VfGH V60/91

VfGHV60/9116.10.1991

Feststellung der Verfassungswidrigkeit des Verbotes der Verwendung einer weiteren Berufsbezeichnung eines Rechtsanwaltes gemäß §9 RL-BA 1977; kein zulässiger Eingriff in die Freiheit der Meinungsäußerung

Normen

EMRK Art10 Abs1
EMRK Art10 Abs2
DSt 1872 §2
RL-BA 1977 §9 letzter Halbsatz
RAO §10 Abs2
EMRK Art10 Abs1
EMRK Art10 Abs2
DSt 1872 §2
RL-BA 1977 §9 letzter Halbsatz
RAO §10 Abs2

 

Spruch:

Die Wortfolge "; die Verwendung einer weiteren Berufsbezeichnung ist unzulässig" in §9 der Richtlinien für die Ausübung des Rechtsanwaltsberufes, für die Überwachung der Pflichten des Rechtsanwaltes und für die Ausbildung der Rechtsanwaltsanwärter (RL-BA 1977), beschlossen vom Österreichischen Rechtsanwaltskammertag (Vertreterversammlung) am 8. Oktober 1977 (kundgemacht im Amtsblatt zur Wiener Zeitung vom 14. Dezember 1977 und im AnwBl. 1977, S. 476), war gesetzwidrig.

Der Bundesminister für Justiz ist zur unverzüglichen Kundmachung dieses Ausspruches im Bundesgesetzblatt verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1. Beim Verfassungsgerichtshof ist zu B144/90 eine auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde anhängig, die sich gegen den im Instanzenzug ergangenen Bescheid der Obersten Berufungs- und Disziplinarkommission für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter (OBDK) vom 20. November 1989, Z Bkd 27/89-10, richtet und in der die Verletzung in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten sowie in Rechten wegen Anwendung einer gesetzwidrigen Verordnung, nämlich des §9 der Richtlinien für die Ausübung des Rechtsanwaltsberufes, für die Überwachung der Pflichten des Rechtsanwaltes und für die Ausbildung der Rechtsanwaltsanwärter (RL-BA 1977) idF des Beschlusses des Österreichischen Rechtsanwaltskammertages vom 8. Oktober 1977, geltend gemacht wird.

Mit diesem Bescheid wurde über den Beschwerdeführer - er ist Rechtsanwalt sowie staatlich beeideter und befugter Zivilingenieur für Elektrotechnik - wegen Verstoßes gegen §9 RL-BA 1977 eine Disziplinarstrafe gemäß §12 Abs1 lita des Disziplinarstatutes für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter 1872 (DSt 1872) verhängt, weil er "Brief- und Eingabepapier (verwendet hat), die außer seinen beiden akademischen Graden zwei Berufsbezeichnungen, nämlich 'Rechtsanwalt' und 'Staatlich beeideter und befugter Zivilingenieur für Elektrotechnik' mit dazugehörigem Signum 'ZT' und dem Bundessiegel, aufwiesen".

2. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und in ihrer Gegenschrift die Abweisung der Beschwerde beantragt.

3. Der Verfassungsgerichtshof hat in dem zu B144/90 anhängigen Verfahren beschlossen, gemäß Art139 Abs1 B-VG die Gesetzmäßigkeit der Wortfolge "; die Verwendung einer weiteren Berufsbezeichnung ist unzulässig" in §9 RL-BA 1977 von Amts wegen zu prüfen.

Begründet hat der Verfassungsgerichtshof seinen Prüfungsbeschluß im wesentlichen wie folgt:

"Das Recht auf freie Meinungsäußerung besteht nach Art10 MRK darin, Informationen und Ideen anderen ohne Behinderung durch Behörden mitzuteilen. Der Verfassungsgerichtshof geht - mit Frowein (in: Frowein/Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 226) - davon aus, daß durch die Konventionsbestimmung sowohl reine Meinungskundgaben als auch Tatsachenäußerungen geschützt sind. Bei der Anführung einer Berufsbezeichnung dürfte es sich um eine Tatsachenmitteilung handeln, die vom Schutzumfang des Art10 MRK umfaßt ist. Ein Verbot, eine Berufsausübungsberechtigung mitzuteilen, wie es von der in Prüfung gezogenen Standesrichtlinie festgelegt wird, könnte daher, wie der Verfassungsgerichtshof vorläufig annimmt, in §2 DSt nur gedeckt sein, wenn es sich nach Art10 Abs2 MRK rechtfertigen ließe. Keiner der dort angeführten Tatbestände scheint jedoch die Erlassung des in Rede stehenden Verbotes zu erlauben.

Dies dürfte auch dann zutreffen, wenn man davon ausginge, daß Rechtsanwälten in Ausübung dieses Berufes die Verwendung einer weiteren Berufsbezeichnung aus Gründen eines Werbeverbotes untersagt ist. Wie der Verfassungsgerichtshof nämlich bereits in VfSlg. 10948/1986 und zuletzt mit Erkenntnis vom 27. September 1990, V95,96/90, betont hat, ist auch die Werbung vom Schutzumfang des Art10 MRK umfaßt; ein standesrechtliches Werbeverbot käme für Rechtsanwälte somit ebenfalls nur unter Beachtung des materiellen Gesetzesvorbehaltes nach Art10 Abs2 MRK in Frage. Der Verfassungsgerichtshof hegt nun das Bedenken, daß das Verbot der Anführung einer Berufsbezeichnung, wenn sie als Werbeeinschränkung betrachtet wird, weder im Interesse der Gewährleistung des Ansehens der Rechtsprechung noch zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer notwendig ist.

Selbst wenn man schließlich davon ausginge, daß ein an Rechtsanwälte gerichtetes Verbot, in Ausübung des Anwaltsberufes zusätzliche Berufsbezeichnungen zu verwenden, zulässig sein könnte, wenn der Schutz der Rechtsprechung oder der Schutz des guten Rufes dies rechtfertige, besteht gegen die in Prüfung gezogene Regelung das Bedenken, daß sie eine Einschränkung in diesem Sinne weder ausdrücklich enthält noch auslegungsmäßig zuläßt.

Die in Prüfung gezogene Bestimmung scheint daher gegen ein verfassungskonformes Verständnis des §2 DSt - eine andere gesetzliche Grundlage dürfte nicht zu finden sein - zu verstoßen und deshalb mit Gesetzwidrigkeit belastet zu sein."

4. Weder der Österreichische Rechtsanwaltskammertag noch der Bundesministers für Justiz haben in der Sache selbst eine Äußerung erstattet.

5. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:

5.1. §9 RL-BA 1977 idF vor dem Beschluß des Österreichischen Rechtsanwaltskammertages vom 2. März 1990 lautete (die in Prüfung gezogene Wortfolge ist hervorgehoben):

"§9. Der Rechtsanwalt hat in Ausübung seines Berufes, auch wenn er sich mit einem anderen Rechtsanwalt zur gemeinsamen Berufsausübung verbunden hat, seinen vollen Namen, seinen akademischen Grad und die Berufsbezeichnung Rechtsanwalt zu führen; die Verwendung einer weiteren Berufsbezeichnung ist unzulässig."

Mit Beschluß des Österreichischen Rechtsanwaltskammertages vom 2. März 1990 (kundgemacht im Amtsblatt zur Wiener Zeitung vom 24. März 1990 und im AnwBl. 1990, S. 183) wurde der letzte Halbsatz des §9 RL-BA 1977 aufgehoben.

Gemäß ArtV Z2 des Bundesgesetzes vom 28. Juni 1990 über das Disziplinarrecht der Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter (Disziplinarstatut 1990 - DSt 1990), BGBl. 474/1990, sind für das der vorliegenden Beschwerde zugrundeliegende Disziplinarverfahren die Bestimmungen des Disziplinarstatuts für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter vom 1. April 1872, RGBl. Nr. 40, maßgeblich.

5.2. Im Verfahren ist nichts hervorgekommen, was gegen die im Prüfungsbeschluß vorläufig angenommene Präjudizialität des §9 letzter Halbsatz RL-BA 1977 sprechen könnte.

Da auch die sonstigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, ist das Verordnungsprüfungsverfahren zulässig.

5.3. Der Verfassungsgerichtshof ging in seinem Prüfungsbeschluß davon aus, daß §9 letzter Halbsatz RL-BA 1977 bei einer auf Art10 MRK Bedacht nehmenden Interpretation des Gesetzes (insbesondere des §10 Abs2 RAO und des §2 DSt 1872; zu dessen verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit s. VfSlg. 11007/1986 und die dort angeführte Vorjudikatur) gesetzlich nicht gedeckt sein dürfte.

Nach Art10 Abs1 MRK hat jedermann Anspruch auf freie Meinungsäußerung. Vom Schutzumfang dieser Bestimmung, die das Recht der Freiheit der Meinung und der Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten und Ideen ohne Eingriffe öffentlicher Behörden einschließt, werden sowohl reine Meinungskundgaben als auch Tatsachenäußerungen, aber auch Werbemaßnahmen erfaßt. Art10 Abs2 MRK sieht allerdings im Hinblick darauf, daß die Ausübung dieser Freiheit Pflichten und Verantwortung mit sich bringe, die Möglichkeit von Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen vor, wie sie in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen Sicherheit, der territorialen Unversehrtheit oder der öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, des Schutzes der Gesundheit und der Moral, des Schutzes des guten Rufes und der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung von vertraulichen Nachrichten oder zur Gewährleistung des Ansehens und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung notwendig sind.

Die Verwendung einer Berufsbezeichnung im Sinne des letzten Halbsatzes des §9 RL-BA 1977 ist eine Tatsachenmitteilung, die demnach dem Schutz des Art10 Abs1 MRK unterliegt.

Ein verfassungsrechtlich zulässiger Eingriff in die Freiheit der Meinungsäußerung muß sohin, wie auch der EGMR ausgesprochen hat (Fall Sunday Times v. 26.4.1979, EuGRZ 1979, S. 390; Fall Barthold

v. 25.3.1985, EuGRZ 1985, S. 173),

a) gesetzlich vorgesehen sein,

b) einen oder mehrere der in Art10 Abs2 MRK genannten rechtfertigenden Zwecke verfolgen und

c) zur Erreichung dieses Zweckes oder dieser Zwecke "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" sein.

§10 Abs2 RAO normiert, daß ein Rechtsanwalt verpflichtet ist, durch Redlichkeit und Ehrenhaftigkeit in seinem Benehmen die Ehre und Würde des Standes zu wahren. Nach §37 RAO kann der Österreichische Rechtsanwaltskammertag Richtlinien zur Ausübung des Rechtsanwaltsberufes (Z1) und zur Überwachung der Pflichten des Rechtsanwaltes (Z2) erlassen. Gemäß §2 DSt 1872 unterliegen Rechtsanwälte, welche die Pflichten ihres Berufes verletzen oder welche in- oder außerhalb ihres Berufes durch ihr Benehmen die Ehre oder das Ansehen des Standes beeinträchtigen, der Disziplinarbehandlung durch den zuständigen Disziplinarrat.

Dem §10 Abs2 RAO, der inhaltlich die in Prüfung gezogene Verordnungsbestimmung determiniert, ist verfassungskonform nur der Inhalt zu unterstellen, daß Rechtsanwälte auch bei Meinungsäußerungen die Ehre und Würde des Standes so weit zu wahren haben, als dies ein Schutz der in Art10 Abs2 MRK genannten Rechtsgüter rechtfertigt. Eine solche auf Art10 Abs2 MRK Bedacht nehmende, verfassungskonforme Interpretation hat auch der Verordnungsgeber zu beachten.

Der Verfassungsgerichtshof kann nun nicht finden, daß das an die Rechtsanwälte in Ausübung ihres Berufes gerichtete generelle Verbot der Beifügung einer weiteren Berufsbezeichnung in einem der Tatbestände des Art10 Abs2 MRK und sohin auch in §10 Abs2 RAO sowie in §2 DSt 1872 Deckung findet, weil ein derartiges Verbot weder durch den Schutz des guten Rufes und der Rechte anderer gerechtfertigt werden kann noch für die Gewährleistung des Ansehens und der Unparteilichkeit der Rechtssprechung unentbehrlich ist (andere Tatbestände des Art10 Abs2 MRK kommen schon vom Ansatz her nicht in Frage).

Aber auch wenn §9 letzter Halbsatz RL-BA 1977 als Werbebeschränkung zu verstehen war, war - wie aus VfSlg. 10948/1986 hervorgeht - Art10 Abs2 MRK zu beachten; ein Verbot in der Allgemeinheit, wie es die in Prüfung gezogene Regelung vorsah, ist demnach nicht gerechtfertigt.

Da die in Prüfung gezogene Regelung des §9 letzter Halbsatz RL-BA 1977 in Art10 Abs2 MRK keine Rechtfertigung findet, hielt sie sich bei verfassungskonformem Verständnis des §10 Abs2 RAO und des §2 DSt 1872 nicht im gesetzlichen Rahmen.

6. Da die in Prüfung gezogene Wortfolge des §9 RL-BA 1977 vom Österreichischen Rechtsanwaltskammertag mit Beschluß vom 2. März 1990 aufgehoben wurde, war auszusprechen, daß der letzte Halbsatz des §9 RL-BA 1977 gesetzwidrig war.

Die Verpflichtung zur Kundmachung dieses Ausspruches durch den Bundesminister für Justiz im Bundesgesetzblatt stützt sich auf Art139 Abs5 zweiter Satz B-VG.

Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte