VfGH B783/89

VfGHB783/896.12.1990

Abweisung eines Antrags auf Wiederaufnahme des Verfahrens zur einheitlichen und gesonderten Gewinnfeststellung; einseitige Anwendung der Vorschriften über die Wiederaufnahme bloß zum Nachteil des Steuerpflichtigen; Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz durch Verletzung von Treu und Glauben; gleichheitswidrige Gesetzesauslegung durch Nichtanerkennung der Änderung der rechtlichen Qualifikation eines steuerlich relevanten Sachverhaltes als Wiederaufnahmegrund

Normen

B-VG Art7 Abs1 / Verwaltungsakt
BAO §303 Abs1
B-VG Art7 Abs1 / Verwaltungsakt
BAO §303 Abs1

 

Spruch:

Die beschwerdeführende Gesellschaft ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Finanzen) ist schuldig, der beschwerdeführenden Gesellschaft zuhanden des Beschwerdevertreters die mit S 16.500 bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. a) Die beschwerdeführende Gesellschaft ist zufolge einer mit 30. Juni 1977 erfolgten Unternehmenseinbringung Rechtsnachfolgerin der E KG.

b) Mit Bescheid vom 23.3.1976 nahm das Finanzamt Linz die einheitliche und gesonderte Gewinnfeststellung der Vereinigten Essigwerke für 1974 vor. Dabei wurde eine Ablösezahlung von

S 620.000 an eine Gesellschafterin bei dieser zur Gänze als Gewinnanteil (Sondervergütung) behandelt, wodurch sich bei den übrigen Gesellschaftern der Verlustanteil entsprechend erhöhte.

Gegen diesen Bescheid erhob die Gesellschafterin, der die Ablösezahlung als Gewinnanteil zugerechnet wurde und die zwischenzeitig (mit 31.12.1975) als Gesellschafterin der Vereinigten Essigwerke ausgeschieden war, Berufung.

Dieser Berufung gab die Finanzlandesdirektion für Oberösterreich mit Berufungsentscheidung vom 8.6.1984 teilweise Folge; sie sprach aus, daß die Ablösezahlung mit S 413.333 (das sind 2/3 von S 620.000) zu aktivieren und in Form einer 6%-igen Jahres-AfA über die Jahre verteilt abzuschreiben sei. Diese Entscheidung erwuchs in Rechtskraft.

c) Inzwischen hatte das Finanzamt Linz am 5.6.1979 nach einer Betriebsprüfung die Verfahren zur einheitlichen und gesonderten Gewinnfeststellung für die Jahre 1975 bis 1977 wieder aufgenommen und für diese Jahre Bescheide erlassen, in denen die Sondervergütung (die ja zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung durch den Bescheid des Finanzamts Linz vom 23.3.1976 schon für 1974 als voll steuerwirksam behandelt wurde) nicht mehr berücksichtigt wurde.

Angesichts der von einer anderen Rechtsauffassung getragenen Berufungsentscheidung betreffend das Jahr 1974 vom 8.6.1984 (die dem Zustellungsbevollmächigten der beschwerdeführenden Gesellschaft erst am 9.4.1985 zukam) stellte die beschwerdeführende Gesellschaft am 4.6.1985 den Antrag auf Wiederaufnahme der Verfahren zur einheitlichen und gesonderten Gewinnfeststellung für die Jahre 1975 bis 1977 unter Berufung auf §303 Abs1 litc BAO unter Hinweis darauf, daß die 1979 ergangenen Bescheide von der Vorfrage der Aktivierung oder Nichtaktivierung der Ablösezahlung abhängig seien und die hiefür zuständige Behörde, nämlich die Finanzlandesdirektion, nachträglich, nämlich am 8. Juli 1984, über diese Vorfrage in einem wesentlichen Punkt anders entschieden habe. Dieser Antrag wurde mit Bescheid vom 3.7.1985 abgewiesen; die dagegen von der beschwerdeführenden Gesellschaft erhobene Berufung wurde von der Finanzlandesdirektion für Oberösterreich mit Bescheid vom 12.5.1989 abgewiesen.

2. a) Gegen diesen Bescheid richtet sich die auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, in der die beschwerdeführende Gesellschaft behauptet, im Gleichheitsgrundsatz dadurch verletzt worden zu sein, daß die belangte Behörde bei ihrer Entscheidung über den Wiederaufnahmeantrag dem Gesetz, konkret dem §303 Abs1 BAO, einen gleichheitswidrigen Inhalt beigemessen habe. Es wird die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides begehrt.

d) Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und in einer Gegenschrift die Abweisung der Beschwerde beantragt.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:

1. Der bekämpfte Bescheid, der am 26. Mai 1989 einer nicht zustellungsbevollmächtigten Angestellten der mit der steuerlichen Vertretung der beschwerdeführenden Partei beauftragten Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungsgesellschaft ausgehändigt wurde, gelangte am 30. Mai 1989 in die Hände des vertretungsbefugten Gesellschafters der bevollmächtigten Wirtschaftsprüfungskanzlei. Er gilt daher mit diesem Datum als zugestellt (§9 Abs1 ZustG). Die vom Rechtsanwalt am 11. Juli 1989 zur Post gegebene Beschwerde ist daher rechtzeitig. Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen gegeben sind, ist die Beschwerde zulässig.

2. a) Mit dem angefochtenen Bescheid wird der Antrag der beschwerdeführenden Gesellschaft auf Wiederaufnahme des Verfahrens zur einheitlichen und gesonderten Gewinnfeststellung für die Jahre 1975 bis 1977 abgewiesen. Dieser Bescheid verstieße nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (vgl. z.B. VfSlg. 10.413/1985) gegen den Gleichheitsgrundsatz, wenn er auf einer dem Gleichheitsgebot widersprechenden Rechtsgrundlage beruhte, wenn die Behörde der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt oder wenn sie bei Erlassung des Bescheides Willkür geübt hätte.

b) Die beschwerdeführende Gesellschaft ist der Ansicht, der Bescheid sei verfassungswidrig und widerspreche dem Gleichheitsgrundsatz, weil die Behörde dem §303 Abs1 BAO (über die Wiederaufnahme des Verfahrens auf Antrag einer Partei) einen verfassungswidrigen Inhalt unterstellt habe. Diese Bestimmung lautet:

"Dem Antrag einer Partei auf Wiederaufnahme eines durch Bescheid abgeschlossenen Verfahrens ist stattzugeben, wenn ein Rechtsmittel gegen den Bescheid nicht oder nicht mehr zulässig ist und

a) der Bescheid durch Fälschung einer Urkunde, falsches Zeugnis oder eine andere gerichtlich strafbare Tat herbeigeführt oder sonstwie erschlichen worden ist, oder

b) Tatsachen oder Beweismittel neu hervorkommen, die im abgeschlossenen Verfahren ohne Verschulden der Partei nicht geltend gemacht werden konnten, oder

c) der Bescheid von Vorfragen abhängig war und nachträglich über eine solche Vorfrage von der hiefür zuständigen Behörde (Gericht) in wesentlichen Punkten anders entschieden wurde

und die Kenntnis dieser Umstände allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens einen im Spruch anders lautenden Bescheid herbeigeführt hätte."

c) Im vorliegenden Fall hat die Behörde zunächst (im Jahr 1976) bei der einheitlichen und gesonderten Feststellung des Gewinns für das Jahr 1974 eine Sondervergütung für eine Gesellschafterin zur Gänze als Gewinnanteil und für die übrigen Gesellschafter als sofort verlustwirksam behandelt. An dieser Qualifikation hat sich bei der Steuererklärung und bei der einheitlichen und gesonderten Gewinnfeststellung für die Jahre 1975 bis 1977 sowohl die beschwerdeführende Gesellschaft als auch die Finanzverwaltung orientiert. Im Jahre 1984 hat jedoch die Finanzlandesdirektion die seinerzeitige rechtliche Beurteilung des Finanzamts korrigiert, nur ein Drittel des fraglichen Betrags als im Jahr 1974 wirksam angesehen und entschieden, daß der restliche Teilbetrag zu aktivieren und über die Folgejahre mit je 6 % p.a. abzusetzen sei. Obwohl diese Rechtsansicht nicht nur dazu führte, daß sich die Steuerpflicht für das Jahr 1974 ändert, sondern notwendigerweise auch Auswirkungen für die folgenden Jahre haben muß (in denen jeweils 6 % des Restbetrags als steuerlich wirksamer Aufwand hätte geltend gemacht werden können), verweigerte die belangte Behörde die beantragte Wiederaufnahme des Verfahrens für die Jahre 1975 bis 1977.

Die Behörde hat damit - zum Nachteil der beschwerdeführenden Gesellschaft - den Zusammenhang zwischen den Rechnungsjahren 1974 und 1975 bis 1977 ignoriert: Die Rechtsansicht, die die Behörde im Jahr 1976 vertrat, führte für die Mitgesellschafter zu einem steuerlich wirksamen Verlust im Jahr 1974; die den Berufungsbescheid tragende Rechtsansicht führt dazu, daß dieser Verlust im Jahr 1974 verringert wurde. Dadurch, daß die belangte Behörde nunmehr für 1974 eine für die beschwerdeführende Gesellschaft ungünstigere Auffassung vertritt, es aber durch Versagung der Wiederaufnahme unterläßt, daß sich ihre geänderte Auffassung in den Folgejahren (korrespondierend dazu für die beschwerdeführende Gesellschaft entsprechend positiv) auswirkt, hat sie die Vorschriften über die Wiederaufnahme des Verfahrens einseitig, nämlich bloß zum Nachteil des Steuerpflichtigen angewendet. Eine solche Konsequenz ist - wie sich aus VfSlg. 11635/1988 und der in dieser Entscheidung zitierten Literatur und Judikatur sowie dem Erkenntnis vom 8.10.1990, B181/89 ergibt - gleichheitswidrig.

Im Effekt bewirkt das Vorgehen der belangten Behörde, daß die beschwerdeführende Partei doppelt besteuert wird. Führt aber eine Änderung in der rechtlichen Qualifikation eines steuerlich relevanten Vorgangs zu einem solchen Treu und Glauben verletzenden Ergebnis, so verstößt dies - wie der Verfassungsgerichtshof in einem vergleichbaren Fall in VfSlg. 8725/1980 festgestellt hat - gegen den Gleichheitsgrundsatz (vgl. dazu etwa schon VfSlg. 6258/1970); Melichar, Zur Frage von Treu und Glauben im Steuerrecht, in: FS Kastner 1972, 309 ff.; Novak, Vertrauensschutz und Verfassungsrecht, FS Wenger 1983, 159 ff., insb. 174 f.).

d) Hätte das Gesetz einen Inhalt, der die Behörde zu einer derartigen gleichheitswidrigen Entscheidung verpflichtete, stünde es selbst mit dem auch den Gesetzgeber bindenden Gleichheitsgrundsatz in Widerspruch. Es ist - entgegen der Ansicht der Behörde - aber möglich, §303 Abs1 BAO anders auszulegen und die Konsequenz der Verfassungswidrigkeit zu vermeiden:

Die belangte Behörde vertritt die Ansicht, daß es sich bei einer Fallkonstellation wie der vorliegenden nicht um den Fall einer "Vorfrage" iSd §116 BAO handelt (daß also der Wiederaufnahmsgrund des §303 Abs1 litc BAO nicht vorliegt), da die Entscheidung, mit der von der seinerzeitigen Rechtsansicht abgegangen wurde, von der gleichen und nicht von einer anderen Behörde ergangen ist. Auch handle es sich nicht um eine neu hervorgekommene Tatsache iSd §303 Abs1 litb BAO, da sich im Tatsächlichen nichts geändert habe, sondern nur die rechtliche Qualifikation verändert wurde.

Der Behörde ist zuzugestehen, daß die rechtliche Beurteilung eines Sachverhalts für ein früheres Steuerjahr keine Vorfrage im technischen Sinn darstellt (vgl. die Judikaturhinweise bei Stoll, Handbuch, 1980, 275) und daß nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes die Änderung der rechtlichen Qualifikation eines Sachverhalts keine neue Tatsache iSd §303 Abs1 litb BAO darstellt (vgl. Stoll, ebenda, 723 f.).

Dennoch ist §303 Abs1 BAO einer verfassungskonformen Interpretation zugänglich, die das oben geschilderte verfassungswidrige Ergebnis vermeidet:

Die Wiederaufnahme des Verfahrens öffnet den Weg, eine durch Bescheid erledigte Rechtssache in einem neuerlichen Verfahren sachlich zu prüfen, wenn der betreffende Bescheid durch neu hervorgekommene Umstände gewichtiger Art in seinen Grundlagen erschüttert ist (Mannlicher-Quell, Das Verwaltungsverfahren8, Anm. 1 zu §69 AVG; zu §303 BAO vgl. Stoll, aaO 721 und aus der jüngeren Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes etwa VwGH v. 29.10.1985, Zl. 85/14/0071 oder VwGH v. 21.12.1989, Zl. 86/14/0180). Das dem Institut der Wiederaufnahme zugrundeliegende und dieses rechtfertigende Ziel ist es, ein insgesamt rechtmäßiges Ergebnis zu erreichen (VfGH v. 5.3.1988, B70/87), und unter den Voraussetzungen des §20 BAO (vgl. Gassner, Rechtsschutz oder Rechtsverweigerung, ÖStZ 1985, 1 ff. (mwH) und die jüngere, oben zitierte verwaltungsgerichtliche Judikatur) dem Prinzip der Rechtsrichtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen (Stoll, aaO 712). Es widerspräche diesen Grundsätzen der Wiederaufnahme und stellte einen unerklärlichen Wertungswiderspruch dar, wollte man annehmen, daß zwar die Tatsache, daß nachträglich über eine Vorfrage von einer anderen (hiefür zuständigen) Behörde anders entschieden wurde, einen Wiederaufnahmsgrund darstellt, nicht aber eine Entscheidung derselben Behörde für einen früheren Steuerzeitraum, die sich in der rechtlichen Würdigung des Sachverhalts direkt auf einen (einen späteren Steuerzeitraum betreffenden) Bescheid auswirkt. Ein derartiger Fall muß daher in gleicher Weise wie der Fall der Vorfrage behandelt werden, soll ein gleichheitwidriges Ergebnis vermieden werden. Eine solche Auslegung findet auch im möglichen Wortsinn der Bestimmung des §303 Abs1 BAO, der die Grenzen der zulässigen Interpretation darstellt, Deckung. Die vorliegende Fallkonstellation ist daher gleich zu beurteilen wie das Neuhervorkommen von Tatsachen oder eine von der vorläufigen Beurteilung der Behörde abweichende Entscheidung der zuständigen Behörde über eine Vorfrage. Es hätte daher im vorliegenden Fall eine verfassungskonforme und gleichheitsgemäße Anwendung des §303 Abs1 BAO dazu führen müssen, dem Antrag der Partei auf Wiederaufnahme des Verfahrens stattzugeben.

e) Da die belangte Behörde dies verkannt hat, hat sie dem Gesetz einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt und damit den Bescheid mit Verfassungswidrigkeit belastet. Der Bescheid war daher aufzuheben.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VerfGG. Vom zugesprochenen Kostenbetrag entfallen S 2.750 auf die Umsatzsteuer.

4. Diese Entscheidung konnte gem. §19 Abs4 erster Satz VerfGG in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.

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