VfGH G5/88

VfGHG5/887.10.1988

FinStrG; Wiederaufrollen rechtskräftig beendeter Finanzstrafverfahren in Ausübung des Aufsichtsrechts - §170 Abs2 idF der Finanzstrafgesetznovelle 1975 gleichheitswidrig

Normen

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
AVG 1950 §68 Abs4
FinStrG §170 Abs2
BAO §299
BAO §302 Abs1
B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
AVG 1950 §68 Abs4
FinStrG §170 Abs2
BAO §299
BAO §302 Abs1

 

Spruch:

§170 Abs2 Finanzstrafgesetz, BGBl. Nr. 129/1958, in der Fassung der Finanzstrafgesetznovelle 1975, BGBl. Nr. 335, wird als verfassungswidrig aufgehoben.

Die Aufhebung tritt mit Ablauf des 30. September 1989 in Kraft.

Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit.

Der Bundeskanzler ist verpflichtet, diese Aussprüche unverzüglich im Bundesgesetzblatt kundzumachen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Beim VfGH ist das Verfahren über eine auf Art144 Abs1 B-VG gestützte Beschwerde anhängig, der folgender Sachverhalt zugrundeliegt:

Die Finanzlandesdirektion für Wien, Niederösterreich und Burgenland (FLD), repräsentiert durch ein Einzelorgan, erkannte die Bf. mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid vom 15. März 1985 des Finanzvergehens des Schmuggels gemäß §35 Abs1 FinStrG schuldig und verhängte über sie eine Geldstrafe und eine Ersatzfreiheitsstrafe.

Die Bestrafte rief daraufhin den VfGH an, der ihre Beschwerde gegen den Berufungsbescheid mit Erkenntnis vom 17. Oktober 1985, B285/85 (= VfSlg. 10638/1985) abwies und nach Art144 Abs3 B-VG dem VwGH abtrat.

Noch ehe der VwGH entschieden hatte, behob der Bundesminister für Finanzen mit Bescheid vom 16. Dezember 1985 gemäß §170 Abs2 FinStrG iVm §299 Abs2 BAO den Berufungsbescheid der Finanzlandesdirektion, und zwar im wesentlichen mit der Begründung, daß darin nach der zwingenden Vorschrift des §17 Abs2 lita FinStrG der Verfall der Schmuggelgegenstände auszusprechen gewesen wäre.

Dagegen wendet sich die eingangs erwähnte Verfassungsgerichtshofbeschwerde.

2. Der VfGH beschloß aus Anlaß dieser Beschwerde, gemäß Art140 Abs1 B-VG von amtswegen ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des §170 Abs2 Finanzstrafgesetz, BGBl. 129/1958, idF der Nov. BGBl. 335/1975 einzuleiten.

a) Diese Bestimmung und der damit zusammenhängende §299 BAO lauten:

§170 Abs2 FinStrG idgF

"Für die Aufhebung von Entscheidungen in Ausübung des Aufsichtsrechtes durch die Oberbehörde gelten die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung sinngemäß; jedoch dürfen Entscheidungen der Spruchsenate und der Berufungssenate in Ausübung des Aufsichtsrechtes nicht aufgehoben werden."

§299 BAO

"(1) In Ausübung des Aufsichtsrechtes kann ein Bescheid von der Oberbehörde aufgehoben werden,

a) wenn er von einer unzuständigen Behörde oder von einer nicht richtig zusammengesetzten Kollegialbehörde erlassen wurde, oder

b) wenn der dem Bescheid zugrundeliegende Sachverhalt in einem wesentlichen Punkt unrichtig festgestellt oder aktenwidrig angenommen wurde, oder

c) wenn Verfahrensvorschriften außer acht gelassen wurden, bei deren Einhaltung ein anders lautender Bescheid hätte erlassen werden können.

(2) Ferner kann ein Bescheid von der Oberbehörde wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben werden.

(3) Die Entscheidung eines Berufungssenates darf wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes (Abs2) nur aufgehoben werden, wenn diese Entscheidung mit Beschwerde beim VwGH oder beim VfGH angefochten ist.

(4) Ohne Rücksicht auf die einschränkenden Bestimmungen des Abs3 kann ein Bescheid von der Oberbehörde aufgehoben werden, wenn er mit zwischenstaatlichen abgabenrechtlichen Vereinbarungen im Widerspruch steht."

b) Für den erwähnten Einleitungsbeschluß waren folgende Erwägungen maßgebend:

"Es wird vorläufig angenommen, daß der VfGH die angeführte - anscheinend untrennbar zusammenhängende bundesgesetzliche Bestimmung bei Prüfung des angefochtenen Ministerialbescheids selbst anzuwenden hat und daß diese Norm darum in der gegenständlichen Beschwerdesache präjudiziell iS des Art140 Abs1 Satz 1 B-VG ist.

Die österreichische Rechtsordnung läßt die Wiederaufrollung rechtskräftig beendeter Strafverfahren zum Nachteil des Beschuldigten im allgemeinen nur dann zu, wenn gesetzlich streng umrissene Wiederaufnahmsgründe im Tatsachenbereich erfüllt sind, so etwa neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden (vgl. §§352 ff StPO, 24, 52 VStG 1950; s. auch das Rechtsinstitut des §292 StPO). Die Bestandskraft formell rechtskräftiger Strafentscheidungen ist darum zwar keine absolute; sie bleibt jedoch bei unverändertem Sachverhalt - soweit es nicht um Maßnahmen zu Gunsten des Beschuldigten geht - regelmäßig unangetastet. Die zuständigen (Ober-)Instanzen sollen in rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahren unterlaufene Fehler nicht nach Belieben und Gutdünken mit der Wirkung aufgreifen dürfen, daß der Beschuldigte wegen ein- und desselben Vorwurfs einer abermaligen Strafverfolgung und zugleich der Gefahr einer strengeren Behandlung als im ursprünglich rechtskräftig erledigten Prozeß ausgesetzt wird. Nach dem ersten Halbsatz des §170 Abs2 FinStrG kann aber die Oberbehörde für den Bereich des Finanzstrafverfahrens in Ausübung des Aufsichtsrechts bestimmte (rechtskräftige) Entscheidungen nach den Regeln der BAO (§299) aufheben (zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit des §299 BAO s. VfSlg. 4986/1965, 9853/1983). Das Verfahren tritt durch eine solche Verfügung in jene Lage zurück, in der es sich vor Erlassung des aufgehobenen Bescheides befunden hatte, und kann im weiteren Verlauf - interpretiert man §299 BAO iVm §170 Abs2, 1. Halbsatz FinStrG im Sinn der herrschenden Judikatur (vgl. E. d. VwGH v. 30.6.1986, Z84/15/0047) - zur Schlechterstellung des Beschuldigten führen. Wenngleich nun die Bundesverfassung einer vollkommen eigenständigen Regelung jedes einzelnen Strafrechtszweiges, so auch einer selbständigen Ordnung des Finanzstrafrechts, grundsätzlich gewiß nicht entgegensteht (vgl. auch: VfSlg. 10084/1984), so scheint es doch einer sachlichen Rechtfertigung zu bedürfen, wenn gerade für dieses Teilrechtsgebiet ein die gesamte Strafrechtsordnung durchdringendes, in der österreichischen Strafrechtstradition tiefverwurzeltes und dem Wesen eines (auch) die Verteidigungsrechte sichernden Verfahrens entsprechendes Grundprinzip verlassen wird (s. dazu: VfSlg. 8017/1977), wie dies mit Schaffung der (Ausnahms-)bestimmung des ersten Halbsatzes des §170 Abs2 FinStrG geschah. Der VfGH vermag vorläufig keinerlei Gründe zu erkennen, die eine derartige Sonderregelung zum Nachteil des Beschuldigten sachlich zu rechtfertigen vermögen. Letztlich dürfen ja auch im Finanzstrafverfahren nur Entscheidungen von Einzelorganen, nicht hingegen von Spruch- oder Berufungssenaten im Aufsichtsweg zum Nachteil des Beschuldigten aufgehoben werden (§170 Abs2, 2. Halbsatz FinStrG), eine Differenzierung innerhalb des Spezialgebiets des Finanzstrafrechts, für die es im Blick auf die hier maßgebende, jeweils gleiche Interessenlage des Betroffenen ebenfalls keine sachlich gerechtfertigte Begründung zu geben scheint.

Aus den dargelegten Erwägungen hegt der VfGH daher das Bedenken, daß §170 Abs2 FinStrG gegen das auch den Gesetzgeber bindende Gleichheitsgebot des Art7 Abs1 B-VG verstößt, ein Bedenken, das sich, wie abschließend festgehalten sei, nicht etwa auch darauf erstreckt, daß die in Prüfung gezogene Norm die Oberbehörde zur Behebung rechtswidriger rechtskräftiger Strafbescheide zu Gunsten des Beschuldigten ermächtigt."

3. Die Bundesregierung erstattete im Gesetzesprüfungsverfahren eine Äußerung, in der sie diesen Bedenken folgendes entgegenhält:

"1. Zu dem von dem VfGH angenommenen Grundprinzip:

a) Nach Auffassung des VfGH läßt die österreichische Rechtsordnung die Wiederaufrollung rechtskräftig beendeter Strafverfahren zum Nachteil des Beschuldigten im allgemeinen nur dann zu, wenn gesetzlich streng umrissene Wiederaufnahmsgründe im Tatsachenbereich erfüllt sind, so etwa neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, und verweist dabei auf die §§ 292 und 352ff StPO sowie auf die §§24 und 52 VStG 1950. Ein Abgehen von diesem 'die ganze Strafrechtsordnung durchdringenden, in der österreichischen Strafrechtstradition tief verwurzelten und dem Wesen eines (auch) die Verteidigungsrechte sichernden Verfahrens' entsprechenden Grundprinzip müsse sachlich gerechtfertigt werden.

b) Nach Auffassung der Bundesregierung ist das Vorliegen eines solchen, den ganzen Strafrechtsbereich erfassenden Grundprinzips aus folgenden Gründen in Frage zu stellen:

Aus §24 VStG 1950 ergibt sich, daß im Verwaltungsstrafverfahren u.a. auch §68 Abs4 AVG 1950 anwendbar ist. Danach ist somit aus den dort angeführten Gründen die Nichtigerklärung eines Bescheides auch zuungunsten des Beschuldigten möglich. Die Nichtigerklärungsgründe des §68 Abs 4 AVG 1950 (insbesondere litd) können nun keineswegs als 'streng umrissene Wiederaufnahmsgründe im Tatsachenbereich' angesehen werden. Gerade die Anwendbarkeit des §68 Abs4 litd AVG 1950 im Bereich des Verwaltungsstrafrechtes zeigt somit, daß auf diesem Gebiet das vom VfGH behauptete 'Grundprinzip' nicht verwirklicht wurde.

Das heißt aber auch, daß seine Existenz jedenfalls nicht aus beiden vom VfGH angeführten zentralen Strafrechtsbereichen abgeleitet werden kann. Damit kann es sich auch nicht um ein 'die gesamte Strafrechtsordnung durchdringendes' Grundprinzip handeln. Dieses Prinzip scheint vielmehr (insbesondere durch die besondere Ausgestaltung der Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes) nur in der Strafprozeßordnung verwirklicht zu sein. Es ist aber nicht erkennbar, warum ein solches in einem - wenn auch bedeutenden - Teilgebiet des Strafrechtes verwirklichtes 'Prinzip' zum Maßstab in anders gestalteten Rechtsbereichen werden soll.

Die Bundesregierung ist der Ansicht, daß die Unterschiedlichkeit hinsichtlich der Möglichkeit der Durchbrechung der Rechtskraft auf den grundsätzlichen organisatorischen Unterschied zwischen dem gerichtlichen und dem verwaltungsbehördlichen Strafrecht zurückzuführen ist. Im Bereich weisungsgebundener Staatstätigkeit ist nämlich die Möglichkeit der Aufhebung formell rechtskräftiger Bescheide im Rahmen des Aufsichtsrechtes geradezu typisch und somit nicht nur bei streng umrissenen Wiederaufnahmegründen im Tatsachenbereich gegeben. Dies ist die Folge der auch durch das Weisungsrecht untermauerten Aufsichtspflicht der Oberbehörde. Hingegen widerspräche die Anordnung von derartigen Aufsichtspflichten im gerichtlichen Bereich schon der verfassungsrechtlich garantierten Unabhängigkeit (d.h. Weisungsfreiheit) der dort in allen Instanzen tätigen Staatsorgane.

c) Die Bundesregierung wirft auch die Frage auf, ob aus nur einigen Gesetzesbestimmungen ein durchschlagender 'Grundsatz' abgeleitet werden kann. Sie ist nämlich der Ansicht, daß bei solchen deduktiven Ableitungen auch die dem vermeintlichen Grundsatz widersprechenden Bestimmungen (im gegenständlichen Fall §170 Abs2 FinStrG und §24 VStG 1950 in Verbindung mit §68 Abs4 AVG 1950) bedacht werden müssen.

d) Es ist in diesem Zusammenhang auch darauf hinzuweisen, daß das im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Kompetenzbestimmungen des B-VG (1.10.1925) für den Finanzstrafbereich geltende Gefällstrafgesetz (Strafgesetz über Gefällsübertretungen, Kundmachungspatent vom 11.6.1835, PGS Bd. 63 Nr. 112) in §862 Z3 vorsah, daß trotz eingetretender formeller Rechtskraft die Entscheidung bei Vorliegen einer offenbaren Ungültigkeit auch zum Nachteil des Beschuldigten aufzuheben und die Verbesserung des Verfahrens einzuleiten ist. Daß diese 'offenbare Ungültigkeit' sehr weit ausgelegt wurde, wird aus den Ausführungen zu §862 Z3 im Kommentar zum Gefällstrafgesetz (Strafgesetz über Gefällsübertretungen, Manz'sche Taschenbuchausgabe, Wien 1913, hrsg. von Dr. Alois Jahn, 606f) deutlich:

'Laut ..., sind diejenigen Mängel des Verfahrens, welche eine offenbare Ungültigkeit (Nullität) desselben begründen im Strafgesetz über Gefällsübertretungen (§§527 und 528) keineswegs vollständig aufgeführt; es haben vielmehr die höheren Gefällsgerichte, auf allgemeine Grundsätze gestützt, zu untersuchen und zu erkennen, ob in den einzelnen Fällen eine solche Ungültigkeit des Verfahrens vorliege, und was in diesen Fällen zu verfügen sei.

Nach dem ersten Satze des §863 GefStG. darf das Obergericht ein Urteil erster Instanz, welches sich auf einen gesetzmäßig erhobenen Sachverhalt und auf zu Recht bestehende Strafbestimmungen gründet, nicht auf eine für den Berufungs- und Gnadenwerber nachteilige Art ändern, ....

Sollten aber in einer Strafverhandlung positive Bestimmungen des Gesetzes nicht bloß irrig ausgelegt, sondern entweder bei der Erhebung des Tatbestandes und in der Voruntersuchung oder in der ordentlichen Untersuchung oder bei der Entscheidung ganz außer acht gelassen worden sein, so ist nach dem zweiten Satz des §863 GefStG. die Aufhebung des Urteiles und die Einleitung der Verbesserung des Verfahrens nicht ausgeschlossen; und zwar hat dies in einem solchen Falle nach dem am Schlusse des §863 GefStG. bezogenen §862 Z3 GefStG. selbst dann zu geschehen, wenn gegen ein Urteil des Bezirksgerichtes bloß das Gnadengesuch (ohne die Berufung) eingebracht worden ist, und wenngleich der Gnadenwerber die Rechtmäßigkeit des Urteiles ausdrücklich anerkennt, demnach um so mehr, wenn eine dieser beiden Voraussetzungen nicht zutrifft.'

Ein jedenfalls unter die Ungültigkeit fallender Umstand war die Unzuständigkeit der Behörde (vgl. §528 des Gefällstrafgesetzes).

Das heißt aber, daß das vom VfGH apostrophierte Grundprinzip nicht die gesamte Strafrechtsordnung durchdringt, es scheint kein 'in der österreichischen Strafrechtstradition tiefverwurzeltes' Prinzip zu sein.

2. Zur Verfassungsmäßigkeit des in §170 Abs2 FinStrG festgelegten Umfanges der Rechtskraft:

a) Nach Ansicht der Bundesregierung geht es im vorliegenden Fall - wie im Erkenntnis VfSlg. 4986/1965 - wohl auch um die Frage eines verfassungsrechtlich allenfalls gebotenen Umfanges der Rechtskraft einer behördlichen Entscheidung und darum, ob und wie weit der Gesetzgeber bei der Entscheidung zwischen der Rechtssicherheit und der Gesetzmäßigkeit verfassungsrechtlich gebunden ist. Der VfGH hat in dem zitierten Erkenntnis ausgesprochen, daß eine Durchbrechung der Rechtskraft in der Form des §299 Abs2 BAO verfassungsrechtlich zulässig sei. Die Regelung des §68 AVG könne für die Regelung der Rechtskraft und ihrer Durchbrechung kein verfassungsrechtlicher Maßstab sein. So führt der VfGH u.a. aus:

'Gerade der Umstand, daß das AVG. nicht für die gesamte Verwaltung verbindlich gemacht wurde, vielmehr das Abgabenverfahren einer besonderen Regelung vorbehalten blieb, zwingt zu der Annahme, daß es keineswegs verfassungswidrig ist, wenn in einem anderen Verfahren auch andere Regelungen hinsichtlich der Rechtskraft und deren Durchbrechung vorgesehen werden. Es wird eben darauf ankommen, ob in diesem anderen Verfahren den Postulaten nach Rechtssicherheit oder nach Gesetzmäßigkeit das gleiche oder ein anderes Gewicht zugemessen werden sollte.'

Diese allgemeinen Ausführungen des VfGH treffen nach Ansicht der Bundesregierung auch im vorliegenden Fall zu.

b) Der VfGH hat im Erk. 4986/1965 betont, daß die Aufhebungsbefugnis gemäß §299 Abs2 BAO durch die in §302 Abs 1 BAO vorgesehene Frist von einem Jahr wesentlich eingeschränkt ist und überdies die Bescheide nach Erschöpfung des Instanzenzuges der Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechtes unterliegen, wodurch gesichert ist, daß diese Befugnisse tatsächlich nur zur Herstellung des gesetzlichen Zustandes benützt werden.

Diese Einschränkungen gelten aber auch für §170 Abs2 FinStrG.

3. Zur sachlichen Rechtfertigung der angefochtenen Regelung:

a) Zur sachlichen Rechtfertigung des §170 Abs2 FinStrG unter der Annahme des Bestehens des in Pkt. 1 behandelten Grundprinzips:

Auch wenn man von der These des VfGH ausgeht, daß das unter Pkt. 1 angeführte Grundprinzip in der österreichischen Rechtsordnung verwirklicht wurde, können zur sachlichen Rechtfertigung der in Prüfung gezogenen Sonderregelung folgende Argumente vorgebracht werden:

Zunächst ist auf die Unterschiede in der konkreten Ausgestaltung des Verfahrens in der Strafprozeßordnung und im Finanzstrafgesetz hinzuweisen. In einem Strafverfahren, für das die Strafprozeßordnung zur Anwendung kommt, überwacht auch der öffentliche Ankläger, also ein vom Beschuldigten und vom Gericht unterschiedliches Organ, das Verfahren und damit allfällige Rechtswidrigkeiten eines erstinstanzlichen Urteiles. Er kann Berufung oder Nichtigkeitsbeschwerde zugunsten und auch zuungunsten des Angeklagten erheben (vgl. §282 Abs2 StPO). Wenn hingegen im Finanzstrafverfahren weisungsgebundene Einzelbeamte entscheiden, (da vom Beschuldigten nicht die Entscheidung durch einen Spruchsenat gemäß §58 Abs2 litb FinStrG oder einen Berufungssenat gemäß §62 Abs2 litb FinStrG beantragt wurde,) gibt es kein derartiges von Partei und Behörde verschiedenes Organ, das bereits im Rahmen des Rechtsmittelverfahrens die Rechtmäßigkeit der Entscheidung (mit)kontrollieren kann. Dies ist insbesondere dann von Bedeutung, wenn in der ersten Instanz rechtswidrigerweise zugunsten des Beschuldigten entschieden wurde, da in einem solchen Fall der Beschuldigte wohl kein Rechtsmittel erheben wird. Gemäß §124 FinStrG ist nur für den Fall, daß die Durchführung einer Verhandlung und die Fällung eines Erkenntnisses gemäß §58 Abs2 FinStrG einem Spruchsenat obliegt, ein sogenannter Amtsbeauftragter zu bestellen. Auch dem Amtsbeauftragten stehen Rechtsmittel im ordentlichen Verwaltungsverfahren zu (§151 Abs1 litb FinStrG). Da nun im Verfahren vor einem Einzelbeamten keine zusätzliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Entscheidung durch ein von der Behörde und der Partei verschiedenes Organ gegeben ist, sieht §170 Abs2 FinStrG innerhalb der Frist von einem Jahr (als Ersatz) eine Aufhebungsmöglichkeit durch die Aufsichtsbehörde wegen Rechtswidrigkeit vor. Innerhalb dieser Frist stellt daher der Gesetzgeber auch im Finanzstrafgesetz für den Fall, daß kein Spruchsenat oder Berufungssenat entschieden hat, die materielle Richtigkeit der Entscheidung über die Rechtssicherheit.

Die Bedeutung der in §170 Abs2 FinStrG vorgesehenen Aufhebungsmöglichkeit eines Finanzstrafbescheides wird überdies durch den Umstand weiter abgeschwächt, daß jeder Beschuldigte die Entscheidung durch einen Spruchsenat bzw. einen Berufungssenat beantragen kann, was zur Folge hat, daß ein Amtsbeauftragter eingesetzt wird und die Aufhebungsbefugnis des §299 Abs2 BAO nicht zum Tragen kommt.

b) Zur sachlichen Rechtfertigung der Differenzierung innerhalb des Finanzstrafgesetzes selbst:

Bei den Spruch- und Berufungssenaten handelt es sich um verfassungsrechtlich weisungsfrei gestellte Verwaltungsbehörden (§66 FinStrG). Das Institut der Abänderung und Aufhebung von Entscheidungen durch die Aufsichtsbehörde ist aber ein typisches Element im Tätigkeitsbereich weisungsgebundener Organe. Dazu kommt noch, daß Spruch- und Berufungssenate unabhängige Tribunale im Sinne des Art6 EMRK sind. Die Unabhängigkeit eines Tribunals im Sinne des Art6 Abs1 EMRK wäre aber in Frage gestellt, wenn seine Entscheidungen einer aufsichtsbehördlichen Kontrolle und Aufhebung jedenfalls in diesem Ausmaß unterliegen würden.

Darüberhinaus wird die Rechtmäßigkeit der Entscheidungen der Spruchsenate (auch zum Nachteil des Beschuldigten) durch den im Verfahren beteiligten Amtsbeauftragten (zusätzlich) gesichert. Gegen Entscheidungen des Berufungssenates hat der Präsident der Finanzlandesdirektion auch zum Nachteil des Beschuldigten die Möglichkeit der Beschwerde an den VwGH (§169 Abs2 FinStrG).

Damit scheint aber die in §170 Abs2 zweiter Halbsatz enthaltene differenzierende Regelung ohne Zweifel sachlich gerechtfertigt zu sein."

Die Bundesregierung stellt den Antrag, der VfGH wolle aussprechen, daß §170 Abs2 des Finanzstrafgesetzes, BGBl. Nr. 129/1958, in der Fassung des BG, BGBl. Nr. 335/1975, nicht als verfassungswidrig aufzuheben ist.

4. Die Bf. im Anlaßverfahren gab als Beteiligte im Gesetzesprüfungsverfahren eine Äußerung ab. Sie vertritt die Ansicht, daß das Vorbringen der Bundesregierung nicht geeignet sei, die Bedenken des VfGH im Einleitungsbeschluß zu zerstreuen.

II. Die Bundesregierung bringt gegen die Zulässigkeit des Gesetzesprüfungsverfahrens nichts vor. Auch sonst hat sich nichts ergeben, was dagegen spräche, daß alle Prozeßvoraussetzungen vorliegen.

Der VfGH hat in der Sache erwogen:

1. Vorweg ist zu betonen, daß hier nicht allgemein die Frage zu lösen ist, ob der materiellen Richtigkeit oder der Rechtssicherheit der Vorrang einzuräumen ist und in welchen Fällen daher die Rechtskraft durchbrochen werden darf (vgl. VfSlg. 4986/1965). In Prüfung gezogen ist nicht der §299 BAO (dem der VfGH - in einem Gesetzesprüfungsverfahren (VfSlg. 4986/1965) - die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit bescheinigt hat), sondern der §170 Abs2 FinStrG, der diese Bestimmung der BAO für den Bereich des Finanzstrafrechtes für anwendbar erklärt.

Der VfGH ging im Einleitungsbeschluß - verkürzt ausgedrückt - davon aus, die österreichische Strafrechtsordnung sei vom Grundprinzip beherrscht, daß ein Wiederaufrollen rechtskräftig beendeter Strafverfahren zum Nachteil des Beschuldigten nur bei Vorliegen gesetzlich streng umrissener Wiederaufnahmsgründe im Tatsachenbereich zugelassen sei und daher die bloße Rechtswidrigkeit (also die nicht besonders qualifizierte Rechtswidrigkeit) der die Strafsache abschließenden Erledigung nicht hinreiche. Von diesem Grundprinzip dürfe der Gesetzgeber nicht für einen bestimmten Verfahrensbereich abgehen, sondern lediglich hievon abweichende Ausnahmen vorsehen, die aber sachlich gerechtfertigt sein müssen.

Die Bundesregierung stellt das Bestehen eines solchen Grundprinzips zunächst mit den Hinweis darauf in Abrede, daß im Verwaltungsstrafverfahren dem §24 VStG 1950 iVm §68 Abs4 AVG 1950 zufolge eine sehr weitreichende Ermächtigung für die Oberbehörde bestehe, (auch) rechtskräftige Verwaltungsstrafbescheide zum Nachteil des Beschuldigten aufzuheben. Die Bundesregierung führt gegen das Bestehen des vom VfGH angenommenen Grundprinzips ins Treffen, daß etwa das früher für den Finanzstrafbereich geltende Gefällstrafgesetz auch die Aufhebung formell rechtskräftiger Strafbescheide zum Nachteil des Beschuldigten vorgesehen habe.

Dieses Argument widerlegt die Ausgangsposition des Einleitungsbeschlusses nicht:

Nach §68 Abs4 AVG 1950, der im Verwaltungsstrafverfahren anzuwenden ist (§24 VStG 1950), können auch rechtskräftige Strafbescheide (selbst wenn das für den Beschuldigten nachteilig ist) von amtswegen in Ausübung des Aufsichtsrechtes von der sachlich in Betracht kommenden Oberbehörde als nichtig erklärt werden,

"wenn der Bescheid

a) von einer unzuständigen Behörde oder von einer nicht richtig zusammengesetzten Kollegialbehörde erlassen wurde,

b) einen strafgesetzwidrigen Erfolg herbeiführen würde,

c) tatsächlich undurchführbar ist oder

d) an einem durch gesetzliche Vorschrift ausdrücklich mit Nichtigkeit bedrohten Fehler leidet."

Die Bundesregierung meint, daß vor allem §68 Abs4 litd AVG 1950 in Betracht komme. Nun gibt es aber derzeit keine gesetzliche Vorschrift, die für den Bereich des Verwaltungsstrafrechtes eine solche Nichtigkeit vorsieht. Durch den Hinweis auf die bloße Möglichkeit, auch für den Bereich des Verwaltungsstrafrechtes Nichtigkeitstatbestände vorzusehen (deren Verfassungsmäßigkeit keineswegs von vornherein feststeht), ist aber für den Standpunkt der Bundesregierung nichts zu gewinnen, weil es eben nur darauf ankommt, ob das im Einleitungsbeschluß angenommene Grundprinzip der tatsächlich derzeit bestehenden Rechtslage zu entnehmen ist.

Aus denselben Gründen ist auch der Hinweis der Bundesregierung auf das heute nicht mehr geltende Gefällstrafgesetz im gegebenen Zusammenhang verfehlt. Im übrigen sah dieses Gesetz keineswegs eine allgemeine Durchbrechung des erwähnten Grundprinzips vor, sondern nur die Aufhebung rechtskräftiger Straferkenntnisse im Falle einer "Nullität" (§862 Z3 leg.cit.).

Es trifft also die Behauptung der Bundesregierung nicht zu, daß für den Bereich weisungsgebundener Staatstätigkeit auch im Bereich des Strafrechtes die Aufhebung rechtswidriger, aber formell rechtskräftiger Bescheide geradezu typisch sei.

Vielmehr haben sich die vorläufigen Annahmen des Einleitungsbeschlusses, daß die Strafrechtsordnung vom dargelegten Grundprinzip beherrscht werde und die darauf aufbauende Folgerung, daß Abweichungen von diesem Grundsatz einer (besonderen) sachlichen Rechtfertigung bedürfen, als zutreffend herausgestellt.

2.a) Die Bundesregierung versucht, diese Abweichungen im Bereich des Finanzstrafrechtes zunächst damit zu rechtfertigen, daß die Aufhebungsermächtigung durch die im §302 Abs1 BAO vorgesehene Frist von einem Jahr wesentlich eingeschränkt sei und die Aufhebungsbescheide der Kontrolle der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechtes unterlägen.

Wie noch nachzuweisen sein wird, ist die getroffene Regelung an sich unsachlich. Ihre Verfassungswidrigkeit wird nicht dadurch beseitigt, daß §302 Abs1 BAO ihre Anwendbarkeit zeitlich beschränkt. Die Unsachlichkeit der Regelung besteht auch dann, wenn sich die Vollziehung an das Gesetz hält; auch die Überprüfung durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechtes ändert daran - solange das (gleichheitswidrige) Gesetz besteht nichts.

b) Die Bundesregierung meint, die vom erwähnten Grundprinzip abweichende Sonderregelung des §170 Abs2 FinStrG wäre damit sachlich zu rechtfertigen, daß sie nur zum Tragen komme, wenn ein weisungsgebundener Einzelbeamter in einem Verfahren entschieden habe, in dem es kein von Partei und Behörde verschiedenes Organ gebe, das bereits im Rahmen des Rechtsmittelverfahrens die Rechtmäßigkeit der Entscheidung (mit)kontrollieren könne. Es müßte daher die Möglichkeit bestehen, nachträglich (innerhalb eines Jahres) allfällige Rechtswidrigkeiten auch zum Nachteil des Beschuldigten zu korrigieren; der Gesetzgeber habe hier die materielle Richtigkeit der Entscheidung über die Rechtssicherheit gestellt.

Diese Argumentation geht an der Grundposition des Einleitungsbeschlusses - die sich, wie dargetan, als zutreffend erwiesen hat - vorbei. Im Bereich des Strafrechtes bedarf danach das Wiederaufrollen eines rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens zum Nachteil des Beschuldigten eben einer ganz besonderen sachlichen Rechtfertigung. Diese liefert die Bundesregierung nicht; was sie vorbringt, gilt für jedes Verfahren, in dem nicht ein eigenes Amtsorgan als Wahrer des objektiven Rechtes auftritt (eine Einrichtung, die aber im Bereich des Verwaltungsverfahrens iwS sektoral eingeschränkt ist).

c) Zum Bedenken des VfGH, daß auch die Differenzierung innerhalb des Finanzstrafrechtes selbst unsachlich sei, bringt die Bundesregierung vor, daß die Spruch- und Berufungssenate weisungsfreie Verwaltungsbehörden seien, deren Entscheidungen wesensmäßig keiner Aufhebung oder Änderung unterlägen. Die Rechtmäßigkeit der Entscheidungen der Spruchsenate werde durch das Berufungsrecht des Amtsbeauftragten, jene der Berufungssenate durch das dem Präsidenten der Finanzlandesdirektion zustehende Recht der Verwaltungsgerichtshofbeschwerde - beides auch zum Nachteil des Beschuldigten - gesichert.

Damit werden die im Einleitungsbeschluß geäußerten Bedenken nicht widerlegt. Zwar wäre es verfassungsrechtlich an sich unbedenklich, wenn von einem Einzelorgan im Finanzstrafverfahren getroffene rechtskräftige Entscheidungen auch zum Nachteil des Bestraften unter bestimmten Voraussetzungen (s.o.) aufgehoben werden dürfen, dies aber jedenfalls nur dann, wenn die Regelung jener für die Spruch- und Berufungssenate geltenden derart entspricht, daß sie ihr verfahrensrechtlich gleicht und für den Bestraften nicht belastender als jene wirkt. Ein solches ausgewogenes System ist derzeit schon deshalb nicht gegeben, weil die für den Bestraften bestehende Unsicherheit bei Entscheidungen durch Spruch- und Berufungssenate (obgleich es sich in der Regel um gravierendere Fälle handelt als bei den von Einzelorganen behandelten) die für den Bestraften bestehende Unsicherheit bloß einen Monat bzw. sechs Wochen währt, während der Schwebezustand bei Entscheidungen durch Einzelorgane ein Jahr dauert.

3. Die im Einleitungsbeschluß aufgezeigten Bedenken treffen also zu. §170 Abs2 FinStrG idF der Nov. 1975 war demnach wegen Widerspruches zum Gleichheitsgebot als verfassungswidrig aufzuheben.

4. Die Bestimmung einer Frist für das Außerkrafttreten der aufgehobenen Gesetzesstelle gründet sich auf Art140 Abs5 dritter und vierter Satz B-VG.

Der Ausspruch, daß frührere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Wirksamkeit treten, beruht auf Art140 Abs6 erster Satz B-VG.

Die Verpflichtung des Bundeskanzlers zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung erfließt aus Art140 Abs5 erster Satz B-VG und §64 Abs2 VerfGG.

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