VfGH B218/05

VfGHB218/0517.3.2006

Verletzung im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wegen verfassungswidriger Gesetzesauslegung des Abgabenverwaltungsorganisationsgesetzes iVm der Verordnung zur Einrichtung der Steuer- und Zollkoordination; Bescheiderlassung als eigene Organisationseinheit "Steuer- und Zollkoordination Region West" für den Finanzminister

Normen

B-VG Art77
B-VG Art83 Abs2
AVOG (AbgabenverwaltungsorganisationsG) §2
Verordnung des Bundesministers für Finanzen zur Einrichtung der Steuer- und Zollkoordination, BGBl II 168/2004
B-VG Art77
B-VG Art83 Abs2
AVOG (AbgabenverwaltungsorganisationsG) §2
Verordnung des Bundesministers für Finanzen zur Einrichtung der Steuer- und Zollkoordination, BGBl II 168/2004

 

Spruch:

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Finanzen) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zu Handen seines Rechtsvertreters die mit € 2.340,-- bestimmten Kosten des Verfahrens binnen vierzehn Tagen bei sonstigem Zwang zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Der Beschwerdeführer steht in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis zum Bund. Er wurde bis zur Auflösung des Wachkörpers der Zollwache, die mit 1. Mai 2004 erfolgte, als Chefinspizierender der Zollwache für Tirol verwendet.

Auf Grund eines per E-Mail eingebrachten, "[a]n die Personalabteilung West" gerichteten Antrages des Beschwerdeführers vom 8. Juli 2004 auf "Erlassung eines Feststellungsbescheides hinsichtlich aller mit 1. Mai 2004 wegfallenden Nebengebühren bzw. Zulagen" wurde mit Bescheid vom 7. Jänner 2005 festgestellt, dass dem Beschwerdeführer

"ab dem 1. Mai 2004 die Wachdienstzulage gemäß §81 Gehaltsgesetz 1956 (GG 1956) ..., die Vergütung für besondere Gefährdung gemäß §82 GG 1956 (Gefahrenzulage), die Vergütung für Beamte des Exekutivdienstes gemäß §83 GG 1956 (Erschwerniszulage) und die Entschädigung nach §1 der Pauschalierungsverordnung für Aufwandsentschädigung (BMF) ... nicht mehr gebühren."

Die genannte Erledigung weist sowohl in der Urschrift als auch in der dem Beschwerdeführer zugestellten Ausfertigung in der "Kopfzeile" die (Dienstellen-)Bezeichnung: "Bundesministerium für Finanzen" sowie "Steuer- und Zollkoordination Region West, Personalabteilung" auf; als Anschrift dieser Dienststelle wird "Innrain 32, 6020 Innsbruck" angegeben. Die Fertigungsklausel lautet:

"Für den Bundesminister: Mag. F K".

2. Gegen den genannten Bescheid wendet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, mit der die Verletzung in näher genannten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten sowie die Verletzung in Rechten wegen Anwendung von näher genannten - behauptetermaßen - verfassungswidrigen gesetzlichen Bestimmungen geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung des bekämpften Bescheides begehrt wird.

3. Der Bundesminister für Finanzen legte die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der er den Ausführungen des Beschwerdeführers entgegentritt und die Abweisung der Beschwerde begehrt.

II. 1. Aus Anlass dieser Beschwerde beschloss der Verfassungsgerichtshof am 24. Juni 2005, gemäß Art140 Abs1 B-VG die Verfassungsmäßigkeit des §2 Abgabenverwaltungsorganisationsgesetz - AVOG, BGBl. 1975/18, idF BGBl. I 2004/72 und gemäß Art139 Abs1 B-VG die Gesetzmäßigkeit der Verordnung des Bundesministers für Finanzen zur Einrichtung der Steuer- und Zollkoordination, BGBl. II 2004/168, von Amts wegen zu prüfen.

2. Mit Erkenntnis vom 3. März 2006, G105/05 ua., sprach der Verfassungsgerichtshof aus, dass die in Prüfung gezogenen Bestimmungen nicht als verfassungs- bzw. gesetzwidrig aufgehoben werden.

In der Begründung dieses Erkenntnisses führt der Verfassungsgerichtshof ua. Folgendes aus:

"Der Verfassungsgerichtshof ist auf Grund der nachstehenden Überlegungen der Auffassung, dass §2 AVOG im Hinblick auf Art5 Abs1 B-VG verfassungsrechtlich unbedenklich ist.

Gemäß Art5 Abs1 B-VG ist der Sitz der obersten Organe des Bundes, zu denen insbesondere die Bundesminister zählen (vgl. va. Art19 Abs1 und 69 Abs1 B-VG), die Bundeshauptstadt Wien. Damit wird der Ort der Einrichtung des obersten Organes und nicht etwa der Ort des Tätigwerdens des jeweiligen Amtsträgers geregelt. In Verbindung mit Art77 B-VG, dem zu Folge die Bundesministerien als die (bundesverfassungsgesetzlich einzig zulässigen) Hilfsorgane der Bundesminister vorgesehen sind, ist aus dieser Regelung des Art5 Abs1 B-VG weiters abzuleiten, dass auch die Bundesministerien in Wien einzurichten sind: Die Bundesministerien sind Dienststellen der (Bundes-)Verwaltung. Eine Dienststelle ist "eine planmäßige, rechtlich geregelte, von einer physischen Person unabhängige Stelle, eine organisatorische Einheit der Verwaltung, die zur Durchführung bestimmter öffentlicher Aufgaben berufen ist" (Antoniolli/Koja, Allgemeines Verwaltungsrecht3 332). Für eine solche Dienststelle, die als Hilfsorgan des jeweiligen Bundesministers, also eines individuellen (obersten) Verwaltungsorganes fungiert, bedeutet die aus Art5 Abs1 iVm. Art77 B-VG folgende Anordnung daher, dass auch diese dem obersten Organ zugeordnete Dienststelle der Bundesverwaltung in Wien, also auf dem Territorium der Bundeshauptstadt Wien, einzurichten ist. Ausgehend davon ist eine Dekonzentration eines Bundesministeriums der Art, dass einzelne seiner Organisationseinheiten außerhalb des Gebietes der Bundeshauptstadt Wien eingerichtet werden, mit Art5 Abs1 B-VG unvereinbar.

Auch unter Zugrundelegung dieses Verständnisses des Art5 Abs1 B-VG ist §2 AVOG aber einer verfassungskonformen Auslegung zugänglich:

Voraus geschickt wird, dass - wie sich vor allem aus dem mit dem Bundesgesetz BGBl. I 2004/72 angefügten zweiten Satz des §2 AVOG ... ergibt - die Steuer- und Zollkoordination Teil (eine Organisationseinheit) des Bundesministeriums für Finanzen ist; sie ist also weder eine diesem Bundesministerium (im Hinblick auf Art77 Abs1 unzulässige, vgl. etwa VfSlg. 4117/1961) 'nebengeordnete' Dienststelle, noch ein (im Hinblick auf Art77 Abs1 zulässiges) dem Bundesminister für Finanzen bzw. dem von ihm geleiteten Bundesministerium 'unterstelltes Amt'.

Dem gemäß stellt §2 AVOG also eine Regelung der inneren

Organisation des Bundesministeriums für Finanzen dar. Vom Wortlaut

des §2 AVOG ausgehend - aus den Materialien und insbesondere iVm. §11

Abs1 Z7 Bundes-PersonalvertretungsG ... mag sich anderes ergeben -

ermächtigt diese Bestimmung weiters nicht dazu, die dort vorgesehenen

Organisationseinheiten dieses Bundesministeriums außerhalb des

Territoriums der Bundeshauptstadt Wien einzurichten; auch die in §2

AVOG verwendete Formulierung: '... besondere Organisationseinheiten

... mit regionalem Wirkungsbereich' ist nämlich in

verfassungskonformer Auslegung dahingehend zu verstehen, dass es sich dabei um Organisationseinheiten des Bundesministeriums für Finanzen handelt, die in Wien eingerichtet sind, deren Wirkungsbereich sich jedoch auf regional abgegrenzte Teile des Bundesgebietes erstreckt.

Auf dem Boden dieser Überlegungen bestehen folglich gegen §2 AVOG unter dem Aspekt des Art5 B-VG keine verfassungsrechtlichen Bedenken. §2 AVOG ist daher nicht als verfassungswidrig aufzuheben.

... Was nun die in Prüfung gezogene bzw. vom Verwaltungsgerichtshof angefochtene Verordnung BGBl. II 2004/168 anlangt, so ergibt sich - erneut vor dem Hintergrund dieser verfassungskonformen Deutung des §2 AVOG - Folgendes:

Auch der Wortlaut dieser Verordnung lässt eine verfassungs- und gesetzeskonforme Auslegung dahingehend zu, dass damit nicht die Einrichtung von (besonderen) Organisationseinheiten des Bundesministeriums für Finanzen außerhalb Wiens normiert wird. Bei diesem Verständnis hätte die in Rede stehende Verordnung ausschließlich die innere Organisation des Bundesministeriums für Finanzen zum Gegenstand. Dies führt zu der Frage, ob es sich bei dieser Regelung überhaupt um einen tauglichen Gegenstand eines verfassungsgerichtlichen Verordnungsprüfungsverfahrens handelt (vgl. dazu etwa §7 BundesministerienG, dem zu Folge die Geschäftseinteilung eines Bundesministeriums keine außenwirksame Norm darstellt). Der Verfassungsgerichtshof kann die Frage dahingestellt lassen, weil die in Rede stehende Verordnung nicht bloß auf §2 AVOG, sondern auch auf dessen §17a gestützt ist. Im Hinblick darauf ist mit dieser Verordnung aber (auch) eine - übergangsweise - Zuständigkeitsregelung iSd. §17a Abs1 AVOG dahingehend getroffen worden, dass die bisher von den Finanzlandesdirektionen besorgten Aufgaben nunmehr insoweit von näher definierten Zollämtern oder Finanzämtern wahrzunehmen sind, als diese Aufgaben nicht gemäß der in Rede stehenden Verordnung der Steuer- und Zollkoordination des Bundesministeriums für Finanzen bzw. diesem Bundesministerium gemäß §17a Abs2 AVOG zukommen. Im Hinblick darauf hat die in Rede stehende Verordnung aber jedenfalls normative Bedeutung. Sie ist somit als eine Verordnung iSd. Art139 B-VG zu qualifizieren. Das Verordnungsprüfungsverfahren ist daher zulässig.

Angesichts der einleitenden Ausführungen zu diesem Punkt bestehen aber die im Prüfungsbeschluss hinsichtlich der in Rede stehenden Verordnung geäußerten Bedenken nicht zu Recht.

Auch die Verordnung BGBl. II 2004/168 ist daher nicht als gesetzwidrig aufzuheben."

Der bekämpfte Bescheid wurde (s. dazu oben Pkt. I.1.) "Für den Bundesminister [für Finanzen]" von der in Innsbruck eingerichteten Organisationseinheit "Steuer- und Zollkoordination Region West" des Bundesministeriums für Finanzen erlassen. Daraus ergibt sich, dass sich der Bundesminister für Finanzen bei Erlassung des bekämpften Bescheides insoferne auch auf §2 AVOG stützte, als er sich durch diese Bestimmung ermächtigt sah, den Bescheid durch eine außerhalb der Bundeshauptstadt Wien eingerichtete Organisationseinheit des Bundesministeriums für Finanzen zu erlassen. Damit hat er aber - was auch die Bundesregierung in ihrer, im oben genannten Gesetzesprüfungsverfahren erstatteten Stellungnahme einräumt - dem §2 AVOG einen der oben wiedergegebenen verfassungsrechtlich gebotenen Auslegung dieser gesetzlichen Bestimmung widersprechenden, also verfassungswidrigen, Inhalt unterstellt.

Der Verfassungsgerichtshof versteht in seiner ständigen Rechtsprechung das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter in einem umfassenden, auf den Schutz und die Wahrung der gesetzlich begründeten Behördenzuständigkeiten gerichteten Sinn (vgl. etwa VfSlg. 14.390/1995 mwH.). In diesem umfassenden Sinn wird aber das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter auch durch den Bescheid eines Bundesministers verletzt, der sich bei der Erlassung dieses Bescheides als Geschäftsapparat einer Organisationseinheit des ihm gemäß Art77 Abs3 B-VG unterstellten Bundesministeriums bedient, die im Widerspruch zu Art5 Abs1 iVm. Art77 Abs1 B-VG außerhalb der Bundeshauptstadt Wien eingerichtet ist.

Im Hinblick darauf wurde der Beschwerdeführer durch den bekämpften Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt.

Der Bescheid war daher aufzuheben, auch wenn sich die vom Beschwerdeführer behauptete Verletzung in den von ihm genannten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten sowie in Rechten wegen Anwendung näher bezeichneter genereller Normen nicht als zutreffend erwies.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. Der zugesprochene Betrag enthält Umsatzsteuer in Höhe von EUR 360,-- sowie den Ersatz der entrichteten Eingabengebühr (§17a VfGG) in Höhe von EUR 180,--.

4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.

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