OGH 3Ob116/24s

OGH3Ob116/24s11.9.2024

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Hofrätin Dr. Weixelbraun‑Mohr (Vorsitzende), den Hofrat Hon.‑Prof. Dr. Brenn, die Hofrätin Dr. Kodek, den Hofrat Dr. Stefula und die Hofrätin Mag. Fitz in der Pflegschaftssache der minderjährigen S*, geboren am * Mai 2012, wohnhaft bei ihrer Mutter D* S*, vertreten durch Dr. Helene Klaar und Mag. Norbert Marschall, Rechtsanwälte in Wien, wegen Obsorge und Kontaktrecht, über den Revisionsrekurs des Vaters DI (FH) G* H*, vertreten durch preslmayr.legal Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 3. Mai 2024, GZ 43 R 102/24d‑95, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Leopoldstadt vom 16. Jänner 2024, GZ 32 Ps 72/22d‑86, teilweise bestätigt und teilweise abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0030OB00116.24S.0911.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Familienrecht (ohne Unterhalt)

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass der Beschluss des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

 

Begründung:

[1] Die Lebensgemeinschaft der Eltern von S* wurde nach rund 20 Jahren im Mai 2022 aufgelöst.

[2] Der Vaterstellte den Antrag, ihm die alleinige Obsorge für das Kind zu übertragen.

[3] Die Mutter sprach sich gegen diesen Antrag aus.

[4] Das Erstgericht betraute beide Eltern mit der Obsorge und legte den hauptsächlichen Aufenthalt des Kindes bei der Mutter fest. Zudem regelte es die laufenden Besuchskontakte und die Ferienkontakte des Vaters zum Kind. Derzeit sei die Gesprächsbasis der Eltern schwierig, weil diese im Hinblick auf das gerichtliche Verfahren damit beschäftigt seien, sich selbst in ein gutes Licht zu rücken. Die Zukunftsprognose betreffend die Gesprächsbasis der Eltern sei jedoch positiv, weil die Eltern nach Abschluss des Verfahrens aller Voraussicht nach wieder in der Lage sein werden, im Sinn des Kindes zu kooperieren.

[5] Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Mutter teilweise Folge und änderte den angefochtenen Beschluss dahin ab, dass der Antrag des Vaters, ihm die alleinige Obsorge für das Kind zu übertragen, abgewiesen wurde; im Ergebnis lehnte es damit die beiderseitige Obsorge der Eltern ab. Zudem modifizierte es das laufende Kontaktrecht und das Ferienkontaktrecht des Vaters zum Kind. Für das Kind wäre es zweifellos günstig, wenn die Eltern eine Gesprächsbasis finden könnten. Eine gemeinsame Obsorge liege aber nicht im Interesse des Kindes, weil die Sichtweise der Eltern zu den Bedürfnissen des Kindes auseinanderklafften und die Konflikte der Eltern im Vordergrund stünden. Es wäre an den Eltern gelegen, ihre Konflikte hintanzustellen. Bis ihnen dies gelinge, müssten die Konflikte auf ein Minimum reduziert werden, was gegen eine gemeinsame Obsorge spreche.

[6] Gegen diese Entscheidung betreffend die Obsorge richtet sich der Revisionsrekurs des Vaters, mit dem er insoweit die Wiederherstellung des erstgerichtlichen Beschlusses anstrebt.

[7] Mit ihrer – vom Obersten Gerichtshof freigestellten – Revisionsrekursbeantwortung beantragt die Mutter, den Revisionsrekurs des Vaters zurückzuweisen, in eventu, diesem den Erfolg zu versagen.

Rechtliche Beurteilung

[8] Der Revisionsrekurs ist entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden – Ausspruch des Rekursgerichts zulässig; er ist auch berechtigt.

[9] 1. Der Vater erblickt eine erhebliche Rechtsfrage vor allem darin, dass das Rekursgericht die Sachverhaltsgrundlage in wesentlichen Teilen außer Acht gelassen habe und diesem insbesondere zur angeblich unzureichenden Gesprächsbasis der Eltern eine grobe Fehlbeurteilung unterlaufen sei.

[10] Den Überlegungen des Vaters kommt im Ergebnis Berechtigung zu.

[11] 2.1 Maßstab für die Entscheidung über die Obsorge und die Frage, in wessen Haushalt das Kind hauptsächlich betreut wird (§ 180 Abs 2 ABGB), ist das Wohl des Kindes (3 Ob 154/21z). Seit dem KindNamRÄG 2013 soll die Obsorge beider Eltern (eher) der Regelfall sein (RS0128811 [T1]; 1 Ob 119/21p). Auch für die Anordnung oder Belassung der beiderseitigen Obsorge ist maßgebend, ob die Interessen des Kindes auf diese Weise am Besten gewahrt werden können (3 Ob 154/21z; RS0128812 [T13]).

[12] Die beiderseitige Obsorge setzt eine Beteiligung beider Eltern an der Betreuung des Kindes voraus (RS0130248). Dementsprechend erfordert die Teilnahme an den Betreuungsaufgaben einen Mindestkontakt des jeweiligen Elternteils zum Kind (8 Ob 152/17m; RS0128812 [T23]).

[13] 2.2 Im Anlassfall ist die Beteiligung beider Eltern an der Betreuung des Kindes gegeben. Zudem ist die Erziehungsfähigkeit beider Eltern an sich nicht beeinträchtigt. Sie zeigen derzeit aber Persönlichkeitsakzentuierungen, aufgrund derer sie die jeweils eigenen Bedürfnisse und Sichtweisen in den Vordergrund stellen und das Kind dadurch einem Loyalitätskonflikt aussetzen.

[14] 2.3 Die Obsorge beider Eltern entspricht an sich auch dem Kindeswohl. Das Kind wünscht sich die Umgebungs- und Betreuungskontinuität bei der Mutter und gleichzeitig eine harmonische Beziehung zu beiden Eltern. Die gemeinsame Obsorge wäre für das Kind auch ein wichtiges Zeichen dahin, dass beide Eltern die vom Kind gewünschte Verantwortung tragen.

[15] 3.1 Eine sinnvolle Ausübung der Obsorge durch beide Eltern setzt nach der Rechtsprechung ein gewisses Mindestmaß an Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit beider Eltern voraus. Um Entscheidungen gemeinsam im Sinn des Kindeswohls treffen zu können, ist es erforderlich, in entsprechend sachlicher Form Informationen auszutauschen und Entscheidungen zu treffen (3 Ob 154/21z). Es ist notwendig, dass Erziehungs- und Betreuungsmaßnahmen besprochen werden, die Bedürfnisse und Wünsche des Kindes möglichst übereinstimmend beurteilt werden und sich die darauf beziehenden Entscheidungen der Elternteile nicht regelmäßig widersprechen (8 Ob 152/17m). Es ist daher erforderlich, dass eine ausreichende Gesprächsbasis und Gesprächsbereitschaft zwischen den Eltern vorhanden ist oder eine solche zumindest in absehbarer Zeit hergestellt werden kann (3 Ob 154/21z; 6 Ob 147/23w mwN).

[16] 3.2 Nach der vom Erstgericht ermittelten Tatsachengrundlage und der Aktenlage ist die Kommunikationsfähigkeit der Eltern im Hinblick auf das Gerichtsverfahren herabgesetzt. Die Kommunikation zwischen den Eltern ist derzeit daher schwierig und von gegenseitigen Vorbehalten geprägt. Es finden aber dennoch regelmäßige Kontakte zwischen den Eltern statt und es besteht – ungeachtet ihrer Konflikte – durchaus das Bemühen, sich einigermaßen sachlich um die Interessen des Kindes zu kümmern. Die Eltern kommunizieren vor allem über E‑Mail und WhatsApp und kommen in schulischen und medizinischen Belangen auch zu gemeinsamen Entscheidungen.

[17] 3.3 Nach diesem Tatsachensubstrat besteht ein Mindestmaß an sachlicher Kommunikation, das die Eltern in die Lage versetzt, im Interesse des Kindes einvernehmlich vorzugehen. Schwierigkeiten im gegenseitigen Umgang und gewisse Probleme in der Kommunikation sind für einen Obsorgestreit mehr oder weniger typisch (vgl 8 Ob 146/15a). Zudem ist davon auszugehen, dass sich in Zukunft die Konflikte verringern und die Gesprächsbasis zwischen den Eltern verbessert, weil die aktuellen Probleme vom vorliegenden Verfahren beeinflusst sind.

[18] Das Erstgericht gelangte daher zutreffend zum Ergebnis, dass die beiderseitige Obsorge lebbar ist. In dieser Hinsicht ist zu beachten, dass sich beide Eltern um eine funktionierende Kommunikation aktiv bemühen müssen und kein Elternteil die Kooperation schuldhaft verweigern oder erschweren darf, weil er es ansonsten in der Hand hätte, die Anordnung oder Beibehaltung der beiderseitigen Obsorge einseitig zu verhindern (8 Ob 152/17m).

[19] Entgegen der Ansicht des Rekursgerichts lässt sich somit die Herstellung einer für die beiderseitige Obsorge erforderlichen Gesprächsbasis zwischen den Eltern erwarten. Die beiden objektiv durchaus kooperationsfähigen Eltern müssen sich darum ernsthaft bemühen und dementsprechend ihre bestehenden Konflikte lösen oder im Interesse des Kindes zumindest in den Hintergrund stellen. In dieser Hinsicht geht selbst das Rekursgericht davon aus, dass es den Eltern in Hinkunft gelingen kann, ihre Konflikte hintanzustellen und diese auf ein Minimum zu reduzieren.

[20] 4. Zusammenfassend besteht in Erziehungs- und Betreuungsfragen bereits derzeit ein Mindestmaß an Kooperation und Kommunikation zwischen den Eltern und in absehbarer Zeit ist eine Verbesserung der Situation im Interesse des Kindes zu erwarten. Es war daher in Stattgebung des Revisionsrekurses des Vaters der die beiderseitige Obsorge anordnende Beschluss des Erstgerichts wiederherzustellen.

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