European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0160OK00004.24K.1016.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Dem Rekurs wird Folge gegeben.
Die angefochtene Entscheidung wird dahingehend abgeändert, dass sie zu lauten hat:
„Über die Antragsgegnerin wird wegen verbotener Durchführung der am 24. April 2020 erfolgten Aufnahme der operativen Tätigkeit des Gemeinschaftsunternehmens H* GmbH für den Zeitraum von 24. April 2020 bis 25. Mai 2020 gemäß § 29 Z 1 lit a KartG iVm § 17 Abs 1 KartG eine Geldbuße von 100.000 EUR verhängt.“
Begründung:
[1] Die Antragsgegnerin ist ein österreichisches Textilunternehmen. Die L* AG ist Herstellerin von Zellulosefasern auf Holzbasis mit Hauptsitz in Österreich.
[2] Durch den Ausbruch der Corona-Pandemie wurden auf Basis von Gesetzen und Verordnungen diverse Maßnahmen zum Schutz der österreichischen Bevölkerung vor der Ausbreitung von SARS‑CoV‑2 („Coronavirus“) getroffen. Die Regierung überlegte und setzte Maßnahmen zur Beschaffung von Schutzausrüstungen, darunter Schutzmasken (normaler Mund-Nasen-Schutz [MNS] sowie Schutzmasken der Kategorie FFP 1 bis FFP 3). Ende März/Anfang April 2020 verkündete der damalige Bundeskanzler etwa die Einführung einer allgemeinen Maskenpflicht ab 6. April 2020 in öffentlich zugänglichen Gebäuden und Geschäften. Das Österreichische Rote Kreuz („ÖRK“) war damals mit einer bundesweiten Bedarfsbeschaffung von Schutzausrüstungen für den medizinischen Bereich befasst. Für Angebotslegungen verwies das Wirtschaftsministerium alle interessierten Unternehmen sowohl an das ÖRK als auch die Bundesbeschaffung GmbH als Beschaffungs-Koordinationsstelle der Wirtschaftskammer Österreich. Die Antragsgegnerin und die L* AG fragten erstmals Mitte März 2020 durch ein Ersuchen um Unterlagen zu Normen, Zertifizierungen und Ansprechstellen für Schutzausrüstungen an.
[3] Der öffentlich und politisch geäußerte Wunsch nach Schutzmasken rief auch in Österreich mehrere Unternehmer auf den Plan, die in der Folge die Herstellung und den Vertrieb von Schutzmasken forcierten. Auch Entscheidungsträger der Antragsgegnerin und der L* AG setzten im Zeitraum von spätestens Mitte März bis Ende April 2020 Handlungen, um mit dem von ihnen neu gegründeten Gemeinschaftsunternehmen (Joint Venture) „H* GmbH“ ab Mai 2020 Schutzmasken für den heimischen und den europäischen Markt zu produzieren. In den Wochen vor dem 24. April 2020 investierten sie zu diesem Zweck in eine moderne Produktionsinfrastruktur am Standort W* und sicherten sich die entsprechenden Rohstoffe zur Schutzmaskenproduktion. Gesellschaftsrechtlich gründeten sie die H* GmbH als Gemeinschaftsunternehmen, an der sie folglich 49,9 % (Antragsgegnerin) und 50,1 % (L* AG) hielten.
[4] Am 24. April 2020 veröffentlichten die späteren Zusammenschlusswerberinnen eine Pressemitteilung, in der die verantwortlichen Entscheidungsträger zum Ausdruck brachten, mit einem vollfunktionsfähigen Gemeinschaftsunternehmen, der H* GmbH, im operativen Geschäft zur Herstellung und zum Vertrieb von Schutzmasken tätig zu sein und mit der Umsetzung der dafür nötigen Schritte sogleich zu beginnen. In Kenntnis der Notwendigkeit, einen derartigen Zusammenschluss anzumelden und kartellbehördlich genehmigen zu lassen, setzten sie dennoch operative Handlungen und veröffentlichten sie die zitierte Pressemitteilung. Dabei nahmen sie einen Verstoß gegen das Kartellrecht in Kauf und fanden sich damit ab.
[5] Am 11. Mai 2020 meldete die L* AG die Gründung des Gemeinschaftsunternehmens H* GmbH durch die L* AG und die Antragsgegnerin zum Zweck der Herstellung und des Vertriebs von Schutzmasken zur Bekämpfung der damals gerade ausgebrochenen Covid‑19‑Pandemie als Zusammenschluss bei der Antragstellerin an. Das Zusammenschlussvorhaben wurde mit Wirkung vom 26. Mai 2020 infolge von Prüfungsverzichten der Amtsparteien vorzeitig freigegeben.
[6] Im März und April 2020 generierte die H* GmbH noch keine Umsätze; im Mai 2020 beliefen sich ihre Umsätze auf insgesamt 469.146,43 EUR.
[7] Am 18. März 2024 beantragte die Antragstellerin die Verhängung einer Geldbuße über die Antragsgegnerin in angemessener Höhe gemäß § 29 Abs 1 Z 1 lit a iVm § 17 Abs 1 KartG. Das von der Antragsgegnerin und der L* AG gegründete und von ihnen gemeinsam kontrollierte Gemeinschaftsunternehmen habe die Verpflichtung zur Anmeldung eines Fusionsvorhabens ausgelöst. Mit der Pressemeldung vom 24. April 2020 sei das Gemeinschaftsunternehmen erstmalig am Markt aufgetreten. Die späteren Zusammenschlusswerberinnen hätten durch die Pressemitteilung ohne vorherige Genehmigung des Zusammenschlusses eine unternehmerische Chance ergriffen, was dem Präventivzweck der Fusionskontrolle und dem damit einhergehenden Schutz des Marktes vor unkontrollierten Strukturveränderungen zuwiderlaufe. Selbst vor dem Hintergrund der Covid‑19-Pandemie könne nicht von der Strafunwürdigkeit des Verhaltens der Antragsgegnerin ausgegangen werden.
[8] Der Bundeskartellanwalt schloss sich dem Vorbringen der Antragstellerin an.
[9] Die Antragsgegnerin wendete ein, das Gemeinschaftsunternehmen habe sich im April 2020 noch in der Vorbereitungsphase befunden. Mit der Produktion von Schutzmasken – anfangs nur als „Probeprodukte“ – sei erst im Laufe des Mai 2020 zu einem nicht mehr feststellbaren Zeitpunkt begonnen worden. Mit Produktionsbeginn habe die Antragsgegnerin daher kurz vor der Freigabe durch die Amtsparteien tatsächlich gegen das Durchführungsverbot verstoßen, nicht jedoch schon mit der Aussendung der Pressemitteilung vom 24. April 2020. Zudem müsse das Vorgehen der Zusammenschlusswerberinnen immer vor dem Hintergrund der Covid‑19-Pandemie beurteilt werden. Der öffentliche und politische Druck sei enorm gewesen und es habe ein akuter Bedarf an der Produktion von Schutzmasken bestanden, weshalb die späteren Zusammenschluss-werberinnen schnell hätten handeln müssen und die Anmeldung bei der Kartellbehörde übersehen hätten. Selbst wenn die Presseaussendung als verbotene Durchführungshandlung zu werten sei, habe der Verstoß gegen das Durchführungsverbot nur wenige Wochen gedauert. In Zusammenschau mit der Covid‑19-Pandemie als Ausnahmesituation und der dringenden Notwendigkeit, Schutzmasken herzustellen und die Bevölkerung damit zu versorgen, seien das Verschulden der Antragsgegnerin als geringfügig einzustufen und ihr Versehen als strafunwürdig zu qualifizieren. Da die Amtsparteien den Zusammenschluss als wettbewerblich unbedenklich durchgewinkt hätten, habe es auch keine negativen Auswirkungen gegeben. Spezial- oder generalpräventive Gründe für eine Bestrafung lägen nicht vor. Ein Zuwarten mit der Durchführung sei aufgrund der Ausnahmesituation de facto gar nicht möglich gewesen.
[10] Das Erstgericht verhängte über die Antragsgegnerin eine Geldbuße von 5.000 EUR. Es stellte den eingangs gekürzt wiedergegebenen Sachverhalt fest, wobei es in der Beweiswürdigung unter anderem ausführte, dass der Antragsgegnerin nicht dahin zu folgen sei, dass ihre Entscheidungsträger in jenen Wochen nur vom öffentlichen und politischen Druck sowie den Ängsten und Sorgen der Bevölkerung „getrieben“ gewesen wären; vielmehr sei aus den Formulierungen in der Pressemitteilung in Zusammenschau mit der Antwort des Wirtschaftsministeriums abzuleiten, dass die späteren Zusammenschlusswerberinnen mit der Gründung der H* GmbH insbesondere kommerzielle Zwecke verfolgten. In rechtlicher Hinsicht ging es von einer nach § 17 KartG verbotenen Durchführung eines anmeldebedürftigen Zusammenschlusses im Zeitraum von 24. April 2020 bis 25. Mai 2020 aus. Der Bemessung der Höhe der Geldbuße nach § 29 KartG legte es einen maßgeblichen Gesamtumsatz von rund 65,6 Mio EUR zugrunde. Die Zuwiderhandlung gegen das Durchführungs-verbot sei in aller Regel als schwerer Verstoß zu beurteilen, weil die Wirksamkeit der Bestimmungen über die Anmeldung von Zusammenschlüssen auch dann untergraben werde, wenn der Zusammenschluss nach wettbewerblichen Kriterien grundsätzlich unbedenklich wäre. Dabei könne nicht mit der Verhängung einer „quasi symbolischen“ Geldbuße das Auslangen gefunden werden, sondern die Geldbuße müsse eine solche Höhe erreichen, dass sie spürbar sei und zum Ausdruck bringe, dass die Unterlassung von Zusammenschlussanmeldungen in Österreich kein „Kavaliersdelikt“ sei. Andererseits sei aber auch zu berücksichtigen, wenn durch das Unterbleiben der Anmeldung nicht gegen das Kartellverbot des § 1 KartG oder das Missbrauchsverbot des § 5 KartG verstoßen worden sei. Ein „untersagungsfernes“ Zuwiderhandeln gegen eine bloße Formvorschrift sei im Ergebnis milder zu beurteilen. Konkret wertete es die kurze Dauer der Zuwiderhandlung, das Fehlen negativer Auswirkungen und die nicht feststellbare Bereicherung als mildernd. Als mildernd seien auch die pandemiebedingten Begleitumstände zu berücksichtigen. Obwohl die Antragsgegnerin mit ihrem Fusionsvorhaben überwiegend wirtschaftliche Interessen verfolgt habe, sei ihr gleichzeitig zugute zu halten, dass sie damit auch einen Beitrag zur Bekämpfung der Pandemie leisten habe wollen. Andererseits habe sie verbotene Durchführungshandlungen ausgerechnet in einer Zeit gesetzt, in der auch andere Mitbewerber auf den Markt der Schutzausrüstungen und Schutzmasken gedrängt hätten und dieser Markt „heiß umkämpft“ gewesen sei; durch ihr Vorgehen entgegen fusionskontrollrechtlichen Bestimmungen habe die Antragsgegnerin ihre Mitbewerber daher vor vollendete Tatsachen gestellt. Diese Umstände seien als erschwerend zu werten. Aufgrund des Überwiegens der Milderungsgründe sei die Geldbuße im unteren Bereich zu bemessen. Aufgrund der Einstufung des Verhaltens der Antragsgegnerin als untersagungsfernes Zuwiderhandeln habe mit einer Geldbuße von 5.000 EUR das Auslangen gefunden werden können.
[11] Dagegen richten sich die Rekurse der Antragstellerin und des Bundeskartellanwalts, mit dem sie die Abänderung im Sinn der Verhängung einer angemessenen (höheren) Geldbuße beantragen.
[12] In ihrer Rekursbeantwortung beantragt die Antragsgegnerin, den Rechtsmitteln nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[13] Die Rekurse sind berechtigt.
[14] 1.1. Vorauszuschicken ist, dass die Zuwiderhandlung der Antragsgegnerin gegen das Durchführungsverbot im Zeitraum von 24. April 2020 bis 25. Mai 2020 nicht rekursgegenständlich ist. Auf die in erster Instanz noch strittige Frage, ab welchem Zeitpunkt der Antragsgegnerin eine Zuwiderhandlung gegen das Durchführungsverbot anzulasten ist, ist daher nicht einzugehen.
[15] 1.2. Gegenstand des Rekursverfahrens ist vielmehr ausschließlich die Höhe der verhängten Geldbuße. Die Rekurswerber wenden sich in diesem Zusammenhang nicht gegen den vom Erstgericht bei der Bemessung der Geldbuße als maßgeblich herangezogenen Gesamtumsatz von rund 65,6 Mio EUR. Soweit die Antragsgegnerin in der Rekursbeantwortung von einem höheren Gesamtumsatz ausgeht, begründet sie dies nicht näher, weswegen (ohnedies zu ihren Gunsten) ein Gesamtumsatz der Antragsgegnerin von rund 65,6 Mio EUR der Beurteilung zugrunde zu legen ist.
[16] 1.3. Die Rekurswerber stehen zusammengefasst auf dem Standpunkt, dass der Verschuldensgrad vom Erstgericht nicht ausreichend berücksichtigt worden sei und die Geldbuße nicht im Verhältnis zu vergleichbaren Fällen verbotener Durchführungen stehe und – infolge ihrer „symbolischen“ und für die Antragsgegnerin nicht spürbaren Höhe – keine spezial- und generalpräventive Wirkung entfalte. Die Antragstellerin wendet überdies ein, dass die Dauer des Verstoßes nicht ausreichend gewürdigt worden sei.
[17] 2.1. Gemäß § 29 Z 1 lit a KartG (in der hier anwendbaren Fassung vor dem KaWeRÄG 2021, § 86 Abs 12 KartG) ist bei einem vorsätzlichen oder fahrlässigen Verstoß gegen das Durchführungsverbot (§ 17 KartG) eine Geldbuße bis zu einem Höchstbetrag von 10 % des im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes zu verhängen.
[18] 2.2. Bei der Bemessung der Geldbuße ist gemäß § 30 Abs 1 KartG insbesondere auf die Schwere und die Dauer der Rechtsverletzung, auf die durch die Rechtsverletzung erzielte Bereicherung, auf den Grad des Verschuldens und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Bedacht zu nehmen.
[19] 2.3. Ein Milderungsgrund ist es insbesondere, wenn der Unternehmer oder die Unternehmervereinigung die Rechtsverletzung aus eigenem beendet (§ 30 Abs 3 Z 2 KartG) oder wesentlich zur Aufklärung der Rechtsverletzung beigetragen (§ 30 Abs 3 Z 3 KartG) hat.
[20] 3.1. Der Geldbuße kommt nach dem Willen des Gesetzgebers Präventionsfunktion zu (RS0130389). Nur eine angemessen hohe Geldbuße kann abschreckende Wirkung erzielen (16 Ok 2/15b ErwGr 6.3.1. ua). Der Zweck der Geldbußen besteht nämlich darin, unerlaubte Verhaltensweisen zu ahnden sowie der Wiederholung unabhängig davon vorzubeugen, ob das Verhalten noch andauert oder dessen Wirkungen noch bestehen (16 Ok 2/22p Rz 80).
[21] 3.2. Die Festsetzung einer Geldbuße ist nach der Rechtsprechung eine Ermessensentscheidung, bei der neben den – nicht taxativ aufgezählten – gesetzlichen Bemessungsfaktoren die Umstände des Einzelfalls und der Kontext der Zuwiderhandlung zu berücksichtigen sind. Es handelt sich um eine rechtliche und wirtschaftliche Gesamtwürdigung aller relevanten Umstände, nicht um das Ergebnis einer schlichten Rechenoperation auf der Grundlage etwa des Gesamtumsatzes (RS0122743). Für die Bemessung der Höhe der Geldbuße sind unter anderem die Art des Verstoßes und der Grad des Verschuldens maßgebliche Faktoren (RS0129154; RS0122743 [T4]).
[22] 3.3. Die Kontrolle der Höhe einer Geldbuße im Rechtsmittelverfahren richtet sich danach, inwieweit das Kartellgericht bei der ihm obliegenden Ermessensentscheidung rechtlich korrekt alle gesetzlichen Faktoren berücksichtigt hat, die für die Beurteilung der Schwere eines bestimmten Verhaltens von Bedeutung sind (RS0122748).
[23] 4. Ausgehend davon erweist sich die Bemessung der Geldbuße durch das Erstgericht im Licht des § 30 KartG als korrekturbedürftig.
[24] 4.1. Zwar ist die Zuwiderhandlung gegen das Durchführungsverbot in aller Regel als schwerer Verstoß zu beurteilen, weil die Wirksamkeit der Bestimmungen über die Anmeldung von Zusammenschlüssen auch dann untergraben wird, wenn der Zusammenschluss nach wettbewerblichen Kriterien grundsätzlich unbedenklich wäre (16 Ok 2/13 ErwGr 6.4.). Andererseits ist dem Erstgericht darin zuzustimmen, dass die unterbliebene Anmeldung in Österreich nicht gegen das Kartellverbot (§ 1 KartG) oder das Missbrauchsverbot (§ 5 KartG) verstieß, sondern als „untersagungsfernes“ Zuwiderhandeln gegen eine bloße Formvorschrift im Ergebnis milder zu beurteilen ist (16 Ok 2/13 ErwGr 7.).
[25] 4.2. Die Dauer der Rechtsverletzung betrug tatsächlich 32 Tage, was ebenfalls eine mildere Beurteilung zur Folge hat.
[26] Dem hält die Antragstellerin im Rekurs entgegen, dass die Dauer der Rechtsverletzung infolge des vorzeitigen Prüfungsverzichts beider Amtsparteien zu Gunsten der Zusammenschlusswerberinnen (von 46 Tagen auf 32 Tage) verkürzt worden sei und diese Verkürzung nicht zugunsten der Antragsgegnerin ausgelegt werden dürfe. Dieser Argumentation ist nicht zu folgen, weil mit der Abgabe eines Prüfungsverzichts der Zusammenschluss nach dem klaren Wortlaut des § 17 Abs 1 KartG durchgeführt werden durfte und somit ab diesem Zeitpunkt daher kein (weiterer) Verstoß gegen das Durchführungsverbot angenommen werden kann.
[27] 4.3. Die durch die Rechtsverletzung erzielte Bereicherung ist eines von mehreren gleichrangigen Bemessungskriterien. Deshalb sowie dem weniger formstrengen Charakter des Verfahrens außer Streitsachen entsprechend bedarf es bei der Ermessensentscheidung über eine kartellrechtliche Geldbuße keines detaillierten Beweisverfahrens zur Ermittlung des exakten Ausmaßes der erzielten Bereicherung; eine plausible Schätzung genügt (RS0122745). Eine Geldbuße kann auch dann verhängt werden, wenn überhaupt keine Bereicherung eingetreten ist (RS0122745 [T1]).
[28] Eine durch die Zuwiderhandlung konkret eingetretene Bereicherung der Antragsgegnerin wurde zwar nicht festgestellt. Entgegen der Beurteilung des Erstgerichts ist dies allerdings nicht als besonderer Milderungsgrund zu werten. Das Erstgericht stellte fest, dass die H* GmbH im April 2020 noch keine Umsätze generierte, sich deren Umsätze im Mai 2020 aber auf insgesamt 469.146,43 EUR beliefen. Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass die Zuwiderhandlung keine Bereicherung der (am Gemeinschaftsunternehmen mit 49,9 % beteiligten) Antragsgegnerin zur Folge hatte. Der Umstand, dass die Höhe der eingetretenen Bereicherung nicht feststeht, führt im vorliegenden Fall vielmehr lediglich dazu, dass dieses Kriterium als neutral zu bewerten ist.
[29] 4.4. Der Grad des Verschuldens ist ein wichtiger Bemessungsfaktor für die Höhe der Geldbuße (RS0129154). Entgegen der Beurteilung des Erstgerichts ist das Verschulden der Antragsgegnerin im vorliegenden Fall aber nicht bloß „nicht vernachlässigbar“. Es steht vielmehr fest, dass die der Antragsgegnerin zurechenbaren Entscheidungsträger in Kenntnis der Anmeldebedürftigkeit eines derartigen Zusammenschlusses handelten, einen Verstoß gegen das Kartellrecht in Kauf nahmen und sich damit abfanden. Dieses vorsätzliche Handeln begründet schweres Verschulden, das bei der Bemessung der Geldbuße entsprechend erschwerend zu berücksichtigen ist.
[30] Soweit die Antragsgegnerin in der Rekursbeantwortung davon ausgeht, dass die Anmeldebedürftigkeit „schlicht und einfach übersehen“ worden sei, geht sie in Bezug auf den maßgebenden Tatzeitraum nicht vom festgestellten Sachverhalt aus. Sollte ihren Ausführungen zu entnehmen sein, dass vor diesem Zeitraum („zunächst“ bzw „anfänglich“) ein Versehen vorläge, könnte dies nichts am vorsätzlichen Verhalten im maßgebenden Zeitraum ändern.
[31] 4.5. Die nach § 30 Abs 1 KartG schließlich maßgebliche Leistungsfähigkeit fließt in der Berücksichtigung des Gesamtumsatzes in die Bemessung ein.
[32] 4.6. Entgegen der Beurteilung des Erstgerichts kommt den pandemiebedingten Umständen in der vorliegenden Konstellation keine wesentliche Bedeutung bei der Bemessung der Geldbuße zu. Es mag zutreffen, dass das gegründete Gemeinschaftsunternehmen durch die Produktion und den Vertrieb von Schutzmasken einen Beitrag zum Schutz der Bevölkerung während der Pandemie leistete. Dies erklärt aber nicht, dass und warum es der Antragsgegnerin nicht möglich gewesen wäre, diesen (oder zumindest einen gleichartigen) Beitrag durch frühzeitige Anmeldung des geplanten Zusammenschlusses (und damit ohne Verstoß gegen das Durchführungsverbot) zu leisten.
[33][34] Soweit die Antragsgegnerin in diesem Zusammenhang überdies ausführt, dass sie der große gesellschaftliche und politische Druck zu raschem Handeln veranlasst habe, geht sie nicht vom festgestellten Sachverhalt aus. Das Erstgericht folgte dieser Argumentation auf Tatsachenebene (disloziert im Rahmen der Beweiswürdigung) ausdrücklich nicht, sondern legte seiner Beurteilung auf Tatsachenebene zugrunde, dass die späteren Zusammenschlusswerberinnen insbesondere kommerzielle Zwecke verfolgten. Auch insofern sind pandemiebedingte Umstände bei der Bemessung der Geldbuße daher nicht mildernd zu berücksichtigen.
[35] 5. Zusammenfassend war die Zuwiderhandlung daher an sich von (sehr) geringfügigem Schweregrad (Verstoß gegen das Verbot der Durchführung des „untersagungsfernen“ Zusammenschlusses für nur sehr kurze Zeit). Auf der anderen Seite ist der Antragsgegnerin ein schweres Verschulden anzulasten. Aus diesem Grund wäre eine Geldbuße im unteren Bereich des zur Verfügung stehenden Strafrahmens (der maßgebliche Gesamtumsatz: RS0130389) auszumessen. Zusätzlich ist freilich das Vorliegen von Milderungsgründen zu berücksichtigen, nämlich dass die Antragsgegnerin ihr Verhalten aus eigenem Antrieb beendet hat (§ 30 Abs 3 Z 2 KartG) und – wie sich aus den von der Antragstellerin vorgelegten Urkunden ergibt – wesentlich zur Aufklärung der Rechtsverletzung beigetragen hat (§ 30 Abs 3 Z 3 KartG).
[36] 5.1. Soweit die Antragsgegnerin in der Rekursbeantwortung die Rechtsansicht vertritt, dass dies ein gänzliches Absehen von der Geldbuße möglich mache, ist ihr nicht zu folgen. Dies käme nur bei geringem Verschulden und unbedeutenden Folgen in Ausnahmefällen in Betracht (RS0126268 [T1]), wovon hier keine Rede sein kann.
[37] 5.2. Die vom Erstgericht verhängte Geldbuße liegt im Ergebnis nicht in dem ihm dabei zukommenden Beurteilungsspielraum. Sie erreicht nicht einmal ein Zehntel Promille des maßgeblichen Gesamtumsatzes und stellt eine Geldbuße in nur symbolischer Höhe dar. Voraussetzungen für die Verhängung einer solchen Geldbuße in nur symbolischer Höhe wären etwa eine unklare Rechtslage infolge Neuartigkeit des Falles oder bloß fahrlässiges Verhalten (RS0126268). Davon kann aber im vorliegenden Fall (insbesondere eines vorsätzlichen Zuwiderhandelns) nicht ausgegangen werden. Der Präventionszweck der Geldbuße verlangt auch bei einer im unteren Bereich des möglichen Strafrahmens anzusiedelnden Geldbuße, dass diese für das zuwiderhandelnde Unternehmen spürbar ist und hinreichend deutlich zum Ausdruck bringt, dass die Unterlassung von Zusammenschlussanmeldungen in Österreich kein „Kavaliersdelikt“ ist (16 Ok 4/23h Rz 161; 16 Ok 2/13 ErwGr 7).
[38] 5.3. Entgegen der Rechtsansicht der Antragsgegnerin kann die Höhe der Geldbuße keinesfalls gleichsam mechanisch aus der gegen einen Mitbewerber des betroffenen Konzerns im Zuge eines abgeschlossenen Settlement‑Verfahrens festgesetzten Geldbuße abgeleitet werden (RS0130389). Abgesehen davon, dass in dem in der Rekursbeantwortung genannten Verfahren gegenüber der L* AG die Bundeswettbewerbsbehörde gemäß § 36 Abs 2 KartG eine Geldbuße in bestimmter Höhe beantragt hatte, über die das Kartellgericht nicht hinausgehen konnte, weshalb dieser Entscheidung von vornherein nur geringe Aussagekraft zukommt, unterlag diese Geldbuße keiner Überprüfung durch den Obersten Gerichtshof (vgl 16 Ok 2/15b ErwGr 6.6.1.). Letzteres trifft auch auf die weiteren in der Rekursbeantwortung genannten Verfahren vor dem Kartellgericht zu.
[39] 5.4. Unter Berücksichtigung der oben dargelegten Bemessungsfaktoren, der vorliegenden (überwiegenden) Milderungsgründe und dem Präventionszweck der Geldbuße ist daher eine Geldbuße von 100.000 EUR auszumessen.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)