkennbar sei. Es sei vielmehr jederzeit nachweisbar, daß der Beschwerdeführer nicht genügend Deutsch verstehen und lesen könne, um den Inhalt der ihm abgeforderten Erklärung und des Bescheides zu verstehen. Der Beschwerdeführer habe auf Grund des Hinweises auf die Verkürzung der Schubhaft den Eindruck gewinnen müssen, er solle mit der von ihm unterfertigten Erklärung sein Einverständnis mit seiner Enthaftung zum Ausdruck bringen.
Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid gab die belangte Behörde der Berufung gegen den erstinstanzlichen Bescheid gemäß § 71 Abs. 1 lit. a in Verbindung mit § 66 Abs. 4 AVG 1950 keine Folge. In der Begründung des Bescheides vertrat die belangte Behörde die Ansicht, es sei dem Beschwerdeführer, der sich bereits seit 1983 im Bundesgebiet aufgehalten habe, zuzumuten gewesen, sich über die "Rechtssituation" in Asylfragen zu informieren. Die bloße Unkenntnis von Gesetzen sei einer in Österreich lebenden Partei als Verschulden anzurechnen. Die Behauptung des Beschwerdeführers, bei der Abgabe des Verzichtes auf Berufung getäuscht worden zu sein, sei von der Staatsanwaltschaft überprüft worden und habe sich als haltlos herausgestellt. Dies stelle die persönliche "Glaubwürdigung" des Beschwerdeführers insgesamt in Frage. Es sei "merkwürdig", daß der Beschwerdeführer nach seiner Enthaftung sofort "den Weg zu einem prominenten Asylanwalt gefunden habe" und diesen über die Abgabe des Berufungsverzichtes informiert habe. "Insofern" fehlten auch glaubhafte Angaben darüber, wann der Beschwerdeführer erstmals davon Kenntnis erlangt habe, sich bei der Abgabe der Verzichtserklärung getäuscht zu haben. An anderer Stelle habe der Beschwerdeführer auch angegeben, es sei ihm ausdrücklich mitgeteilt worden, daß es sich um einen Berufungsverzicht handle. Die in erster Instanz tätigen Beamten seien auf Grund ihrer langjährigen Erfahrung in der Lage zu beurteilen, ob die Deutschkenntnisse eines Asylwerbers für bestimmte Verfahrenshandlungen ausreichten. Im übrigen komme es bei der Abgabe einer Verzichtserklärung als Prozeßhandlung nur auf die Willenserklärung selbst und nicht auf den "wahren Willen" an.
Der Verfassungsgerichtshof lehnte mit Beschluß vom 13. Oktober 1989, B 1900/88-12, die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde ab und trat sie zur Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof ab. In der im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzten Beschwerde macht der Beschwerdeführer Rechtswidrigkeit des Bescheidinhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend. Der Beschwerdeführer erachtet sich in seinen Rechten auf Durchführung eines Asylverfahrens und auf Aufenthalt im Bundesgebiet verletzt.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Gemäß § 39 a AVG 1950 ist, wenn eine Partei oder eine zu vernehmende Person der deutschen Sprache nicht hinreichend kundig ist, erforderlichenfalls der der Behörde beigegebene oder zur Verfügung stehende Dolmetscher beizuziehen.
Gemäß § 63 Abs. 4 AVG 1950 ist eine Berufung nicht mehr zulässig, wenn die Partei nach Zustellung oder Verkündung des Bescheides ausdrücklich auf die Berufung verzichtet hat.
Gemäß § 71 Abs. 1 lit. a AVG 1950 in der im Beschwerdefall anzuwendenden Fassung vor der Novelle 1990, BGBl. Nr. 356 bis 359, ist gegen die Versäumung einer Frist oder einer mündlichen Verhandlung auf Antrag der Partei, die durch die Versäumung einen Rechtsnachteil erleidet, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen, wenn die Partei glaubhaft macht, daß sie durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis ohne ihr Verschulden verhindert war, die Frist einzuhalten oder zur Verhandlung zu erscheinen.
Gemäß Abs. 2 dieses Paragraphen muß der Antrag auf Wiedereinsetzung binnen einer Woche nach Aufhören des Hindernisses oder nach dem Zeitpunkt, in dem die Partei von der Zulässigkeit der Berufung Kenntnis erlangt hat, gestellt werden.
Im Beschwerdefall ist zunächst von Bedeutung, daß die Muttersprache des aus der Türkei stammenden Beschwerdeführers nicht Deutsch ist. Die belangte Behörde hat die Auffassung vertreten, daß die in erster Instanz einschreitenden Beamten hinreichend hätten beurteilen können, ob der Beschwerdeführer über ausreichende Deutschkenntnisse verfüge oder nicht. Demgegenüber hat der Beschwerdeführer im Verwaltungsverfahren betont, infolge unzureichender Kenntnisse der deutschen Sprache nicht in der Lage gewesen zu sein, den Inhalt des ihm am 14. Februar 1984 ausgefolgten Bescheides und auch des von ihm von einer Vorlage abgschriebenen und unterfertigten Verzichtes auf Berufung zu verstehen. Daß der Darstellung des Beschwerdeführers über seine Deutschkenntnisse nicht ohne weiteres Glaubwürdigkeit abgesprochen werden kann, ergibt sich insbesondere aus einem Vermerk der Bundespolizeidirektion Wien auf einer in den Verwaltungsakten enthaltenen Niederschrift vom 31. Jänner 1984 über einen "neuerlichen Antrag" des Beschwerdeführers auf Asylgewährung, demzufolge der Beschwerdeführer nicht Deutsch spreche. Es ist auch durchaus unwahrscheinlich, daß der Beschwerdeführer sich im Verlaufe der unmittelbar nach Abfassung dieser Niederschrift über ihn verhängten Schubhaft solche Kenntnisse der deutschen Sprache angeeignet hätte, die es ihm erlaubt hätten, ohne Zuhilfenahme eines Dolmetschers den Inhalt des ihm am 14. Februar 1984 ausgehändigten Bescheides bzw. des abgegebenen Verzichtes auf Berufung zu verstehen. Die belangte Behörde konnte daher nicht ohne weiteres und lediglich im Vertrauen auf die Fähigkeit der in erster Instanz tätigen Beamten, die Deutschkenntnisse von Asylwerbern zu beurteilen, davon ausgehen, daß der Beschwerdeführer im Zeitpunkt der Aushändigung des seinen Asylantrag abweisenden Bescheides über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt habe. Dies umso weniger, als selbst bei einem Fremden, dessen Muttersprache nicht Deutsch ist und der sich im normalen Leben hinreichend verständigen kann, der Schluß noch nicht zulässig ist, er sei auch in der Lage, ihm gegenüber mündlich gebrauchte verfahrensrechtliche Ausdrücke, wie z.B. "Rechtsmittelverzicht", zu verstehen und die Auswirkungen insbesondere eines Rechtsmittelsverzichtes auf seine künftige prozeßrechtliche Situation zu begreifen (vgl. hg. Erkenntnis vom 11. Jänner 1989, Zl. 88/01/0188).
Im Beschwerdefall hängt das Vorliegen des behaupteten Wiedereinsetzungsgrundes davon ab, ob und inwieweit der Beschwerdeführer am 14. Februar 1984 in der Lage war, ohne Beiziehung eines Dolmetschers das Geschehen der ihn betreffenden Amtshandlungen und auch den Inhalt des ihm ausgefolgten Bescheides zu verstehen sowie insbesondere den Sinn und die Folgen eines Verzichtes aus Berufung zu begreifen. Eingehende Ermittlungen in dieser Hinsicht - so insbesondere etwa die Konfrontierung der die Deutschkenntnisse des Beschwerdeführers als ausreichend beurteilenden Beamten mit dem zwei Wochen vor dieser Beurteilung gesetzten Vermerk, daß der Beschwerdeführer nicht Deutsch spreche - wären umso eher erforderlich gewesen, als gemäß der hg. Judikatur das Vorliegen eines Berufungsverzichtes besonders streng zu prüfen ist (vgl. hg. Erkenntnisse vom 16. April 1980, Zl. 324/80, vom 10. Februar 1982, Zl. 3336/79, und vom 11. Jänner 1989, Zl. 88/01/0188). Auch ist entgegen der Ansicht der belangten Behörde ein anläßlich der Unterzeichnung eines Berufungsverzichtes vorliegender Willensmangel, wenn er tatsächlich bestanden hat, zu Gunsten des Beschwerdeführers zu deuten (vgl. hg. Erkenntnisse vom 16. April 1980, Zl. 324/80, vom 18. September 1981, Zl. 81/01/0058, sowie das oben letztangeführte Erkenntnis).
Da bei Zutreffen der Behauptungen des Beschwerdeführers dieser durch ein unabwendbares Ereignis - als Ereignis ist jenes Geschehen, daher auch psychologische Vorgänge wie Vergessen, Verschreiben, sich Irren usw anzusehen (vgl. hg. Erkenntnis vom 25. März 1976, Slg. N.F. Nr. 9024/A) - ohne sein Verschulden - ihm war infolge der aufrechten Schubhaft die Möglichkeit genommen, von sich aus einen Dolmetscher zu konsultieren - gehindert gewesen wäre, rechtzeitig Berufung gegen den Bescheid vom 14. Februar 1984 zu erheben, hätte die belangte Behörde bei Vermeidung der in der Unterlassung ausreichender Ermittlungen gelegenen Verfahrensmängel zu einem anderen Bescheid kommen können. Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung vom 17. April 1989, BGBl. Nr. 206, über die Pauschalierung der Aufwandersätze im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof. Das Mehrbegehren war abzuweisen, weil im Fall der Abtretung einer Beschwerde gemäß Art. 144 Abs. 3 B-VG dem im verwaltungsgerichtlichen Verfahren obsiegenden Beschwerdeführer kein Ersatz von Stempelgebühren zusteht, die er im vorangegangenen Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof entrichten mußte.
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