VfGH G7/99

VfGHG7/9910.6.1999

Aufhebung einer Bestimmung des AlVG betreffend den ausnahmslosen Ausschluß der aufschiebenden Wirkung von Berufungen in Angelegenheiten des Arbeitslosengeldes wegen Verstoß gegen das rechtsstaatliche Prinzip

Normen

B-VG Art18 Abs1
AlVG §56 Abs2
B-VG Art18 Abs1
AlVG §56 Abs2

 

Spruch:

§56 Abs2 des Arbeitslosenversicherungsgesetzes 1977 (AlVG), BGBl. Nr. 609, idF des Arbeitsmarktservice-Begleitgesetzes, BGBl. Nr. 314/1994, wird als verfassungswidrig aufgehoben.

Die Aufhebung tritt mit Ablauf des 30. Juni 2000 in Kraft.

Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit.

Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Bundesgesetzblatt verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. §56 AlVG regelt die Berufung im sogenannten Leistungsverfahren der Arbeitslosenversicherung. Er lautet idF BGBl. 314/1994 wie folgt:

"Rechtsmittel

§56. (1) Gegen Bescheide der regionalen Geschäftsstelle in Angelegenheiten des Arbeitslosengeldes ist die Berufung an die Landesgeschäftsstelle zulässig. Gegen die Entscheidung der Landesgeschäftsstelle ist keine weitere Berufung zulässig.

(2) Die Berufung gemäß Abs1 hat keine aufschiebende Wirkung.

(3) Die Landesgeschäftsstelle trifft die Entscheidung in einem Ausschuß des Landesdirektoriums.

(4) ..."

Mit Beschluß vom 5. Dezember 1998 leitete der Verfassungsgerichtshof aus Anlaß einer zu B622/98 bei ihm anhängigen Beschwerde gegen einen Bescheid der Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Wien, mit dem einem Antrag des Beschwerdeführers, seiner Berufung gegen die vorübergehende Aberkennung der Notstandshilfe (wegen Nichteinhaltung eines Kontrolltermines) aufschiebende Wirkung zu gewähren, unter Hinweis auf §56 Abs2 AlVG keine Folge gegeben wurde, von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit dieser Bestimmung ein.

Der Verfassungsgerichtshof ging vorläufig davon aus, daß die Beschwerde zulässig ist und er bei ihrer Erledigung §56 Abs2 AlVG anzuwenden hätte. Er hegte das Bedenken, daß der durch §56 Abs2 AlVG bewirkte generelle Ausschluß der aufschiebenden Wirkung von Berufungen dem Rechtsstaatsprinzip widerspricht.

Die Bundesregierung hat von einer meritorischen Äußerung abgesehen, beantragt jedoch mit näherer Begründung, für den Fall der Aufhebung eine Frist für das Außerkrafttreten von 18 Monaten gemäß Art140 Abs5 B-VG zu bestimmen. Diesem Begehren trat der Beschwerdeführer des Anlaßverfahrens in einer Replik entgegen.

II. Das Verfahren ist zulässig und die Bedenken treffen zu.

Es ist nichts hervorgekommen, was an der Zulässigkeit der Beschwerde oder an der Präjudizialität der in Prüfung genommenen Bestimmung zweifeln ließe.

Der Verfassungsgerichtshof hält an seiner mit VfSlg. 11196/1986 begonnenen (und etwa mit VfSlg. 12683/1991, 13003/1992, 13305/1992, 14374/1995 und 14671/1996 fortgeführten) Rechtsprechung fest, wonach es unter dem Aspekt des rechtsstaatlichen Prinzips nicht angeht, den Rechtsschutzsuchenden generell einseitig mit allen Folgen einer potentiell rechtswidrigen behördlichen Entscheidung so lange zu belasten, bis sein Rechtsschutzgesuch endgültig erledigt ist. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang allerdings nicht nur dessen Position, sondern auch der Zweck und Inhalt der Regelung, ferner die Interessen Dritter sowie schließlich das öffentliche Interesse. Der Gesetzgeber hat unter diesen Gegebenheiten einen Ausgleich zu schaffen, wobei aber dem Grundsatz der faktischen Effizienz eines Rechtsbehelfs der Vorrang zukommt und dessen Einschränkung nur aus sachlich gebotenen triftigen Gründen zulässig ist.

Selbst wenn im Bereich des Leistungsverfahrens der Arbeitslosenversicherung die von Verfassungs wegen gebotene Abwägung der Interessen besonders schwierig und der Gesetzgeber gehalten sein mag, der Behörde genauere Maßstäbe an die Hand zu geben als sonst, verbietet sich auch hier ein genereller Ausschluß der Gewährung einer aufschiebenden Wirkung. Gewiß gibt es - worauf die Bundesregierung in ihrem Fristsetzungsantrag auch hinweist - gerade in diesem Bereich eine Vielfalt von Fallkonstellationen: Einer aufschiebenden Wirkung sind nämlich nicht nur Rechtsmittel gegen Bescheide zugänglich, die eine gewährte oder zuerkannte Leistung einstellen, kürzen oder widerrufen oder die Verpflichtung zum Rückersatz zu Unrecht empfangener Leistungen aussprechen. Wie die Aufschiebungspraxis des Verfassungsgerichtshofes zeigt (zB VfGH 13.10.1998, B1241/98-16), kommt auch die Abweisung von Anträgen auf Gewährung von Leistungen in Betracht, soweit nämlich Bindungswirkungen in anderen Zusammenhängen wie zB im Ausländerbeschäftigungs- oder im Aufenthaltsrecht eintreten. In diesem eingeschränkten Sinn sind schließlich auch Bescheide in jenen Fällen der Aufschiebung ihrer Wirkung fähig, in denen nach formloser Einstellung der Leistung erst nachträglich durch Bescheid über deren Rechtmäßigkeit abgesprochen oder der Leistungswerber auf die Möglichkeit verwiesen wird, darüber einen Bescheid zu erwirken. Daneben gibt es freilich auch Entscheidungen, die ihrer Natur nach einer aufschiebenden Wirkung nicht zugänglich sind (wie etwa die Verweigerung der Streckung von Kontrollterminen).

Unterschiedliche Interessenlagen können daher insbesondere im Arbeitslosenversicherungsrecht in Ansehung der Voraussetzungen für die Gewährung einer aufschiebenden Wirkung auch unterschiedliche Regelungen (wie etwa bei der Aberkennung von Leistungen) rechtfertigen. Da aber ein ausnahmsloser Ausschluß der aufschiebenden Wirkung einer Berufung gegen Bescheide in Leistungssachen ohne Eröffnung einer anderen Möglichkeit zur Gewährung des erforderlichen Rechtsschutzes mit dem der Bundesverfassung immanenten rechtsstaatlichen Prinzip, namentlich mit dem Rechtsschutzsystem, nicht vereinbart werden kann, ist §56 Abs2 AlVG als verfassungswidrig aufzuheben.

Die Verpflichtung zur Kundmachung der Aufhebung sowie die (im Hinblick auf die mögliche Unzulänglichkeit des sonst eingreifenden §64 AVG zweckmäßige) Fristsetzung für das Außerkrafttreten der aufgehobenen Bestimmung stützen sich auf Art140 Abs5, der Ausschluß des Wiederinkrafttretens früherer Bestimmungen auf Art140 Abs6 B-VG.

Eine mündliche Verhandlung war entbehrlich (§19 Abs4 Z2 VerfGG).

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